Raum haben oder nicht haben

Wie lassen sich Stadträume besetzen? Wie sieht ein Raum für alle aus? Und welche Möglichkeiten gibt es, um utopische Ideen im Stadtraum umsetzen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich Meli vom queer-feministischen Kollektiv fumo.ooo. Noëmi Roos hat mit ihr über ihren Wohnwagen gesprochen, der ein Kunstobjekt ist, mit dem sie neue Stadträume erobert. Zürich und Basel hat das Kollektiv schon besetzt – sie hoffen, dass sie in Zukunft auch in andere Schweizer Städte reisen können – Winterthur inklusive.

1. Meli & der grosse Kontext

 

NR: Meli, wir sitzen im Wohnwagen von fumo.ooo, der gerade beim Stauffacher steht. Als ich herkam, hatte ich den Eindruck, dass hier jemand aus dem Zirkus ausgebrochen ist. Dann sah ich ein Schild mit dem Satz «Raum ist Luxus». Was ist fumo.ooo und um was geht es bei dem Projekt genau?

 Meli: Wir bewegen uns an der Schnittstelle zwischen Kunst im öffentlichem Raum und öffentlichem Ärgernis. Wir – das heisst Vera und ich – rollen mit dem Wagen durch die Stadt und stellen ihn an Orte, die als öffentliche Freiräume gefährdet sind. Gleichzeitig wollen wir damit neue Orte aufspüren, die noch nicht gebraucht werden.

 

NR: Wie bist du zu diesem Projekt gekommen?

Meli: Während meines Masterstudiums an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) betrieb ich Feldforschung im besetzten Kochareal in Zürich. Den Aspekt des «Besetzens» von Raum fand ich faszinierend und wollte ihn genauer untersuchen. Den Wagen habe ich zu jener Zeit in einem Gratis-Chat gesehen und ihn einfach übernommen. Zuerst stand der Wagen im Kochareal. Ich habe mit ihm sozusagen die Besetzung besetzt.

 

NR: Das Kochareal steht für Widerstand gegen eine Stadtplanung, bei der die Zahlungskräftigen die Anderen verdrängen. Ist fumo.ooo Teil davon?

 Meli: Wir machen nicht Politik, aber dieses Anliegen teilen wir. In Zürich lässt sich etwas beobachten, das auf der ganzen Welt in urbanen Räumen ein Problem ist: Fast alle nicht- kommerziellen Freiräume werden früher oder später getilgt. Nehmen wir als Beispiel das Kasernenareal, eine Perle in der Stadt Zürich, mitten im Zentrum und nicht durch Läden besetzt. Es ist einfach da und frei nutzbar. In den nächsten zwei Jahren wird sich das Areal wahrscheinlich sehr verändern. Obwohl wir als Stadtbürger*innen abgestimmt haben, dass die Kaserne «ans Volk» gehen solle, höre ich, dass es in Richtung einer komplett kommerzialisierten Nutzung des Geländes gehen soll. Läden und Cafés werden das Kasernenareal dominieren. Die Stadt nennt das «durchmischte Erdgeschossnutzung». Es wird in solchen Planungen jeweils versprochen, dass noch ein bisschen Handwerk und «Künstlerateliers» integriert werden, aber ist das Freiraum? Die Europaallee zeigt, was eine solche Entwicklung für einen Stadtteil bedeutet. Das Quartier lebt von reichen Jetsetter*innen, die dort einkaufen. Als Corona kam, war die Europaallee wie leergefegt, dort war kein Mensch mehr zu sehen, weil dieser Raum nicht für die Leute dieser Stadt gemacht wurde.

  

Meli: Nicht nur die Europaallee, die ganzen Kreise 4 und 5 drohen von Läden und Konsumtempeln verschluckt zu werden.

 

NR: Was für Rollen gibt es in diesem Paradebeispiel?

 Meli: Solche Räume werden ausschliesslich für Menschen geschaffen, die Geld haben, die konsumieren wollen. Oder sie sind für Leute, die dort arbeiten – das Verkaufspersonal, das Reinigungspersonal und so weiter. Was aber ist mit jenen, die den Raum nutzen wollen, ohne zu konsumieren? Sie finden keinen Platz mehr an diesen Orten. In allen grösseren Städten weltweit spielt sich dasselbe ab. Man sieht die Einkaufsmeilen, die auf der ganzen Welt die gleichen Shops haben, die kleinen Cafés gehen während der Covid-19-Pandemie zu und die grossen Ketten ersetzen sie. Diese durchgeplanten, «trendigen» Orte ziehen ein Publikum an, das gar nicht aus dem Ort selbst stammt. Die Planung der urbanen Räume ist wie ein Drehbuch, das bestimmt, was nachher an Leben möglich ist. Deshalb wollen wir hier ansetzen: Wo gibt es Planungsfehler? Wo gibt es Planungslücken? Wo funktionieren diese Konzepte nicht? Welche Orte werden vergessen?

 

Urban Hacking

 

NR: Welche Rolle spielt der Wagen?

 Meli: Wenn der Wagen an einem solchen vergessenen Ort steht, ist er eine Plattform, um mit den Leuten, die rundherum sind – zum Beispiel den Nachbar*innen – zu interagieren.

NR: Wie funktioniert diese Interaktion?

Meli: Wer will, darf den Wagen nutzen. Zum Beispiel für ein Konzert oder für eine Filmvorführung. Wir haben ein Soundsystem im Bus und einen 50 Meter langen Teppich. Wir können mit dem Wagen einen Ort innerhalb von 15 Minuten bespielen und eine Stimmung

erzeugen.

 

NR: Wer steht bei euren Aktionen im Mittelpunkt: Das Kollektiv oder der Wagen? Geht es mehr um eure eigene Inszenierung oder um die des Ortes?

Meli: Der Wagen. Er ist der Raum, den wir uns für alle wünschen, er steht symbolisch für das, was fehlt. Es liegt eine Ironie darin, dass man eine Infrastruktur wie den Wagen braucht, damit sich ein Freiraum entfalten kann. Es braucht einen Anhaltspunkt, an dem etwas gestartet werden kann. Das Setting, das durch den Wagen entsteht, kann Leute anziehen oder abstossen, aber es hat auf alle Fälle eine Wirkung. Der leere Raum allein hat auch eine Wirkung, aber nicht die, die wir suchen.

 

NR: Du hast gesagt, ihr macht nicht Politik. Aber ein reines Spiel ist das Projekt auch nicht.

Meli: Wir versuchen, durch die Kunst spielerisch eine politische Ebene anzusprechen. Die rein politische Ebene finde ich ziemlich kompliziert und langweilig. Künstlerisch-aktivistische Interventionen erlauben es, direkt auf Probleme zu reagieren. Wir hacken die Stadt, um aufzuzeigen, welche Möglichkeiten man als Stadtbürger*in eigentlich hat.

 

NR: Wie hackt man eine Stadt?

Meli: Ich denke ans «Urban Hacking», bei dem es darum geht, die Stadtpolitik und das Stadtmarketing mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Wir kopieren zum Beispiel die Grafik der offiziellen Stadt-Zürich-Plakate und besetzen sie mit unseren eigenen Texten und Inhalten. Das ist angelehnt an die Kommunikationsguerilla, die ihren Ursprung in den USA hatte. Dort begann man mit «Billboard Hacking». Man hat die grossen digitalen Werbetafeln gehackt und sie mit eigene aktivistischen Slogans besetzt.

 

NR: Ihr kommt oft in Kontakt mit der Polizei. Auch die Polizei hat eine Rolle auf der Bühne der Stadt. Wie verhält sie sich, wenn sie bei euch auftaucht?

Meli: Es kommt immer darauf an, welche Polizist*in man erwischt und in welchem Quartier man sich aufhält. Am Sonntag waren wir zum Beispiel mit dem Wagen in der Innenstadt und die Polizei ist kein einziges Mal vorbeigefahren. In einem wohlhabenderen Quartier haben innerhalb von 30 Minuten fünf Anwohner*innen die Polizei angerufen. Die Methode, die ich allen ans Herz lege, ist: Tut so, als hättet ihr für alles ganz klar eine Bewilligung. Dieses Pokerspiel funktioniert manchmal. Die Polizist*innen merken auch, dass bei unseren Aktionen nichts Negatives passiert und dass die Menschen Freude daran haben. So kommen die Beamt*innen selber in eine blöde Position, denn eine Intervention wäre ein bisschen lächerlich. So zeigen wir den Menschen einen Möglichkeitsraum, dessen sie sich nicht bewusst waren. Einfach so: Hier kannst du ein Feuer machen, es ist kein Problem! Je selbstverständlicher gewisse Dinge im Stadtraum sind, umso mehr Leute machen es einfach und so werden Codes geändert oder gehackt.

 

2.Zukunftsmusik


NR: Wie sieht die Stadt aus, in der es Raum für alle gibt?

Meli: Wenn es keinen Brunnen, kein Bänkli, keine Bäume gibt, dann gibt es auch keinen Platz zum Verweilen. Viele neue Räume sind überhaupt nicht gestaltet, um dort Zeit zu verbringen, sondern so, dass man hauptsächlich durch sie hindurch geht und dass niemand bleibt, den man dort nicht will. «Stadt für Alle» und «Recht auf Stadt» bedeutet aber, dass man bedingungslos willkommen ist. Auf meinem Traumplatz gäbe es viele Sitzmöglichkeiten, Stauraum, einen Brunnen und Platz zum Spielen, zum Beispiel mit einem Schachfeld. Mein Traumplatz wäre einfach ein Ort, an dem man Lust hat, zu verweilen.

 

NR: Das klingt ja total schön. Wieso denkst du, scheitern solche Pläne für solche Plätze so oft?

Meli: Städte entscheiden sich oft für einen properen, sauberen Platz, den man in irgendeinem Heft abdrucken und bewerben kann. Der Wunsch nach einem Park ohne kommerzielle Nutzung wird oft übergangen. Meistens läuft es so ab, dass die Anwohner*innen nur unzureichend bis gar nicht informiert werden, es wird im Stillen etwas geplant. Dann steht man plötzlich im eigenen Quartier vor einer riesigen Einkaufsmeile wie beispielsweise dem Viadukt im Kreis 5, die wieder dieselbe Gruppe ins Quartier schwemmt: hippe, künstlerische Yuppies, die es sich leisten können. So funktioniert das moderne Stadtmarketing. Dabei vergisst man aber die Menschen, die lange schon aktiv in der Stadt sind und nicht einfach mal schnell «durchjetten» und zwei Jahre bei Google arbeiten.

 

NR: Gibt es Räume, die euch besonders interessieren?

Meli: Es gibt einige Zwischennutzungen, die wir im Auge haben. Vor allem brennt uns auch gerade die Frage nach «Gasträumen» unter den Nägeln; also Räume, in denen öffentliche Kunst in der Stadt gemacht werden kann. Diese Räume wollen wir selber zur Verfügung stellen und auch in anderen Städten unterwegs sein wie zum Beispiel Winterthur, Aarau, oder Biel. Nächstes Jahr geht es weiter weg: Wir haben ein Atelierstipendium in Buenos Aires, um dort die Stadt und ihre Entwicklung zu beobachten.

 

Zusatzinfos: 

Meli vom queer-feministischen Kollektiv fumo.ooo hat sich nach ihrem Master in Transdisciplinary Studies an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) der Eroberung von Stadträumen verschrieben. Manchmal träumt sie von utopischen, rein dem Spass und Spiel gewidmeten Städten. Dann kehrt sie wieder in die Realität zurück und erschafft mit ihrer Kollektivpartnerin Vera und ihrem Wohnwagen kleine Kulturoasen an den unwirtlichsten Orten. Ihre Forschung und Kunst treibt sie in die verschiedensten Schweizer Städte und 2022 sogar bis nach Buenos Aires. Mehr Infos: www.fumo.ooo

 

 

Noëmi Roos studiert Kulturpublizistik an der Zücher Hochschule der Künste (ZHdK). Sie interessiert sich für das gesellschaftliche Zusammenleben heute und in der Zukunft, für Literatur und Popkultur. Das Interview mit Meli hat sie am 13. April in Zürich geführt.

 

Der «Balken in meinem Auge» ist eine geteilte Rubrik vom Coucou und dem Zollfreilager, dem Kulturmigrations-Observatorium der ZHdK. Die Interviews beleuchten die Kultur, ihre Praxen und Politiken als Frage der Multiperspektivität.

 

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