Berichterstattung im digitalen Zeitalter

Berichterstattung im digitalen Zeitalter

Ein Interview mit Medienforscher Thomas Friemel über Mediennutzung und -angebot sowie deren Auswirkungen auf die Gesellschaft.

1. Medialisierung im digitalen Zeitalter

 

Giulia Bernardi: Im Moment wird viel über Digitalisierung gesprochen und darüber, wie diese unsere Gesellschaft verändert. Dies betrifft auch die Medien und die Mediennutzung. Was hat sich da genau gewandelt?

Thomas Friemel: Von der Medialisierung der Gesellschaft ist schon lange die Rede, sprich von einer medialen Vermittlung des gesellschaftlichen Lebens. Nun erfolgt diese Vermittlung zunehmend über digitale Kanäle, welche die Mediennutzung wahrnehmbar machen. In Echtzeit erhalten wir Informationen darüber, wie viele Personen ein Video angeschaut, geteilt oder kommentiert haben. So entstehen Nutzungsspuren von kommunikativem Verhalten, die man beispielsweise bei Printmedien oder beim Radio nicht hat. Ich denke, es ist deshalb wichtig zu unterscheiden, was sich im Zuge der Digitalisierung tatsächlich verändert hat und was lediglich sichtbarer geworden ist.

 

GB: Wie verhält sich unsere Mediennutzung innerhalb der sozialen Netzwerke?

TF: Auf Facebook, YouTube und Co. werden Inhalte anders konsumiert. Das liegt unter anderem daran, dass sie kein lineares Medium sind, wie es beispielsweise das Radio ist. Social Media werden durch Algorithmen geprägt, die uns gewisse Inhalte vorschlagen, welche wiederum unserem Nutzungsverhalten entsprechen. Suchen wir andere Inhalte, die von unserem gewohnten Repertoire abweichen, müssen wir aktiv danach suchen. Tendenziell ist deshalb die Wahrscheinlichkeit geringer, dass wir über andere Inhalte «stolpern», wie es – um auf das Beispiel zurückzukommen – beim Radio der Fall ist. Dort folgt beispielsweise auf eine bewusst ausgewählte Unterhaltungssendung eine Newsmeldung, die wir dann quasi im Vorbeigang vermittelt bekommen.

 

GB: Führt die individualisierte Mediennutzung über die sozialen Netzwerke zu einer Fragmentierung der Gesellschaft?

TF: Auch an dieser Stelle sollte man sich fragen, was sich mit der Digitalisierung tatsächlich verändert hat. Die Inhalte, die ich über Social Media erhalte, sind nicht nur durch die eigenen Interessen geprägt, sondern auch durch das soziale Umfeld. Dies war vor der Digitalisierung aber auch schon so. Medieninhalte spielten schon immer eine wichtige Rolle im sozialen Austausch, und man hat sich eher mit denjenigen Menschen ausgetauscht und angefreundet, die gleicher oder ähnlicher Meinung waren. Medien mit abweichenden Meinungen und deren Anhänger wurden im gleichen Zug gemieden. Eine gewisse Fragmentierung gab es also bereits früher, und man muss sich fragen, ob diese lediglich sichtbarer geworden ist.

 

 2. Bedeutung des sozialen Umfelds

 

GB: Wie hat sich durch die veränderten Nutzungsformen die Funktion der Medien entwickelt? Wer definiert heutzutage die Standards, an denen sich die Medienanbieter orientieren sollten?

TF: Früher sind Informationen durch das journalistische System ausgewählt, überprüft und häufig auch in einen breiteren Kontext gesetzt worden. Die Medien haben sich dabei an professionellen Standards orientiert und wurden für Fehlleistungen von den verschiedenen Anspruchsgruppen zur Verantwortung gezogen. Dies sind alles Aspekte, die bei den neuen Medien nicht mehr gewährleistet sind. Vermutlich dauert es eine gewisse Zeit, bis sich die verschiedenen Anspruchsgruppen auf die neuen Bedingungen eingestellt haben. Zumindest für den Moment scheint es, dass die Rezipientinnen und Rezipienten dabei wesentlich flexibler und recht unkritisch sind. So kommt es, dass gewisse Leistungen der klassischen Medien scheinbar substituiert werden. Dies zum Beispiel bei der Auswahl an relevanten Inhalten, bei denen durch die sozialen Medien das persönliche Umfeld von zunehmender Bedeutung ist und nicht etwa der Anspruch auf Objektivität und Ausgewogenheit.

 

GB: Was zählt denn mehr: Die Normen des sozialen Umfelds oder die «Wahrheitsfindung»?

TF: Ich glaube, dass die Rezipientinnen und Rezipienten nicht immer an einer objektiven Realität interessiert sind. Sie haben zum einen an der Bestätigung ihrer Meinung Interesse und zum anderen möchten sie sich in ihrem alltäglichen Umfeld integrieren. Dies erfolgt durch Medienthemen, insbesondere durch jene Themen, mit denen sich auch das soziale Umfeld auseinandersetzt. Man ist zwar daran interessiert, das Relevante zu erfahren. Doch was relevant ist, ist vielmehr sozial konstruiert, als dass es sich durch objektive Kriterien feststellen liesse.

 

 3. Öffentlich-rechtliche Medienangebote

 

GB: Wie sieht die Situation in der Schweiz aus: Ist das Vertrauen in professionelle Informationsmedien heutzutage noch vorhanden?

TF: Untersuchungen haben gezeigt, dass Rezipientinnen und Rezipienten, die unterschiedliche Informationen zu einem Thema erhalten oder sich mit einem Thema fundiert auseinandersetzen möchten, jeweils auf klassische Informationsmedien zurückgreifen. Diese werden in der Regel als vertrauenswürdiger eingestuft als Onlinemedien. In einer eben publizierten Studie im Auftrag des Bundesamts für Kommunikation konnten wir zeigen, dass die Schweizer Bevölkerung ein sehr hohes Vertrauen in die öffentlichen Radio- und Fernsehangebote des SRF hat.

 

GB: Wie bewertest du den aktuellen Trend, die öffentlich-rechtlichen Medien in Frage zu stellen wie es beispielsweise in Deutschland, Frankreich, Italien oder Polen der Fall ist?

TF: Hinter diesen Bestrebungen stehen entweder ökonomische oder politische Interessen. Man darf nicht vergessen, dass es bei der Werbung um einen Markt geht, der auch in der Schweiz mehrere Milliarden Franken pro Jahr umsetzt. Es ist klar, dass es in jedem Land Unternehmen gibt, die davon einen möglichst grossen Teil für sich reklamieren wollen. Gleichzeitig übernehmen die Medien eine wichtige Funktion in einer Demokratie, und in einer direkten Demokratie wie der Schweiz ganz besonders. Sie beobachten die verschiedenen gesellschaftlichen Akteure und machen ihr Handeln für die breite Bevölkerung sichtbar. Sie übernehmen also eine Kritik- und Kontrollfunktion. Damit diese Funktion möglichst unvoreingenommen erfüllt werden kann, ist es wichtig, dass die Finanzierung möglichst unabhängig ist. Dies ist auch der Grund, wieso in der Schweiz die SRG nicht direkt über Steuern finanziert und kein Teil der Bundesbehörden ist. Die separaten Gebühren und die Organisation als Verein helfen, dass das öffentliche Fernsehen die notwendige kritische Distanz zum politischen System wahren kann. Wenn man dies in Frage stellt, ist das also entweder ökonomisch motiviert oder der Versuch, den Einfluss der Medien zu instrumentalisieren und Einfluss auf das politische System auszuüben.

 

GB: Die USA ist von einer stark polarisierten Mediennutzung geprägt. Besteht dieses Risiko auch für die Schweiz?

TF: Im Gegensatz zu den USA verfügt die Schweiz zurzeit noch über öffentlich-rechtliche Medienangebote, welche den kommerziellen Bedingungen des freien Marktes nicht unterworfen sind. Dadurch kann einer Polarisierung und der Bildung von «Parallelgesellschaften» entgegengewirkt werden. Wie weit sich extreme Ansichten verbreiten können, ist aber auch eine Frage der Marktgrösse: Ist unser Markt gross genug, um extreme oder profilierte Inhalte zu finanzieren? Dies ist in den USA gegeben, in der Schweiz wohl eher nicht. Dementsprechend ist hierzulande die Gefahr auch kleiner, dass es eine solche Form der extremen Berichterstattung gibt. Die Möglichkeiten, sich auf dem Werbemarkt zu finanzieren, sind in vielen Fällen nur über eine relativ moderate Berichterstattung gegeben, die ein breites Publikum anspricht. Dies mag zunächst positiv klingen, schränkt jedoch die Meinungsvielfalt ein. Gerade auf lokaler und regionaler Ebene gibt es kaum mehr kritische Diskurse, da zum Beispiel im Pressebereich die Titel längst in überregionale Verbünde eingebunden sind. Noch kritischer ist die Lage bei Radio und Fernsehen, wo die Produktionskosten wesentlich höher liegen. Abgesehen vom Wirtschaftsraum Zürich gibt es in keiner Schweizer Region ein Newsangebot, dass sich durch den Markt refinanzieren liesse, weshalb diese Angebote auf die Radio- und Fernsehgebühren angewiesen sind.ƒ

Prof. Dr. Thomas Friemel studierte Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Zürich, wo er 2008 promovierte. Er war Professor an den Universitäten Augsburg und Bremen und hat an verschiedenen amerikanischen Universitäten geforscht. Seit Anfang 2017 ist er Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Universität Zürich mit dem Schwerpunkt Mediennutzung und -wirkung.

 

Der Balken in meinem Auge ist eine geteilte Rubrik von Coucou und Zollfreilager, dem Kulturmigrations-Observatorium der ZHdK. Die darin erscheinenden Interviews beleuchten die Kultur, ihre Praxen und Politiken als Frage der Multiperspektivität. Das Interview mit Thomas Friemel wurde am 10. Januar in Zürich geführt.

 

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