Katharina Flieger: Das Fotomuseum Winterthur verhalf der ehemaligen Industriestadt zu Strahlkraft. Ausstellungen zu Ai Weiwei, Robert Frank oder «Darkside I – Fotografische Begierde und fotografierte Sexualität» lockten zahlreiches Publikum an und sorgten international für Interesse. Nun übernimmst du die Gesamtleitung dieser Institution. Warum widmest du dich dieser Aufgabe und ziehst mitdeiner Familie von Biel nach Winterthur?
Nadine Wietlisbach: Es gibt Chancen, die erhält man nur einmal: Eine spannende Institution in einer lebendigen, urbanen Stadt zu gestalten, ist wahnsinnig toll. Ich habe Erfahrung mit Orten, die sich neben den Zentren befinden – darum ist Winterthur für mich reizvoll. Ich betrachte die (Kultur-)Szene als Archipel, die Grösse der Schweiz bietet sich für Bewegung an. Einige längere Aufenthalte in Estland, Österreich und den USA haben sicher zu dieser Sichtweise beigetragen. Wie gestaltet man eine Institution, die eben nicht neben dem Zürcher Hauptbahnhof steht? Winterthur hat historisch betrachtet einige Parallelen zu Biel, auch dies eine ehemalige Industriestadt.
KF: Was reizt dich im Speziellen an der Auseinandersetzung mit Fotografien?
NW: Das Medium Fotografie wurde seit jeher grossen Veränderungen unterworfen. Heute geht es um Beschleunigung, um Masse. Wir alle sind Produzierende von Bildern, zugleich sind wir auch Verteilende, tragen zur Bilderflut bei. Die Grenzen unterschiedlicher Genres wie der Gebrauchs- oder angewandten Fotografie im Kunst- oder Wissenschaftskontext lösen sich immer mehr auf. Das Ephemere ist zentral für dieses Medium. Deshalb spreche ich nicht von «der Fotografie», sondern von Fotografien in der Mehrzahl – noch lieber aber vom Fotografischen. Die Fotografie, wie man sie vor 30 Jahren kannte, existiert zwar noch, wurde jedoch einiges vielgestaltiger.
KF: Das Fotografische, wie du es nennst, ist heute präsenter denn je. Mit der Digitalisierung haben sich Produktion und Verbreitung verändert. Die Bandbreite reicht von klassischer Reportage- über Drohnenfotografie bis zum Selfie. Nach welchen Kriterien triffst du eine Auswahl als Kuratorin?
NW: Mich interessieren Bilder und Konzepte, die mit grosser Sorgfalt erstellt wurden. Die sich durch eine präzise Materialwahl auszeichnen. Mich inspirieren authentische Künstler und Künstlerinnen, die reflektiert und mutig vorgehen. Bilder, bei denen eine inhaltliche Aussage mit dem technisch fotografischen Prozess verknüpft wird und die dadurch eine inspirative Kraft entwickeln, sind zeitlos. Dieser Teil des Bildschaffens verschwand nicht und wird auch nicht verschwinden. Wir bewegen uns mit verschiedenen Geräten wie Smartphones innerhalb digitaler Infrastrukturen, Netzwerken und vielschichtiger Bildwelten, das Tempo ist beachtlich. Das emotionale Potential ist trotzdem vorhanden, ein Aspekt, der manchmal unterzugehen droht. Als Kuratorin interessiert mich, mit dieser Fülle an Themen und Bildern Konzentrationsmomente zu schaffen – egal ob im Ausstellungsraum oder auf publizistischer Ebene, digital oder auf Papier.
2. Vermittlung als institutionelle Verantwortung
KF: Das Fotomuseum wurde 1993 gegründet und durch die Arbeit von Urs Stahel geprägt. Wie haben sich mit dem Wandel der Fotografie die Anforderungen an eine Institution wie das Fotomuseum verändert?
NW: Heute ist man über das Stadium hinaus, ein fotografisches Bild bilde vor allem Authentizität ab.Die lange Geschichte der Wahrheitsbehauptung, die für die Fotografie zentral war, hat ein Ende gefunden. In meiner Arbeit stellt sich vor allem die Frage, die mögliche Formate betrifft. Wie und wo betrachtet wer Bilder? Wie gestaltet sich ein Diskurs darüber, und auf welchen Plattformen ist es sinnvoll, diesen zu führen? Wie bilden wir diese Prozesse ab? Je komplexer unsere eigene Situation in einer globalen, technologisierten Welt wird, umso wichtiger werden intelligente und lustvolle Reflexionsangebote. Für mich beginnt dies mit einem virtuellen Spaziergang auf der digitalen Oberfläche der Website, vertieft sich im Ausstellungsraum und endet im Buchladen oder im Gespräch bei einer Tasse Kaffee. Neue Ausstellungsformen fordern ein hohes Mass an Kommunikation – sei dies über die Ausstellungsgestaltung, Texte oder über das Museumspersonal in Ausstellungsräumen.
KF: Wer soll einen derartigen Spaziergang unternehmen – wessen Bedürfnisse sollen befriedigt werden?
NW: Die grösste Herausforderung wird sein, zwischen einem internationalen, teilweise hochspezialisierten Publikum und Menschen zwischen 4 und 99 Jahren im nationalen und lokalen Kontext eine Brücke zu schaffen. Starke Einzelausstellungen mit internationalen Künstlern und Künstlerinnen werden sich mit thematischen Gruppenausstellungen abwechseln, die von relevanten politischen Themenkomplexen ausgehen. Es gibt Elemente wie P3, eine Initiative für junge Kunstschaffende im Bereich Post-Fotografie, die erstmals 2016 stattgefunden hat und die nun weiterentwickelt wird. Situations, das sindkuratorische Themen-Cluster, mit denen wir schnell auf fotografische und kulturelle Entwicklungen reagieren können. Sie werden sich weiterhin im physischen und digitalen Raum manifestieren, hinzukommen könnte ein Podcast. Das Fotomuseum verfügt über eine beachtliche Sammlung – wie kann diese erweitert werden? Was bedeutet das Sammeln von Fotografischem im digitalen Zeitalter? Was sind Politiken des Sammelns? Nebst dem Bewusstsein, dass jedes Bild Bildpolitiken verinnerlicht hat, möchte ich darüber nachdenken, wie wir mit dieser Winterthurer Sammlung zu verorten sind und was dies im internationalen Kontext bedeutet. Das ist für mich eine Herzensangelegenheit. Das Fotomuseum soll auch in Zukunft ein Zentrum für Bildinteressierte und ein Begegnungsort für unterschiedliche Menschen aller Generationen sein.
3. Weltenbilder
KF: Wie sieht dein persönliches Ziel für die nächsten Jahre aus?
NW: Auch 2020 sollte das Fotomuseum als Gravitationszentrum für das Fotografische funktionieren, fest verankert in Winterthur und der ganzen Schweiz. Innovative Ausstellungen und Vermittlungsformate sorgen für eine kritische Beleuchtung des Gestern und Heute sowie für experimentelle Abenteuer, die dialogisch mit Abidjan, New York, Paris und Warschau vernetzt sind.
KF: Der Wandel zum Fotografischen betrifft auch ein Infragestellen eurozentristischer Kategorien und Aufmerksamkeitsökonomien. Welche weissen Flecken hast du als 35-jährige Luzernerin möglicherweise – welche Zusammenarbeiten möchtest du pflegen, um diese zu beleuchten?
NW: Der eurozentristische Blick ist in der Fotografie – ähnlich wie in der zeitgenössischen Kunst – nach wie vor präsent. Meine weissen Flecken halten mich wach! Nach einem längeren Aufenthalt im südlichen Afrika 2009 hat sich meine Perspektive klar verschoben, dadurch ermutigt habe ich beispielsweise 2016 eine Ausstellung mit Flurina Rothenberger (einer Schweizerin, die an der Elfenbeinküste aufwuchs und sich seit jeher zwischen der Schweiz und Afrika bewegt) realisiert. Mit dem Photoforum Pasquart durften wir Starthilfe bei einem wichtigen Projekt leisten: Edition Nice, einem Magazin, in welchem Fotografen und Fotografinnen sowie Schreibende aus Pemba, Moçambique, ihre Geschichten zwischen Globalisierung und kulturellem Erbe erzählen. Eine weitere Zusammenarbeit mit Flurina Rothenberger und ihrem Verein CLAIM editions kann ich mir gut vorstellen. In diesem Zusammenhang interessiert mich vor allem die Frage, was kulturelle Aneignung in anderen Teilen der Welt bedeutet. In der Musik, im Tanz, kurz: In der Kunst wird zitiert, gemixt, collagiert – wie beeinflussen diese Strategien und Praxen unterschiedliche Weltenbilder?
Nadine Wietlisbachist ab Januar Direktorin des Fotomuseum Winterthur. 2016/2017 leitete sie das Photoforum Pasquart in Biel, davor war sie drei Jahre stellvertretende Direktorin am Nidwaldner Museum in Stans. Zwischen 2007 und 2015 initiierte und leitete sie den unabhängigen Kunstraum «sic! Raum für Kunst» in Luzern, 2015 war sie Gastkuratorin am Museum of Contemporary Photography in Chicago. Nadine Wietlisbach konzipierte bisher zahlreiche Ausstellungen, Publikationen und andere Formate in den Bereichen zeitgenössische Fotografie und Kunst. 2015 wurde sie vom BAK für ihre Arbeit als Kuratorin und Kritikerin mit einem Swiss Art Award ausgezeichnet.
Der Balken in meinem Auge ist eine geteilte Rubrik von Coucou und Zollfreilager, dem Kulturmigrations-Observatorium der ZHdK. Die darin erscheinenden Interviews beleuchten die Kultur, ihre Praxen und Politiken als Frage der Multiperspektivität. Das Interview mit Nadine Wietlisbach wurde am 19. Oktober per Skype geführt.