1. Zukunftsprognosen
Bastian Bernhard: Jakub Samochowiec, du bist Senior Researcher am Gottlieb Duttweiler Institut (GDI). Dort analysierst du gesellschaftliche, wirtschaftliche und technologische Veränderungen und versuchst basierend darauf künftige Entwicklungen zu prognostizieren. Wie entstehen solche Zukunftsprognosen?
Jakub Samochowiec: Das ist sehr unterschiedlich. Oft arbeiten wir mit Szenarien; wir versuchen, Entwicklungen radikal weiterzudenken. Am einfachsten ist es, sie in die Zukunft zu extrapolieren – also zum Beispiel: Wenn die eigene Privatsphäre heute weniger wichtig ist als vor zehn Jahren, dann werden wir in zehn Jahren noch transparenter. Allerdings können Trends auch in einer Pendelbewegung funktionieren: Wenn im Sommer mehr Badehosen verkauft werden als im Frühling, heisst das nicht, dass im Herbst noch mehr verkauft werden. Zudem geschehen entscheidende Entwicklungen oft in Sprüngen. Die Erfindung des Smartphones etwa hätte sich mit Extrapolation kaum vorhersehen lassen. Die Wahl der richtigen Methode ist letztlich eine Frage der Erfahrung. Prognosen auf der Mikroebene sind für uns gar nicht so wichtig, gesellschaftlich relevanter ist es, mögliche Zukunftsszenarien zu skizzieren. Denn oft wird vergessen, dass wir die Zukunft mitgestalten und sie nicht einfach passiert. Darum ist die Debatte darüber wichtig, in welcher Zukunft wir leben wollen.
BB: Musst du da nicht auch ein grosses technisches Verständnis mitbringen, um zu erkennen, ob eine Prognose überhaupt realistisch ist?
JS: Es hilft. Dazu dienen auch Expertengespräche, denn viele Ideen, die herumgereicht werden, sind in naher Zukunft schlicht noch nicht umsetzbar. Was nicht heisst, dass sie gar nicht stattfinden werden. Bekanntlich überschätzt man die kurzfristigen Auswirkungen von Technologien und unterschätzt die langfristigen. Auch deshalb ist es beim Skizzieren von Szenarien manchmal gut, sich nicht zu stark auf die genaue technische Durchführbarkeit zu fokussieren, da man sonst den Blick fürs Grosse verliert.
2. Science-Fiction und Wissenschaft
BB: Überlegst du dir jeweils, welche Auswirkungen deine Szenarien auf die Gesellschaft hätten, sollten sie sich bewahrheiten?
JS: Unbedingt. Wir haben zum Beispiel eine Studie zur Zukunft des Alters gemacht, bei der in einem der Szenarien die Medizin so fortgeschritten ist, dass die Menschen den Tod überwinden. Da ist es selbstverständlich, dass man darüber nachdenkt, welche Auswirkungen ein solches Szenario auf Innovationen in der Gesellschaft hätte. Es gibt beispielsweise Befunde, dass die Wissenschaft Sprünge nach vorne macht, wenn alte Professoren sterben, weil sich dann festgefahrene Dogmen lösen. Bliebe demnach gesellschaftliche Innovation stehen, wenn niemand mehr stirbt? Resultiert eine Abgestumpftheit, wenn alles schon x-mal erlebt wurde? Oder würden alle zu Universalgelehrten werden? Wie würde man mit der drohenden Überbevölkerung klarkommen? Wäre Unsterblichkeit nur etwas für Wohlhabende, und würde eine Gesellschaft das aushalten?
BB: Diese Vorstellungen erinnern an Science-Fiction-Produktionen. Gibt es eine wechselseitige Beeinflussung zwischen Science-Fiction und Trendforschung?
JS: Wir werden sicher stark von Science-Fiction beeinflusst. Vermutlich gibt es kaum Ideen, über die nicht bereits ein Science-Fiction-Autor geschrieben hat. Besonders Filme bieten Möglichkeiten, Szenarien bildlich umzusetzen, die wir nicht haben. Ein Beispiel ist die Serie Black Mirror, welche in der Episode «Nosedive» eine Welt porträtiert, in der sich alle gegenseitig online bewerten. Das nimmt tatsächliche Entwicklungen vorweg wie das chinesische Social Credit System, in welchem jede Chinesin und jeder Chinese eine Bewertung durch den Staat erhält. Das zeigt: Was sich heute noch nach einer «verrückten Zukunftsstory» anhört, mag schon in naher Zukunft Realität sein. Was bei Science-Fiction-Material allerdings auffällt, ist, dass es sich meist um Dystopien handelt, also um pessimistische Zukunftsszenarien. Vor allem Geschichten, die es ins Fernsehen schaffen, sind oftmals ziemlich düster. Wenn es heute in Filmen Utopien gibt, dann sind diese eher in der ferneren Zukunft verortet. Star Trek zeigt das zum Beispiel sehr schön: Die Serie zeichnet eine Welt, in der es keinen materiellen Mangel mehr gibt. Alle haben quasi ein bedingungsloses Grundeinkommen, niemand ist zur Arbeit gezwungen.
BB: Welche Auswirkungen hätte beispielsweise die Verbreitung eines Social Credit Systems, wie es in China vorherrscht, auf unsere Gesellschaft in Europa?
JS: Wir wissen nicht, wie es in China funktionieren wird, wie es in Europa genau umgesetzt werden würde und ob die Regeln, wie in China, vom Staat bestimmt oder vielleicht demokratisch entschieden wären. Ich finde die Annahme sehr plausibel, dass wir im Alltag viele Hemmungen hätten, aus Angst, etwas falsch zu machen. Denn das System vergisst nie. Auch heute schon gibt es Menschen, die online eine Selbstzensur ausüben, da ein falscher «like» sie mal in Probleme bringen könnte. Diese Selbstzensur würde auf jede öffentliche Verhaltensweise ausgeweitet werden.
3. Pessimismus und Optimismus
BB: Haben wir heutzutage tendenziell eine kulturpessimistische Sicht der Zukunft?
JS: Ich glaube schon, dass die meisten Menschen eher Angst vor der Zukunft haben und hoffen, es verändere sich nicht allzu viel. Meinungen wie diejenige des Harvard-Professors Steven Pinker, der sagt, dass sich die Welt in sehr vielen Bereichen zum Besseren wende, ernten oft geradezu aggressive Ablehnung. Allerdings zeigen viele Studien eine Diskrepanz zwischen dem Persönlichen und dem Gesellschaftlichen: Die meisten Menschen glauben, dass die Welt zwar schlechter werde, es ihnen persönlich aber besser gehen wird.
BB: Woran liegt das?
JS: Das hat verschiedene Gründe. Wir kriegen über die Medien ein sehr negatives Bild der Welt vermittelt, welches sich in unserem täglichen Erleben nicht widerspiegelt. Es gibt aber auch eine psychologische Tendenz, sich selber mit einer rosaroten Brille zu betrachten. Die meisten Menschen denken, dass sie besser Auto fahren, intelligenter sind und besser aussehen als der Grossteil der anderen. Eine Mehrheit hält sich vermutlich auch für krisenresistenter als ihre Mitmenschen.
BB: Welche Auswirkungen hat die Diskrepanz zwischen dem Persönlichen und dem Gesellschaftlichen?
JS: Eine mögliche Auswirkung wäre, dass wir gegenüber Menschen in Not weniger empathisch sind, da wir das Gefühl haben, dass es uns selber nie treffen wird.
BB: Wie stark beeinflusst dich dein Job in deinem Alltag?
JS: Mit dem Meisten, womit ich mich beim Institut beschäftige, würde ich mich auch privat auseinandersetzen. Ich war schon vor meiner Arbeit beim GDI ein grosser Science-Fiction-Fan. Mir ist aber aufgefallen, dass ich jetzt auch im Privatleben etwas mehr die Position eines Anwalts der Zukunft eingenommen habe. Ich versuche, oftmals reflexartige negative Einstellungen gegenüber Neuem zu hinterfragen oder allfällige Vorteile aufzuzeigen.
Jakub Samochowiec ist Senior Researcher am Gottlieb Duttweiler Institut (GDI) und betätigt sich in seiner Freizeit als DJ und Musiker. Er studierte Sozialpsychologie und arbeitete vor seiner Zeit beim GDI als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozial- und Wirtschaftspsychologie an der Universität Basel.
Der Balken in meinem Auge ist eine geteilte Rubrik von Coucou und Zollfreilager, dem Kulturmigrations-Observatorium der ZHdK. Die darin erscheinenden Interviews beleuchten die Kultur, ihre Praxen und Politiken als Frage der Multiperspektivität. Das Interview mit Jakub Samochowiec wurde am 25. April in Rüschlikon geführt.