Miniaturen und Convenance
Damian Christinger: Die Kabinettsausstellung mit Miniaturen aus der Sammlung des Kunst Museum Winterthur, die du kuratiert hast, trägt den Titel «Etikette und Maskerade – Miniaturbildnisse des Barock». Die Etikette kennen die meisten von uns als Kleber auf zu kaufenden Waren oder als eingenähten Zettel mit Waschanleitungen. Was bedeutet der Begriff in diesem Zusammenhang?
Sonja Remensberger: Etikette meint hier das Verhalten an einem europäischen Königs- oder Fürstenhof, die geschriebenen oder ungeschriebenen Regeln, die sich vorbildlich auf das Verhalten weiterer Gesellschaftskreise auswirkten. Das grosse Vorbild war hier sicher der französische Königshof, dessen Sitten und Manierismen sich in ganz Europa ausbreiteten. Die Etikette regelte den Tag des Königs vom Zeitpunkt, an dem er aufstand – wer durfte ihm das Hemd reichen –, bis zum Moment, in dem er einschlief – wer war der letzte, der ihm zuhörte. Einerseits waren das ziemlich langweilige, unglaublich detaillierte Protokolle und Abläufe, Regeln und ziselierte Sitten, andererseits bestimmten diese den Zugang zur Macht und die Legitimation der Ausübung dieser zentralen Gewalt, die strahlenförmig vom König im Zentrum, der Sonne, ausging. Dabei war die Etikette Garantin einer gewissen Stabilität, ein Kontinuum in einer Zeit, die von Krisen und schwierigen Entscheidungen, religiösem Aufruhr und der sozialen Misere des Bauernstandes geprägt war.
DC: Jeder am Hof drängelte damals zum Zentrum der Macht und die Etikette regelte diesen Zugang?
SR: Ja, gleichzeitig regelte sie das Verhältnis zueinander. Das Ideal war die «Convenance», die noble Zurückhaltung und der soziale Takt. Subtile Zeichen und Symbole sollten helfen, den Status und die Ambitionen anzudeuten, ohne sie allzu offensichtlich zu machen. Zumindest theoretisch.
DC: Und praktisch?
SR: Hier kommt die Maskerade ins Spiel. Die Höflinge mit direktem Zugang zum König kopierten dessen Eigenheiten, in Verhalten und Sprache, aber auch in der Kleidung. Sie selbst wurden wiederum von ihrer Entourage kopiert, was natürlich zu einer starken Stilisierung von optischen Merkmalen führte, der zeittypischen Mode. Allongeperücken, Kleidung aus kostbarer Seide mit Spitze, kostbare Fächer täuschten manchmal über den tatsächlichen Status einer Person hinweg.
DC: Welche Rolle spielt im Spannungsfeld zwischen Etikette und Maskerade die Miniaturmalerei, die ja hauptsächlich Porträts zeigt?
SR: Die Miniaturmalerei entwickelte sich aus der Buchkunst heraus. Wertvolle Bücher des Mittelalters wurden mit kleinen Malereien verziert und illustriert. Das Wort «Miniatur» stammt vom lateinischen «minium», auf Deutsch Mennige, einem roten, deckenden Farbstoff auf Bleioxyd-Basis. Wegen seiner Leuchtkraft kam das Pigment gerne zum Einsatz, besonders schön leuchtet es bei Kerzenschein. Zuerst wurden die kleinen Porträts auf Pergament und Holz gemalt, später dann vorwiegend auf Elfenbein, da dessen mattes Weiss die Farben zur Geltung brachten und die relative Seltenheit und Exotik des Materials die Exklusivität der Miniaturen unterstrich. Der französische König fing an, kleine Bildnisse von sich als Zeichen seiner Gunst zu verschenken, hunderte gelangten so in Umlauf, was wesentlich zur Popularität des Mediums beitrug.
Zwischen Authentizität und geschönter (Selbst-)Darstellung
DC: Ich kann mir nicht vorstellen, dass Louis XIV Zeit hatte, hunderte Stunden Modell zu sitzen ...
SR: Nein, natürlich nicht. Miniaturen wurden häufig auf Basis von grossen Gemälden erstellt, am Hof etablierten sich schnell Werkstätten, betreut von bekannten Malern, die dann grosse Gemälde und Miniaturen anboten. Viele berühmte Künstler dieser Zeit, wie etwa Hans Hohlbein der Jüngere, verstanden dies und handelten dementsprechend, versprach die Miniaturmalerei doch ein regelmässiges Einkommen. Nach der Reformation und dem damit verbundenen Schwinden religiöser Auftragskunst – vom Altarbild bis zu privaten Heiligenbildern – in Basel reiste etwa Hans Hohlbein nach England, wo er 1533 die Dekorationen für die Hochzeit des Königs mit Anne Boylen entwarf. 1536 wurde er offizieller Hofmaler und fertigte auch viele Miniaturen. Der Basler Stadtrat übrigens begriff erst 1538, wer ihnen da entschwunden war, und offerierte dem Maler für seine Rückkehr ein garantiertes Jahresgehalt von 50 Gulden, eine sehr stattliche Summe. Hans Hohlbein lehnte ab, was zeigt, dass die Hofmalerei wesentlich mehr einbrachte.
DC: Die Bilder, die ich von Hans Hohlbein kenne und die im Kunstmuseum Basel ausgestellt sind, zeichnen sich durch einen ungeschönten Realismus aus. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Zugang in der höfischen Miniaturmalerei gefragt war.
SR: Die Balance zwischen naturgetreuem Abbild und schmeichelhaftem Porträt war hier schwierig. Es ist aber eigentlich erstaunlich, welche physiognomischen Eigenschaften in den Miniaturen abgebildet sind, Auffälligkeiten finden sich zuhauf. Der Wiedererkennungseffekt des Dargestellten scheint häufig wichtiger gewesen zu sein als eine idealisierte, schmeichelhafte Abbildung. Die Miniaturmaler waren durchaus auch wegen ihrer Fähigkeit gefragt, die Natur genau abzubilden. Porträts, auf denen die Hände der dargestellten Person zu sehen sind, waren zum Beispiel wesentlich teurer als der blosse Torso, weil Hände schwierig zu malen waren.
DC: Galt dies für Bildnisse von Männern genauso wie für Frauen?
SR: Ich würde sagen nein, Frauenbildnisse wurden wohl häufiger etwas geschönt, ihnen wurde gleichsam ein Filter übergelegt. Miniaturen dienten häufig dazu, Ehen anzubahnen. Die Familie einer potentiellen Gemahlin schickte ein Bild zur Familie des Sohnes auf Brautschau, so ersparte man sich viel Reiserei. Wobei dies auch schief gehen konnte. Um nochmals auf Hans Hohlbein den Jüngeren zurückzukommen: Er wurde von Henry VIII, nachdem Anne Boylen enthauptet worden war – Henry hatte ja ein eher spezielles Verhältnis zu seinen Frauen – aufs Festland geschickt, um Christina von Dänemark und im deutschen Kleve die beiden Töchter von Johann II zu malen. Die Miniatur von Anna von Kleve gefiel dem englischen König am besten und er entschloss sich, sie zu heiraten. Die reale Anna gefiel ihm aber weit weniger als das Bild, und so wurde die Ehe wieder aufgelöst.
DC: War das vielleicht ein bisschen so wie bei einem etwas zu vorteilhaften Foto auf einer Dating-App, das zu Enttäuschungen bei einem wirklichen Treffen führen kann?
SR: Ja, genau. Hans Hohlbein fiel dadurch beim König in Ungnade, was zeigt, dass die Erwartungshaltung an eine Miniatur schon mit einer gewissen Authentizität verknüpft war. Er blieb zwar Hofmaler, durfte aber die Mitglieder der königlichen Familie nicht mehr malen.
Intimität und Erinnerung
DC: Eine Miniaturmalerei, die mir in der Ausstellung besonders aufgefallen ist, stammt von Peter Crosse und zeigt laut Legende eine unbekannte Dame in einem tief ausgeschnittenen blauen Kleid. Die Frau sieht den*die Betrachter*in direkt an, nachdenklich und selbstbewusst, eine Haarsträhne hat sich gelöst und liegt als Locke über ihrer rechten Schulter. Dieser direkte Blick irritiert mich fast etwas, einerseits hat das Bild etwas durch und durch Konventionelles, das blaue Kleid entspricht genau dem Vorbild, das die englische Königin zur gleichen Zeit um 1700 auf einer anderen Miniatur trägt, andererseits erscheint es durch die etwas hervorstehenden, eher unvorteilhaft dargestellten Augen und die losgelöste Strähne sehr natürlich und lebensnah.
SR: Hier kommt Verschiedenes zusammen. Natürlich kopierten die Künstler in England wie auch in Frankreich die Mode der Vorbilder, der Influencer, um es im heutigen Sprech zu sagen. Die Stilikone jener Zeit war die königliche Familie, wobei das heute nicht ganz anders ist: Wenn Herzogin Kate eine neue Tasche trägt, und diese auf einem Foto in der Presse auftaucht, dann ist sie kurz danach beim Hersteller ausverkauft, weil sie tausende von Frauen auf der ganzen Welt bestellen. Die losgelöste Haarsträhne spielt natürlich mit der Konvention, mit der Etikette, sie verweist aber auf das Persönliche, das Intime, das in den Miniaturen eben auch zu finden ist. Miniaturen waren häufig Erinnerungsstücke an Lebende, die nicht in der Nähe waren, etwa wenn sich der Mann in einem der vielen Kriege befand, und vor allem auch an Tote, die dadurch in Erinnerung behalten wurden. Haarlocken sind bis in die viktorianische Zeit beliebte Gaben und wurden häufig mit der Malerei zusammengetragen oder aufbewahrt. Es ist nicht unüblich, in einem Medaillon sowohl eine Malerei als auch eine Locke zu finden. Das Bild wird durch dessen physische Präsenz zusätzlich aufgeladen. Der direkte Blick, der sehr häufig zu finden ist, stellt zudem eine starke Intimität her, die durch das kleine Format des Bildes unterstützt wird.
DC: Für mich machen genau diese Aspekte die Bilder auch noch heute interessant. Auf den ersten Blick liesse sich argumentieren, dass diese Miniaturen viel zu dekorativ und konventionell sind, um heute noch ausgestellt zu werden ...
SR: Ha! Ganz im Gegenteil. Man braucht vielleicht tatsächlich eine Lupe, um sie genau zu betrachten, gleichzeitig ist die Lupe im übertragenen Sinne natürlich genau so wichtig. Es lohnt sich eben, genau hinzuschauen. Die Entwicklung der Miniaturmalerei erzählt einerseits viel über die Geschichte, vom höfischen Zentrum des Barocks hin zum Bürgertum mit seinen eigenen Konventionen nach der französischen Revolution, oder den Auswirkungen der industriellen Revolution in England. Dadurch, dass die Funktionen der Miniatur in der Gesellschaft durch die Fotografie im 19. Jahrhundert abgelöst wurden, können wir andererseits viel über die Mechanismen der fotografischen und medialen Bilder und Bildkonventionen der Moderne herausfinden. Das Spannungsfeld zwischen Selbstdarstellung, sozialer Konvention und Mode, Intimität und Authentizität, Aufmerksamkeitsökonomie am Hofe und Selbstbehauptung ist heute genauso aktuell wie damals, und kann aus der historischen Distanz vielleicht besser analysiert werden.
Satz zur Balken-Rubrik:
Der Balken in meinem Auge ist eine geteilte Rubrik von Coucou und Zollfreilager, dem Kulturmigrations-Observatorium der ZHdK. Die Interviews beleuchten die Kultur, ihre Praxen und Politiken als Frage der Multiperspektivität. Das Interview wurde von Damian Christinger am 11. März 2021 in Winterthur geführt.
Sonja Remensberger studierte nach einer Ausbildung zur Primarlehrerin Kunstgeschichte an der Universität Zürich. In ihrer Dissertation untersucht sie das Werk des Miniaturmalers Pierre-Louis Bouvier als europäische Migrationsgeschichte. Nach Stationen in der Villa Flora und dem Schloss Kyburg ist sie seit 2016 Kuratorin der Miniaturensammlung im Kunst Museum Winterthur.
Damian Christinger ist freier Kurator und Publizist. Er lebt und arbeitet in Zürich.
Lilian Caprez ist Illustratorin, sie zeichnet und lebt in Winterthur.