An einem kalten Dezemberabend treffe ich Eve zum Interview in der Bar Fahrenheit. Es ist Feierabend und sie nimmt sich Zeit für ein Gespräch, bevor sie wieder zurück ins oxyd muss, wo diesen Abend eine performative Lesung stattfindet. Ungeschminkt, mit einem hippen, etwas verstrubbelten Vokuhila, setzt sie sich und bestellt einen Ingwertee, bevor sie zu erzählen beginnt. Eve scheint nicht die Art Person zu sein, die im Mittelpunkt stehen will. Sie ist zurückhaltend und wenn sie spricht, sind ihre Aussagen reflektiert und fundiert.
Ihr Weg nach Winterthur und zum oxyd hat sie über die unterschiedlichsten Stationen geführt: Kindheit in Schaffhausen, gestalterischer Vorkurs in Bern, Studium der Gestaltung in Biel, einen Job als Grafikerin in Berlin. «Danach brauchte ich eine Pause vom Stadtleben und ging auf eine Alp käsen», erzählt sie. Eigentlich mit der Absicht, nach Berlin zurückzukehren, doch dann ergab sich eine tolle Gelegenheit in Schaffhausen: «Zusammen mit einer Kollegin durfte ich Kunstkästen im öffentlichen Raum kuratieren. Das war mein erster Kontakt mit dieser Arbeit und hat mich dazu motiviert, einen Master in Curatorial Studies an der ZHdK zu absolvieren.»
Eines Abends verliebte sich Eve an einem Konzert in Zürich in einen Winterthurer. Eins führte zum anderen: «Ich fand relativ rasch eine Wohnung in Winti und da er in der lokalen Kulturszene sehr verankert war, lernte ich schnell viele tolle Menschen kennen.» Was sie an der Szene besonders schätzt: «Das Kulturangebot ist vielseitig und von hoher Qualität; aber am bemerkenswertesten finde ich, wie sehr sich die Kulturschaffenden hier gegenseitig unterstützen. Das habe ich so noch nirgends erlebt und hat mich immer wieder total beflügelt.»
Eine Weile führte Eve das Bistro des Kulturhauses Villa Sträuli und sie arbeitete ein Jahr lang für die Musikfestwochen. 2018 stiess sie dann zum oxyd, als der von einem Künstlerkollektiv gegründete Verein «oxyd Kunsträume» nach 20 Jahren aus dem alten Lagerhaus beim Bahnhof Wülflingen ausziehen musste. Mitgründer und damaliger Vereinspräsident Andreas Fritschi suchte nach jungen, gut vernetzten Kulturschaffenden, die die neue Ära des oxyd mitgestalten würden. Ziemlich spontan wird Eve Co-Präsidentin und als die damalige Kuratorin kündigt, übernimmt Eve auch die künstlerische Leitung.
Es gilt, neue Räumlichkeiten zu finden und eine neue Ausrichtung zu definieren. Nach langer Suche werden sie fündig: Der 500 Quadratmeter grosse Kornhauskeller mit Industrie-Charakter direkt beim Bahnhof wird das neue Zuhause des oxyd. «Es ist kein klassischer Ausstellungsraum», erklärt Eve. «Die grosse Fläche bietet unglaublich viele Möglichkeiten und muss für jede Ausstellung komplett neu gedacht werden, was immer wieder spannend ist.» Bei der Programmgestaltung achten Eve und ihr Team auf aktuelle Diskurse in der Schweiz und suchen nach vielversprechenden Newcomer*innen, beispielsweise bei der Jungkunst oder bei ZHdK-Abgänger*innen. «Wir gehen zudem bewusst spezifische Kollaborationen ein, die vielleicht eine etwas kleinere Zielgruppe ansprechen, dafür aber auch eine Schnittstelle zu Bereichen ausserhalb der Kunst-Bubble bilden können», erklärt Eve. So wie die Kollaboration mit Maag Recycling im Rahmen der Ausstellung von Hauser & Herzog: «Da haben wir unsere Räumlichkeiten mit der Menge Pet, die Maag Recycling innerhalb einer Woche erhält, gefüllt. Wir hatten keine Ahnung, was da auf uns zukommt.» Oder bei der Heavy-Metal-Ausstellung «Metalmorphosen» arbeiteten sie unter anderem mit der Winterthurer Metalband «Megaton Sword» zusammen.
Ich möchte von Eve wissen, was aus ihrer Sicht das oxyd ausmacht. «Vielleicht sind wir der etwas unangepasstere Kunstort», sinniert sie. «Wir haben ziemlich flexible Strukturen und können insgesamt einen etwas wilderen Duktus als, sagen wir, das Kunst Museum fahren.» Die neuen Medien seien ihnen wichtig, sie wollen auch die ephemere, performative Kunst abdecken und transmediale Kunst fördern. Das oxyd ist nicht gewinnorientiert, aber professionell aufgestellt, erklärt Eve. «Programmatisch geniessen wir viel Vertrauen vom Kanton und der Stadt. Das haben wir auch den oxyd-Gründer*innen zu verdanken, die dieses Vertrauen über Jahre aufgebaut haben und uns zum Teil jetzt noch aktiv unterstützen.» Überhaupt wäre das, was das neue oxyd heute ist, niemals möglich gewesen ohne die grandiosen Menschen im Team, mit denen sie sechs Jahre zusammenarbeiten und den neuen Standort aufbauen durfte, betont Eve. Und auch den zahlreichen Helfer*innen und Freiwilligen, die immer wieder unterstützt haben, sei dies monetär oder mit Peoplepower, gebühre ein riesiges Dankeschön.
Mit dem neuen oxyd wurde auch das Format «Kreissaal» geschaffen. «Es soll ein Ort sein, wo man sich wohlfühlt und Mut bekommt, etwas zu wagen. Ein Ort, wo Ideen geboren werden», erklärt Eve – darum der Name Kreissaal. Im Rahmen dieses Formats bekommen Leute ausserhalb des Ausstellungsprogramms eine Plattform, um kreative Ideen auszuprobieren: kleinere Ausstellungen, Lesungen, Konzerte, Performances oder Mischformen davon – der Kreissaal ist eine gewollt experimentelle und transdisziplinäre Bühne. «Uns ist wichtig, dass es ein Ort ist, wo Scheitern okay ist», betont Eve. «Wir haben in unserer Gesellschaft so eine krasse Erwartungshaltung entwickelt, dass man manchmal vergisst, dass aus Krisen auch Neues entstehen kann.»
Auch persönlich kann sich Eve für vieles begeistern: Sie hat, wie sie es ausdrückt, einen riesigen Durst fürs Leben. «Ich mag Abwechslung und würde mich als umtriebigen, neugierigen Menschen bezeichnen», sagt sie. «Ich liebe den Wald und die Natur, man trifft mich in Brockis, an Konzerten und in Museen oder mit Freund*innen in einer Bar oder beim Znacht. Ich schätze es sehr, ein breites Umfeld in und ausserhalb der Kunstszene zu haben.»
Nach sechs intensiven Jahren beim oxyd ist nun die Zeit für etwas Neues gekommen. Eve hat per Ende 2023 die künstlerische Leitung des oxyd an Sarah Mühlebach abgegeben und ihre Wohnung gekündigt: «Ich werde eine Recherchereise durch Europa unternehmen, um mich mit dem Thema Nachhaltigkeit in der Kulturszene auseinanderzusetzen.» Wie sieht eine nachhaltige und stabile Finanzierung in der Kulturbranche aus? Und wie können wir leben und schaffen, ohne unsere eigenen Ressourcen sowie diejenigen der Umwelt zu überstrapazieren? Mit diesen Fragen im Kopf plant Eve, verschiedene Kulturorte Europas zu besuchen. Die Reiseroute ist ungefähr festgelegt, sie möchte aber auch genügend Raum lassen für Serendipität, die Zufälle des Lebens, denn: «Darin liegt ganz viel Potenzial für Neues und Unerwartetes. Wer weiss schon, wohin das Leben führt?»
Sabina Diethelm ist freischaffende Fotografin und Schreibende und geniesst es, das Kulturangebot ihrer Wahlheimat Winterthur zu erkunden.