Mathis machte es sich jedoch nicht zum Ziel, einen Gegenpol zum monumentalen Bau zu schaffen, sondern jenen zu ergänzen.
Provoziert vom grimmigen Adler, der seit 1928 den südseitigen Haupteingang der Kantonsschule Im Lee bewacht, fügte Esther Mathis fünfzehn Bronzevögel hinzu – allesamt verschiedene Vogelarten. Ihr Werk hinterfragt die traditionelle Symbolisierung von Stärke, Dominanz und Mut des «Königs der Lüfte» und kämpft anhand der unbeeindruckten Bronzevögel gegen die Repräsentation von Aggressivität und Unterdrückung an. Die Vögel treten mit dem Adler in einen Dialog und wehren sich trotz ihrer kleineren Erscheinungsformen gegen seine Autorität. Obwohl sie unterhalb des Adlers positioniert wurden, sind sie dem Adler nicht untergeordnet. Das Ganze wirkt wie eine spielerische Neckerei, die von den Bronzevögeln ausgeübt wird und den Adler in einer verärgerten Fassung zurücklässt: Überlegenheit wird schliesslich nicht allein an der (körperlichen) Grösse festgemacht.
Mit der Vielfältigkeit der Bronzevögel und ihrer Behauptung gegen den dominanten Adler thematisiert Mathis jedoch nicht nur Diversität und demokratische Grundprinzipien, sondern vermittelt auch ornithologisches Wissen. Bei den Bronzegüssen handelt es sich nämlich um 3D-Drucke von ausgestopften, lokalen Vögeln des Naturmuseums Winterthur, die sie in Originalgrösse anfertigte.
Doch wo ist nun der Bezug zur Kantonsschule? Die fünfzehn Vögel stehen für die Individuen, die jeden Schulmorgen durch diese Tür ein- und ausgehen und widerspiegeln sowohl ihre Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede. Denn obwohl die Schule durch ein klares Bildungssystem geprägt ist, lernen die Jugendlichen selbstständiger zu werden, beginnen ihre eigene Meinung zu bilden und breiten sinnbildlich ihre Flügel aus. «Fliegen» erhält so eine metaphorische Bedeutung, mit welcher Mathis die Schüler*innen ermuntert, sich selbst zu sein, ihre Diversität gutheisst und den breiten Horizont andeutet, der den Schüler*innen nach der Kantonsschule offensteht.
Chelsea Angel Neuweiler studiert Kunstgeschichte und Germanistik an der Universität Zürich.
Jonas Reolon ist Fotograf und Kameramann aus Winterthur.