1. Eine Geschichte, viele Perspektiven
Ruedi Widmer: In «Chris the Swiss» erzählst du die Geschichte von Christian Würtenberg, einem Schweizer, der 1992 in Kroatien 27-jährig ums Leben kam, nachdem er dort zuerst als Reporter und später auch innerhalb eines militärischen Verbundes aktiv war. Christian Würtenberg ist aber auch dein Cousin, und so vollziehst du im Film eine Gratwanderung: Du erzählst auf einer ersten Ebene aus der Perspektive der Cousine in animierten Szenen. Auf einer zweiten Ebene geht es darum, was Chris erlebte und tat, dokumentarisch einzuordnen. Auf beiden Ebenen ist eine klare und eindeutige Wahrheit nicht zu haben. Wie bist du damit umgegangen?
Anja Kofmel: Zunächst einmal muss ich dazu stehen, dass ich sehr vieles auch nach sehr intensiver Recherche nicht weiss. In den animierten Sequenzen erzähle ich aus meiner Perspektive, ich fülle die Wissenslücken mit meiner Vorstellungskraft. Es gibt zum Beispiel die animierte Szene mit der Frau und dem Hündchen, als Chris im Zug nach Kroatien fährt; da wird den Zuschauenden vermittelt, dass ich in sehr vielen Punkten nur das Tagebuch von Chris als Basis habe und nicht weiss, wie sich die Geschichte wirklich zugetragen hat. Auf der zweiten Ebene, also derjenigen des Krieges und seiner Nachbearbeitung, liegt die Unmöglichkeit, die Wahrheit herauszufinden, in der Natur des Stoffes. Wenn vier Quellen das Gleiche sagen, denkt man, das könnte die Wahrheit sein – dann wird aber unter Umständen klar, dass sie sich alle vier auf eine gleiche und vielleicht zweifelhafte Quelle beziehen, und du beginnst wieder von vorne. Natürlich ging es dann auch um die Absicherung in der Frage, ob jemand, den ich vor der Kamera befrage, seine Aussage danach zurückzieht. Die Befragten haben ein Formular unterschrieben, auf dem stand, dass sie Dinge, die sie im Film nicht sagen wollen, gleich nach dem Interview zurückziehen können.
RW: Der Film wurde, wie du anlässlich der öffentlichen Vorführung in Locarno sagtest, schon bevor er im Mai in Cannes erstmals öffentlich gezeigt wurde, von kroatischen Veteranen und öffentlichen Stellen als «unkroatisch» bezeichnet. Wurde der Film in Kroatien gezeigt, und wie wurde darauf reagiert?
AK: Der Film wurde im Juni in Zagreb anlässlich des dortigen Animationsfilmfestivals und auch an einem kleineren Festival in Istrien gezeigt. Dass er in Zagreb gezeigt wurde, war aufgrund der vorhergegangenen Anfechtungen und da unmittelbar vorher noch Stadtwahlen mit Erfolgen für die Kroatische Demokratische Union (HDZ) stattfanden, nicht selbstverständlich. Das Festival-Publikum in Zagreb war teils kritisch, aber dem Film wohlgesonnen. Insgesamt teilt sich das kroatische Publikum in diejenigen, die ihn wertvoll finden und diejenigen, die ihn antikroatisch finden. Auch linke Kroaten, mit denen ich im Dialog war, hatten Vorbehalte. Damit muss ich leben. Und es ist ja auch verständlich: Da kommt jemand von aussen und erzählt von Dingen, die in diesem Krieg, indem so viele Menschen so viel Schreckliches erlebten, stattfanden. Andersrum betrachtet: Wäre mein Cousin auf der anderen Seite der Kriegsfronten gelandet, würde der Film wohl als antiserbisch angefochten. Dabei ist mein Anliegen ja nur, menschliche und gesellschaftliche Abgründe, die es vielerorts gibt, in einem konkreten Fall aufzuarbeiten und auszuleuchten.
2. Nähe und Distanz
RW: Die Zuschauenden, die den Film kritisch sehen oder ablehnen, können oder wollen sich also, so hätte ich es formuliert, nicht darauf einlassen, dass es immer eine andere Sicht gibt. Hat diese Schwierigkeit nicht auch damit zu tun, dass du Animation und Realfilm mischst?
AK: Ursprünglich wollte ich, obwohl ich von der Animation komme, einen Realfilm machen. Dann kam die Entscheidung, die Formen zu mischen. Bei «Waltz with Bashir» von Ari Folman, einem Film, der für meine Überlegungen zur Form wichtig war, sind die schwächeren Szenen diejenigen, wo ein gefilmtes Gespräch nachträglich animiert wurde. Mir waren die Meta-Informationen wichtig, die in einem gefilmten Gespräch zum Beispiel in der Mimik vorhanden sind. Also habe ich mich für die Mischform entschieden. Ich habe mich dafür aber später auch oft verflucht, denn die Formen beissen sich – in der Animation muss alles lange voraus und super genau geplant sein, im Dokfilm kann man sehr vieles noch im Schnitt entscheiden. Zu deiner Frage: Tatsächlich möchte ich vom Publikum erwarten, dass es sich auf verschiedene Sichten, die man auf eine Figur haben kann, einlässt. Dies offen zu halten und dabei das gezeichnete und das gefilmte Material so zu organisieren, dass es den Zuschauer nicht verwirrt, war die grosse Herausforderung.
RW: Chris ist ja die Figur, die in ihrer Widersprüchlichkeit und Fragwürdigkeit im Zentrum steht. Obwohl du sehr viele Archivaufnahmen im Film drin hast und Chris sehr fein porträtierst, bleibt er eine Leerstelle.
AK: Vielleicht liegt es daran, dass ich Familie bin und Angst hatte, den Abstand zu verlieren. Dramaturgisch war die Idee, Chris im Film zuerst aus der Sicht von mir als damaligem Mädchen aufzubauen; dann zu zeigen, wie er stürzt – ihn quasi menschlich werden lassen. Sein Bruder sagt ja gegen Ende des Films, Chris sei ein Arschloch. Das ist sehr deutlich und zugleich voller Zwischentöne. Ich habe eine andere Position, sowohl in der Familie als auch als Erzählerin des Films.
RW: Zur Biografie von Chris gehört, dass er mit 17 nach Namibia geht und Teil einer südafrikanischen Miliz wird. Wenn er dann Anfang der 90er-Jahre nach Kroatien reist, ist mein Eindruck, dass er das wie eine Art Erlebnistourist tut, einer der aus einem Land heraus, in dem alles sicher und komfortabel ist, das Abenteuer sucht, vielleicht ein Held sein will. Doch die Geschichte von Kroatien, von Jugoslawien und Ex-Jugoslawien, in die er hineingerät, ist eben auch sehr wichtig. Hast du dir überlegt, ob du diese Geschichte überhaupt erzählen willst?
AK: Ich habe hin und her überlegt und dann entschieden, diese Geschichte am Anfang des Films kurz zusammenzufassen. Dagegen sprach, dass jemand, der die Geschichte kennt, sie nicht noch mal erzählt bekommen muss. Und dass sie in der Geschichte, die ich erzählen will, dramaturgisch ein bisschen ein Fremdkörper ist. Aber der Umstand, dass die Grenze zwischen dem heutigen Kroatien und dem heutigen Serbien zugleich die Grenze zwischen dem römisch-katholischen und dem griechisch-orthodoxen Christentum ist, hat eben auch für die Geschichte von Chris eine Bedeutung. Dazu kommt, dass die Geschichte von Jugoslawien beziehungsweise Ex-Jugoslawien, die man im heutigen Kroatien kennt und erzählt, eine stark gefilterte ist.
3. Woher blicken wir?
RW: Für mich liegt in alledem die Frage der Instanz, die von Aussen kommt, die irgendwie für Aufklärung oder Vermittlung oder Überparteilichkeit steht. Das ist hier deine Rolle. Und das ist oft auch die Rolle, die sich die Schweiz gern zuschreibt, oder man ihr gern zuschreibt. Wir leben in Frieden, in Recht und Sicherheit und fragen uns, warum das andere nicht auch hinkriegen.
AK: In der Schweiz haben die Menschen Mühe, die Grauzonen und Unsicherheiten, die in ehemaligen Kriegsterritorien unvermeidlich sind, zu sehen und ernst zu nehmen. Wenn ich mich länger und tiefer mit solchen Konflikten beschäftige, muss ich das Schwarz-Weiss-Denken überwinden.
RW: Im Schlusssatz des Films sprichst du von der Zerbrechlichkeit der Gesellschaft. Mit Blick auf Ex-Jugoslawien kann das den latenten Bürgerkrieg meinen. Mit Blick auf die Schweiz müsste man von der Fragmentierung einer Gesellschaft reden.
AK: Die Spaltung der Gesellschaft, wie sie in Ex-Jugoslawien präsent ist, kennen wir in der Schweiz nicht. Opfer und Täter begegnen sich beim Bäcker. Ein Teil einer Familie kann zum einen Lager gehören, der andere Teil zum anderen. Mich beeindruckt, wie Mitglieder von Familien, die politisch diametral auseinanderliegen, sich begegnen und eine Zuneigung leben. Das wäre bei mir ein No-Go, aber es lässt mich nicht unberührt.
Anja Kofmel ist Filmemacherin, «Chris the Swiss» ist ihr erster Langspielfilm. Der Film startet am 13. September in den Schweizer Kinos.
«Der Balken in meinem Auge» ist eine geteilte Rubrik von Coucou und Zollfreilager, dem Kulturmigrations-Observatorium der ZHdK. Die darin erscheinenden Interviews beleuchten die Kultur, ihre Praxen und Politiken als Frage der Multiperspektivität. Das Interview ist die von Ruedi Widmer vorgenommene Montage eines Gesprächs, das am 4. August 2018 im Rahmen der Locarno Critics Academy in Locarno stattfand.