Ich verbringe diesen Abend an einem der hässlicheren Orte, die Winterthur zu bieten hat. Öffentlich, im Herzen der Stadt, und doch den meisten völlig unbekannt: der Durchgang am Untertor, der die Marktgasse mit der Stadthausstrasse verbindet, gegenüber dem McDonalds. Freiwillig habe ich mich dort kaum je hinein begeben.
Ich bin allein. Ein grauer Kleinwagen steht da, mit schiefem Nummernschild und halb abgekratztem Europa-Park-Kleber. Von beiden Enden des Durchgangs dringt der Lärm des Samstagabends in den Innenhof. Jedes Rufen scheint aus nächster Nähe zu kommen, und doch ist kaum ein Wort klar auszumachen.
Aus der Hintertür einer Küche sehe ich Bewegung. Eine Gestalt hantiert an einem Regal und verschwindet dann aus meinem Blickfeld. Drei Jugendliche in Trainerhosen betreten den Hof. «Hey Brate», rufen sie mir zu und verziehen sich hinter das Auto. Kurz darauf erscheint einer wieder und fragt mich nach einer Zigarette. Offenbar ist bei der Joint-Planung der Tabak vergessen gegangen. Sie machen sich auf die Suche, und ich bin wieder allein.
Hin und wieder schreiten Leute vorbei. Keine*r von ihnen wirkt entspannt. Lampen mit Bewegungsmeldern fluten den Hof mit kaltem Licht und machen die Schmierereien an den braungrauen Wänden vorübergehend etwas besser sichtbar.
Die drei Jungs von vorhin sind zurück. Die Suche war erfolgreich. Sie bieten mir eine Zigarette an, die ich annehme. Wir unterhalten uns einige Minuten. Sie sind höflich und interessiert, aber sobald meine Antworten mehr als einen Satz lang sind, verlieren sie rasch das Interesse.
Währenddessen sind drei weitere Jungs dazu gekommen. Wie selbstverständlich begrüssen sie auch mich mit einem Handschlag. Einer beginnt, mit einem Becher Fussball zu spielen. Mässig erfolgreich jongliert er den improvisierten Ball. «Er isch Fighter», erklärt mir einer wissend, während wir dem Ballkünstler zusehen. Ein anderer tritt den Becher weg, und ein spontaner Ringkampf entsteht unter Gelächter. Der «Fighter» verliert diesen recht klar.
Während dieser Geschehnisse hat sich die Gruppe vergrössert. Zunächst stehen die Jungs in einem Kreis, zu meinem Erstaunen bin auch ich ein Teil davon. Dann macht es sich die Gruppe bei einer Mülltonne bequem. Die bevorzugte Art, Emotionen zu kommunizieren, scheinen freudig gerufene Beleidigungen, Stossen und Grölen zu sein. Ich höre nicht, worüber gesprochen wird, aber die Wortfetzen klingen wie purer Ghetto-Dadaismus:
De Underschied isch. ich bi 2 Jahr älter
Und ich so mach mal!
AAAAAARRGH
Bro
Ja vor eis, zwei Jahr man
Hesch die mit rot gseh? Das isch sini Mueterrrrrr
«Du hesch wele Frappé gell?» – «Verpiiiiss dich!»
Was mached Sie da, sind Sie Pennerin?
Ja vor eis, zwei Jahr man
Chaschdu im stah wixe ja oder nei? JA ODER
NEI?
Skrr Skrr
Chill, ich wart uf min Burger
Plötzlich betritt eine junge Frau in High Heels den Innenhof. Gelassen schreitet sie an der Gruppe vorbei, macht sich an der beleuchteten Küchentür zu schaffen und tritt ein. Ein paar einzelne Kommentare kommen aus der Gruppe, aber so laut wie eben noch ist keiner mehr von ihnen.
Jeder, der mit mir ins Gespräch kommt, bietet mir gleich eine Zigarette an. Ich rauche an dem Abend mehr als den ganzen Monat davor. Ob ich von 20 Minuten sei, fragt einer. Dieser Ort sei das «Loch 1», meint ein anderer. Der Hinterhof hinter der Post sei das «Loch 2». Aha. Durchaus ein treffender Name.
Dann taucht eine Gruppe Mädchen auf. Man kennt sich, aber in die Mitte der Gruppe traut sich nur eine – weil sie eine Zigarette braucht. «Du bisch min Held!», ruft sie glücklich. Ein Junge im Rollstuhl kommt durch den Durchgang. Lachend wird auch er begrüsst. Ohne zu zögern bellt er einem der Anwesenden eine Beleidigung zu und fügt sich lachend in diesen Mikrokosmos aus McDonalds-Food, Zigaretten und Testosteron ein.
Dann schreiten drei Polizisten herbei, mit humorlosem Blick umkreisen sie die Gruppe. Ohne ein Wort zu sagen, stehen sie einige Zeit da und verlassen den Hof kurz darauf wieder. Kurz darauf löst sich die Gruppe auf, und ich bin wieder allein.