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der turm

heute ein extra grosses müesli. energie für einen aufregenden tag.

ich steige in meinen anzug. er knistert. ich ziehe die stiefel an, die handschuhe, klicke den helm ein. ich habe einen plastiksack dabei. für die thermoskanne. und für die rescuetropfen. wegen der ungewissheit. des abschieds. draussen ist es grau und kalt. ich schiebe das sonnenschutzvisier nach oben. teste meinen funk, drücke einen knopf und spreche ins mikro. ich höre nur mich selbst. dann steige ich aufs velo und fahre zur arbeit. den bahngleisen entlang. zwischen der werkstatt und dem wohnblock an die grosse strasse. der graue turm verschwindet im nebel. keine umrisse. in der bäckerei an der bushaltestelle hole ich einen znüni. eine ältere frau steht an der theke. sie diskutiert mit der verkäuferin. sie weiss nicht, ob sie einen mandelgipfel oder einen nussgipfel will. der nussgipfel hat kürzlich silber gewonnen, sagt die verkäuferin. das macht mich schampar gluschtig, sagt die ältere frau, aber ich wollte eigentlich einen mandelgipfel kaufen. sie bestellt den nussgipfel. entscheidet sich dann um. dann nochmal, bis sie gar nichts mehr entscheidet. stumm an der theke steht. der nächste bitte, sagt die verkäuferin. die ältere frau würde weinen. aber sie ist in der bäckerei. haben sie etwas glutenfreies?, sage ich. ein maisbrötchen vielleicht? aber trotzdem mit zucker? für die stimmung. ich verstehe sie nicht, sagt die verkäuferin und zeigt auf meinen helm. ich schalte das mikro ein und sage, ein maisbrötchen gerne. dann kommt dieser grosse mann mit den fädigen haaren und dem dicken bauch. er ist immer hier und hat wieder einen dunklen fleck im schritt seiner trainerhose. er bestellt ein pfaffenhüetli und isst es beim hinausgehen. die nussfüllung klebt im bart. im nachbarshaus drehen die dönerspiesse. morgen bin ich vielleicht an einem besseren ort. ich gehe über die strasse und schiebe mein velo die rampe hinauf. KAZ wurde an ihr verewigt. er ist der vater der raumstation. nachtaktiv und gewieft wie eine katze. KAZ hat diesen ort erbaut. unsere verbindung zu fernen orten. ein bauwerk, das nicht hierhin gehört. eines, auf das wir alle stolz sind, dass uns zu weltenbürger*innen macht. ich schliesse mein velo ab und gehe in den turm. die mission beginnt. das schiff starten. der countdown. ich bin ein gesandter. weggeschickt, zur erkundung fremder sterne. besserer welten. im kryoschlaf durch das all. wahrscheinlich vergebens.

wenn ich zurückkehre, werden alle häuser felder sein. nur der graue turm des raumhafens wird noch stehen. wir wussten schon lange: er wird uns überdauern. und der mann mit den flecken würde noch dort sein. er war ja schon immer hier. er wäre etwas dünner, sein haar voller. er würde die felder bestellen. kartoffeln anbauen, karotten, vielleicht ein paar nussbäume und ein kornfeld für die pfaffenhüetli. wir würden uns zum ersten mal grüssen. lächeln. wir wären die einzigen hier. ich würde mit ihm zusammen neu anfangen. den helm abziehen, die handschuhe wegwerfen. im schatten des grauen turmes in schneiders und sargins garten wühlen.

Marc Herter studiert Literarisches Schreiben in Biel. Er liebt das Zentrum Töss und den Weltraum (der es ist).
Roman Surber ist Bildredaktor beim Coucou.
In der Rubrik «Durcheinander» widmen sich Autor*innen poetographistischen Gedanken. Sie verfassen Texte, indem sie ein Eydu (oder mehrere) entfalten und durch-einander in Bezug setzen. Wer gerne mitmachen möchte, melde sich unter redaktion@coucoumagazin.ch.
 
Text und Bild beziehen sich auf das Eydu «Hochhaus Tösszentrum» von Nebi Simovic: «Grau und noch grauer – / grausam grau graut das Grauen – / grauenhaft grauenvoll!»

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Hörtext von Marc Herter.

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