Identität als Prozess

Identität als Prozess

Interview mit Professor Walter Leimgruber

1. Fluktuierende Identitäten

 

Ruedi Widmer: In den beiden ersten Jahren von Zollfreilager stellten wir vielen Leuten drei kurze Fragen: Gehörst du zu einem Volk? Gehörst du zu einem Land? Gehörst du zu einer Kultur? Wie antwortest du?

 

Walter Leimgruber: Ich bin Fricktaler, Schweizer und gehöre zu einer globalen Kultur.

 

RW: Die meisten Leute, die wir befragten,  fühlten sich mit den Fragen unwohl. Eine häufige Antwort war: Ich wurde dort und dort geboren, habe mich aber verändert und zähle mich nicht mehr dazu.

 

WL: Ich kann mir vorstellen, dass diese Fragen bei vielen ein Unwohlsein hervorrufen, weil sie sie als Zuschreibungen verstehen. Gerade bei schwierigen Begriffen wie «Volk» kann das Abwehrreaktionen hervorrufen. Wenn ich zu etwas gehöre, also beispielsweise Fricktaler bin, bin ich deswegen nicht Sklave dieser Entität. Wenn ich so und so geprägt bin, ist das nicht etwas für ewig Fixiertes. Ich verstehe meine Identität als einen Prozess und meine Zugehörigkeit als meine Herkunft. Der entscheidendste Faktor, wie dein Leben aussehen wird, ist der Ort deiner Geburt. Es spielt eine große Rolle, ob du in China, Uganda oder in der Schweiz geboren wurdest. Dies bestimmt bereits zu 97 Prozent, welche Chancen du hast und was du in deinem Leben tun kannst. Allerdings hast du dann noch immer einen Freiraum, den du selbst beeinflusst. Du kannst dich aufmachen, die Grenzen dieser Möglichkeiten zu erkunden oder versuchen, sie zu überschreiten. Natürlich kannst du auch kapitulieren und darauf verweisen, dass du halt so geboren wurdest. Diese Definitionsmacht ist nicht nur räumlich zu verstehen, sie bezieht sich auch auf die soziale Schicht oder dein Geschlecht. In alledem sind wir durch Kultur, Herkunft oder eben Zugehörigkeit sehr stark geprägt, was uns aber nicht zu Marionetten macht.

 

Damian Christinger: Faktisch ist es doch so, dass ich ständig mit einer Umwelt konfrontiert bin, die meine Selbstbeschreibung akzeptiert oder zurückweist. Wer ich bin, muss von mir erstritten und ausgehandelt werden.

 

WL: Die individuelle Kultur ist das Resultat eines Verhandlungsprozesses mit der Welt, die dich umgibt und vor allem auch mit dir selbst. Der Prozess der Identität fällt deshalb vielen Menschen schwer. Früher bekam man häufig eine Rolle zugeschrieben. Wenn du beispielsweise ein Metzgersohn bist, wirst du Metzger, wenn du eine Bauerntochter bist, heiratest du einen Bauern. Heute ist die Regel, dass wir wählen müssen. Dies beflügelt einerseits unsere Individualität, andererseits führen die vielen Möglichkeiten zu einem Gefühl der Überforderung. Natürlich kann es reizvoll sein, möglichst viel auszuprobieren, dieses Ausprobieren und ständige Verhandeln der eigenen Position gegenüber der Welt kann aber auch sehr anstrengend sein. Das Problem mit der Identität heute ist, dass sie Arbeit bedeutet. Zum Beispiel die Gender-Frage: In der Generation unserer Grosseltern waren die Rollenverteilungen zwischen Frau und Mann relativ klar, es gab nur wenig Spielraum, heute muss ich meine Rolle als Mann konstant neu denken.

 

2. Bewegung und Gegenbewegung

 

RW: Wenn man das genauer anschaut, steckt darin nicht nur die Pflicht, sich zu positionieren, sondern auch die Pflicht, sich zu legitimieren. Die eine Identität und Lebensform sieht sich durch die andere permanent in Frage gestellt.

 

WL: Genau. Wir könnten die Bewegungen seit der Aufklärung als Bewegungen zunehmender persönlicher und individueller Freiheit lesen. Mit der Industrialisierung kam die erste riesige Umwälzung, die das Leben der sesshaften, bäuerischen Gesellschaften in Europa grundlegend veränderte. Die Globalisierungsbewegungen der letzten Jahrzehnte wirken auf die heutigen Gesellschaften mindestens so einschneidend. Die Gewissheiten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wurden dadurch weggespült.

In der Schweiz gibt es, grob gesagt, so etwas wie zwei Lager. Jene, die die gewaltigen Herausforderungen der Globalisierung an die eigenen Identitäten annehmen wollen, und jene, die das Rad der Zeit in die 50er-Jahre zurückdrehen wollen, weil sie damit das Gefühl der Sicherheit vor Veränderung verbinden.

 

DC: Kommen nicht diejenigen, welche die Herausforderungen annehmen wollen, eher aus privilegierten Schichten, und haben nicht diejenigen, die sich verweigern, zu Recht die Sorge, dass sie im Prozess Verlierer sein werden?

 

WL: Seit dem Abstimmungswochenende zur Durchsetzungsinitiative wird das Wort Mutbürger herumgereicht, das sich als Gegensatz zum bereits etablierten Wutbürger versteht. Man könnte die Wutbürger als späte Form dessen definieren, was einmal die goldene Generation in der Schweiz war: die Generation unserer Eltern, die kurz nach dem Krieg noch so etwas wie sanfte Entbehrungen erlebt haben, deren ganzes Leben anschliessend aber eine Kurve nach oben beschrieb. Diese Generation kennt keine Brüche und fürchtet sich demzufolge vor nichts mehr als vor einer bruchhaften Entwicklung. Der Mutbürger hingegen ist wohl eher eine Mutbürgerin, eine junge Seconda vielleicht, die bereits mit dem Wissen um das Bruchhafte aufgewachsen ist. Obwohl, oder vielleicht weil sie viel stärker von den Folgen der Globalisierung betroffen sein wird, hat sie sich entschieden, aktiv und nach vorne schauend mit den Herausforderungen umzugehen. Für jemanden wie mich ist die Aufgabe, mich in die Migrationserfahrung hineinzudenken. Das fällt mir als sesshaftem Angehörigen einer privilegierten Bildungsschicht naturgemäss sehr schwer. Vielleicht ist es sogar – emotional, nicht intellektuell – unmöglich. Auch dies ist Teil des Identitätsprozesses. Meine Frau hat die Migrationserfahrung gemacht, sie ist an einen wesentlich anderen Ort gezogen und hat sich dort ein Leben aufgebaut. Unsere Kinder tragen bereits beide Erfahrungen in sich und schauen auf die Schweiz mit einem doppelten Blick.

 

3. Die Brüchigkeit des «Wir»

 

RW: Wenn wir über Migration sprechen, dann häufig in der Form von «Wir» und «Sie». Dieses «Wir» impliziert eine Verbundenheit und eine Gleichartigkeit der Menschen etwa der Schweiz, die es nicht mehr gibt. Was es gibt, sind Gleichdenkende mit oft höchst verschiedenen Herkünften. Sind die dominanten Kulturen heute nicht etwas, was man als Kulturen zweiter Ordnung bezeichnen könnte; Kulturen, die sozusagen quer laufen und zum Beispiel jene Personen mit einschliessen, die ähnlich denken wie ich?

 

WL: Das ist kompliziert. Natürlich spielen diese Kulturen zweiter Ordnung im Alltag eine wichtige Rolle. Forschungen zeigen aber, dass die Kulturen erster Ordnung in Momenten der Krise immer noch eine große Bedeutung haben. Familie oder Religion zum Beispiel können dann wieder zu wichtigen Elementen einer kollektiven Identität werden. Auch dürfen wir nicht vergessen, dass gerade die Kultur der ersten Ordnung vielen Migranten entscheidenden Halt gibt. Ihre Kinder werden sich dann verstärkt mit den Möglichkeiten einer Kultur zweiter Ordnung auseinandersetzen und damit sich selbst und ihr Umfeld verändern. Es ist ja erstaunlich, wie schnell das geht – die Veränderung dessen, was Kultur bedeutet innerhalb einer einzigen Generation.

 

RW: Die Konflikte zwischen Kulturen, dieses dem «Sie» entgegenstehende «Wir», löst sich ja immer dann auf, wenn sich die Menschen als Menschen kennenlernen und – etwa in Vereinen – etwas miteinander tun.

 

WL: Der Migrant, den wir nicht kennen, ist eine Metapher für die globalisierte, fremde und gefährliche Welt, die unsere Gewissheiten bedroht. Der Migrant, den wir kennen, ist ein Nachbar, mit dem wir unser Zusammenleben aushandeln. Wichtig wäre es, zu erklären, dass Migration keine Ausnahme oder Krise ist. Die Konflikte zwischen Sesshaften und Nicht-Sesshaften sind so alt wie die Menschheit selbst und haben wesentlich dazu beigetragen, herkömmlich verstandene Kultur zu entwickeln. Die Idee, dass das Sesshafte die Norm sei, dass es eben ein «Volk» gebe, stammt aus dem 19. Jahrhundert und prägt uns bis heute. Migration ist aber die historische Regel und nicht die Ausnahme.

 

Walter Leimgruber ist Professor für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie an der Universität Basel und Präsident der Eidgenössischen Kommission für Migrationsfragen.

 

Der Balken in meinem Auge ist eine geteilte Rubrik von Coucou und Zollfreilager, dem Kulturmigrations-Observatorium der ZHdK. Die darin erscheinenden Interviews beleuchten die Kultur, ihre Praxen und Politiken als Frage der Multiperspektivität. Das Interview mit Walter Leimgruber wurde von Damian Christinger und Ruedi Widmer am 3. März in Zürich geführt.

 

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