1. Das andere 1968 in der Schweiz
Damian Christinger: Das Jahr 1968 wird in der
Schweiz vorwiegend mit studentischen
Protesten und einem allgemeinen Aufbrechen
der gesellschaftlichen Strukturen der
Nachkriegsordnung in Verbindung gebracht. Ein
Narrativ, bei dem häufig etwas vergessen geht:
1968 reichte James Schwarzenbach mit der
«Nationalen Aktion gegen die Überfremdung
von Volk und Heimat» die «Eidgenössische
Initiative zur Überfremdung» ein, ein
Volksbegehren, das bald «Schwarzenbach-
Initiative» genannt wurde und 1970 zur
Abstimmung kam. Die Initiative verlangte, dass
die Schweiz den Ausländeranteil bei 10 Prozent
hätte deckeln müssen, was damals zur
Ausweisung von circa 350'000 Arbeiter*innen
geführt hätte, der grosse Teil von ihnen
Italiener*innen. Wie fügt sich das Jahr 1968 in
eure persönliche Biografie ein?
Catia Porri: 1968 machte ich an der Kunstgewerbeschule Zürich den allgemeinen Vorkurs. Eigentlich war mein Übertritt in die Fotofachklasse beschlossene Sache. Doch nach den Protesten in Prag und der Niederschlagung des Prager Frühlings flüchteten viele in die Schweiz, die im Gegensatz zu uns italienischen Gastarbeiter*innen willkommen geheissen wurden, da sie vor dem Kommunismus geflohen waren. Mir wurde mitgeteilt, dass sich mein Eintritt in die Fachklasse um ein Jahr verschieben würde, da man diese Menschen zuerst berücksichtigen wolle. Ich beschloss dann, eine Fotografinnenlehre zu beginnen, da meine Ungeduld zu gross war.
Rohit Jain: 1968 kamen meine Eltern aus Indien in die Schweiz, mein Vater fand als Bauingenieur Arbeit. Sie liessen sich in jenem Berner Vorort nieder, in dem ich fast zehn Jahre später zur Welt kam und meine Kindheit verbrachte. Wäre die Schwarzenbach-Initiative angenommen worden, würde ich jetzt nicht hier sein – wie unzählige andere Menschen auch nicht.
DC: Du sprichst von einer Ungeduld, Catia,
womit hing diese zusammen?
CP: Ich wollte endlich eine angemessene Ausbildung machen. Nachdem ich jahrelang unter dem Schweizer System gelitten hatte, wollte ich endlich die Vorteile und Möglichkeiten in Anspruch nehmen. Meine Eltern hatten den Saisonier-Status, was bedeutete, dass ich als Kind jeweils nur ein halbes Jahr legal in der Schweiz bei ihnen leben durfte. Da mein Vater als Schweisser und Heizungsmonteur aber ganzjährig Arbeit hatte, bedeutete das, dass ich die restlichen sechs Monate ohne meine Eltern in Italien hätte leben müssen. Die Schweiz wollte unbedingt verhindern, dass sich die Gastarbeiter*innen hier niederliessen, man wollte ihre Arbeitskraft für den Aufschwung, hiess sie aber nicht als Menschen willkommen. Ich kam mit zwölf Jahren in die Schweiz. Weil ich kein Deutsch konnte, wurde ich in die 4. Primarklasse gesteckt. Da blieb ich ein halbes Jahr und verbrachte ein weiteres halbes Jahr versteckt in unserem Mansardenzimmer im Zürcherischen Sonnenberg. Meine Eltern hatten Angst, dass ich entdeckt werden könnte. Ich durfte tagsüber nicht im Zimmer herumgehen, da der Fussboden hätte knarren können, ich durfte mich nicht am Fenster zeigen und ja keinen Lärm machen. Ein halbes Jahr später war ich wieder legal in der Schweiz und musste die 4. Primarklasse wiederholen, weil ich immer noch schlecht Deutsch sprach. Tausenden von italienischen Kindern erging es wie mir.
2. Der Schwarzenbach-Komplex
DC: Du engagierst dich seit Jahren dafür, dass
diese Geschichten der illegalisierten Saisonier-
Kinder nicht vergessen gehen, sondern offiziell
aufgearbeitet werden. Bis anhin hast du dich
vorwiegend direkt politisch engagiert. Nun bist
du Teil des ethnographisch-künstlerischen
Langzeitprojektes ké*sara, das Rohit Jain mit
dem Theaterschaffenden Tim Zulauf und der
Historikerin Paola De Martin initiiert hat und
das am Zürcher Theater Spektakel seinen
Anfang nahm. Was erhoffst du dir von dieser
künstlerisch-dokumentarischen Arbeit?
CP: Was mir und den anderen Saisonier-Kindern passierte, ist eine Ungerechtigkeit, eine systematische Benachteiligung, die dazu gedient hatte, dass sich die Schweiz vor einer vermeintlichen Überfremdung beschützt fühlen konnte. Seit der Schwarzenbach-Initiative sind aber zig andere Volksbegehren eingereicht worden, die eine ähnliche Stossrichtung haben. Am 27. September stimmen wir wieder über eine solche Initiative ab. Uns geht es darum, die Erfahrungen, die wir gemacht haben, als lebendige Erinnerungen in die Mitte der gesellschaftlichen Diskussionen zu tragen und die Frage nach der heutigen Situation der sogenannt Fremden in der Schweiz zu stellen.
DC: Die gleiche Frage an dich, Rohit: Warum ein
solches Projekt? Welche kulturwissenschaftliche
Perspektive bringst du ein?
RJ: Als ich als eines der wenigen dunkelhäutigen Kinder in dem Berner Vorort aufwuchs, fehlte mir häufig das Vokabular, um Rassismuserfahrungen oder den Stolz auf meine transnationale Lebenswelt auszudrücken. Ich habe mich oft für meine Eltern und auch für mich geschämt, weil wir nicht in die Norm passten. Ich kann heute als Wissenschaftler und Aktivist einen Beitrag zu einem kritischen Diskurs leisten, zu Themen, die bisher zu wenig in der Öffentlichkeit verhandelt wurden: beispielsweise zur Rolle der Schweiz im Kolonialismus, zur langen Tradition eines strukturell-rassistischen Migrationssystem oder zu jenen Mythen der Neutralität, die wir uns erzählen, um uns gut zu fühlen. Als Secondo und Sozialanthropologe frage ich: Wer ist mit «wir» gemeint? Ist die offizielle Geschichte der Schweiz auch meine oder sind meine Geschichten andere? Ich habe gelernt, dass diese anderen Geschichten aufs Tapet kommen müssen, damit ich mich hier wirklich heimisch fühlen kann. Langjährige Forschungen zeigen: So geht es vielen in der Schweiz! Das Problem ist jedoch strukturell. Die Chancen, an die Uni zu kommen, sind bei Menschen, die einen Volksschulabschluss und mindestens einen migrantischen Elternteil haben, 2,5 mal so klein wie bei Menschen, die aus einem reinen Schweizer Haushalt kommen. Dramatisch ist, dass 25 Prozent der Schweizer Bevölkerung nicht an der formellen Demokratie teilnehmen können, weil in der Schweiz seit Jahrzehnten mitunter die höchsten Einbürgerungshürden Europas bestehen.
DC: Diese Fragen und Probleme sind nicht
historisch, sondern gegenwärtig. Und dennoch
haben sie ihre Wurzeln in der Vergangenheit.
Wie sollen wir damit umgehen?
RJ: Es geht beim Projekt ké*sara nicht einfach darum, an eine rassistische Initiative zu erinnern und den mahnenden Zeigefinger zu heben. Deswegen sprechen wir auch vom Schwarzenbach-Komplex: James Schwarzenbach kommt nicht aus dem Nichts. Sein Denken und seine Politik sind tief in der Schweiz verwurzelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Hunderttausende Gastarbeiter*innen rekrutiert, um die Schweizer Infrastruktur aufzubauen. Aber trotzdem wurden sie von Freisinnigen und Gewerkschaften nur zu oft als «unassimilierbar» angesehen. Die Geschichte der helvetischen Überfremdungsideologie geht bis an den Anfang des 20. Jahrhunderts zurück. Schwarzenbach gab diesem Unbehagen einfach eine Sprache und ein Gesicht. Die Initiative wurde zwar 1970 von den abstimmenden Männern knapp abgelehnt, sie hat die Politik seither aber mitbestimmt. So eben auch den Umgang mit Migrant*innen, zuerst den Italiener*innen und Spanier*innen, dann den Portugies*innen und Türk*innen, den Tamil*innen und den Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien. Heute diskutieren wir über die Rolle des Islams in unserer Gesellschaft und meinen damit immer noch das Gespenst der Überfremdung.
Das Projekt dreht den Spiess um und fragt: Welche «anderen» Geschichten existieren, welche Menschen, die zwar unter uns sind, aber kaum Gehör finden? Wie kann die Gesellschaft von ihnen lernen?
3. Erinnerungskultur als Ort der Verhandlung
DC: Ein Aspekt, der in der Erinnerung an den
Schwarzenbach-Komplex häufig
ausgeklammert wird, ist das Verhältnis der
historischen Linken zum Thema. Die
Gewerkschaften haben damals zwar die
Ablehnung der Initiative empfohlen, weite Teile
der Gewerkschaftsbasis haben aber ja
gestimmt. Viele Second@s stimmen heute für
die SVP...
CP: Deswegen ist unsere Erinnerung so wichtig. Eine der wenigen Organisationen, die sich in den 1960er-Jahren um die Belange der italienischen Gastarbeiter*innen gekümmert haben, war neben der Kirche die Colonie Libere, eine politisch klar linke Organisation. Bis in die späten 1980er-Jahre galt in der Schweiz ein Gesetz, das besagte, dass sich die Ausländer*innen weder politisch äussern noch engagieren durften, weil die Politik Angst davor hatte, dass viele der Arbeiter*innen Sympathien für die Ideen des Kommunismus hegten. Die Prämisse, dass man sich nur in diese Gesellschaft integrieren kann, wenn man politisch das Maul hält, hat dazu geführt, dass wir die Erinnerung an diese Facetten unserer Geschichte verdrängt haben. Sie ist aber wichtig, um die heutige Politik aktiv mitzugestalten, gerade dann, wenn Second@s abstimmen.
RJ: Es ist ein Problem, wenn man aus der Perspektive der Linken und der bürgerlichen Mitte heraus die Themen Rassismus, die Angst vor Überfremdung und den menschenunwürdigen Umgang mit Flüchtenden den Rechtspopulisten zuschiebt. Genau das wird seit der Schwarzenbach-Initiative jedoch gemacht. Weder die Liberalen noch die Gewerkschaften wollten damals Gastarbeiter*innen wirklich integrieren oder einbürgern, allerdings konnten sie nun sagen: «Wir sind nicht wie Schwarzenbach.» Zwei Faktoren, nämlich: billige Arbeitskräfte ins Land zu holen und die Einbürgerung massiv zu erschweren, haben den Wohlstand in der Mittelschicht erhöht. Solche Mechanismen sind Teil des bis heute wirksamen Schwarzenbach-Komplexes. Wir leben in einer Demokratie, unser System wird von allen mitgestaltet, es sind also auch alle dafür verantwortlich. Die Diskussion zu diesen Themen darf nicht nur an den politischen Rändern geführt werden, sondern muss in der Mitte der Gesellschaft ankommen. Uns ist es ein Anliegen, einen gesellschaftlichen Prozess anzuregen und nicht eine politische Lösung vorzuschlagen.
DC: Wie sieht ein solcher Prozess aus? Können
wir diese Geschichte überwinden?
RJ: Für einen Neuanfang müssen wir als gesamte Gesellschaft die Geschichte der Schweiz und auch die unangenehmen Kapitel – wie etwa gewaltvolle Aspekte des Gastarbeiter*innen-Regimes und des damit verbundenen Rassismus – ehrlich und selbstkritisch verhandeln. Wir müssen ein gemeinsames Vokabular entwickeln, eine gemeinsame Sprache und neue Beziehungen, damit wir heute möglichst ohne Vorurteile und Ressentiments diskutieren können. Eine offene und vielstimmige Erinnerungskultur ist paradoxerweise auf die Zukunft gerichtet und nicht auf die Vergangenheit. Erinnerung wird immer in der Gegenwart gemacht und reflektiert, welche Machtverhältnisse in einer Gesellschaft vorherrschen. Eine Demokratie erfordert somit, dass die Stimmen und Erinnerungen der ganzen Bevölkerung zählen. Die öffentliche Auseinandersetzung um Denkmäler und Geschichte ist stets auch ein Kampf um Macht und Demokratie. Hier kann ich sowohl als Sozialanthropologe als auch als Bürger einen Beitrag leisten.
DC: Euer Projekt erstreckt sich über ein Jahr:
Wie sieht es konkret aus? Und wie wird es sich
2021 manifestieren?
RJ: Das wissen wir noch nicht im Detail, da die Formen und Inhalte, die das einjährige Projekt annehmen wird, von den Beteiligten genauso mitgestaltet werden wie vom Publikum. Zum Auftakt am Theater Spektakel 2020 möchten wir die Geschichte, die vom Schwarzenbach-Komplex ausgeht, multiperspektivisch darstellen und dokumentieren. Dies tun wir vor allem an Orten, die eng mit dieser Geschichte verknüpft sind. Einerseits finden Ortsbegehungen beim Ristorante Cooperativo, dem Punto d‘Incontro und der Libreria Italiana statt, an denen kleine Gruppen ausgehend von Zeitzeug*innenberichten Erinnerungen teilen. Schliesslich findet im Volkshaus eine erinnerungspolitische Versammlung statt, an der wir experimentell herausfinden wollen, wie die Erinnerung an das Gastarbeiterregime und struktureller Rassismus kollektiv verhandelt werden soll/kann. Ab September finden monatliche Jours Fixes in Zürich statt, die als kollektive Erinnerungswerkstätten gestaltet werden und an denen Zeitzeug*innen, Forschende, Aktivist*innen und weitere Interessierte zusammenkommen können. Am Theaterspektakel 2021 werden dann die Ergebnisse aus diesem kollektiven Prozess in geeigneten Formaten und Räumen öffentlich verhandelt.
Catia Porri (*1950 in Florenz) immigrierte 1962 mit ihren Eltern in die Schweiz. Sie war Mitglied der Colonie Libere, kandidierte 2013 als Vertreterin der Ausland-Italiener*innen in der Camera dei Deputati Circoscrizione Europa (SEL, Sinistra Ecologia Libertà) und 2015 für den Nationalrat (SP). Von 2015 bis 2019 war sie Mitglied der Sozialbehörde in Glattbrugg.
Rohit Jain (*1978) ist schweizerisch-indischer Sozialanthropologe und künstlerischer Forscher mit Fokus auf Migration, Postkolonialismus und Globalisierung. Mit dem Theaterschaffenden Tim Zulauf und der Historikerin Paola de Martin hat er das kollektive Langzeitprojekt «Schwarzenbach-Komplex» lanciert.
Der Balken in meinem Auge ist eine geteilte Rubrik von Coucou und Zollfreilager, dem Kulturmigrations-Observatorium der ZHdK. Die darin erscheinenden Interviews beleuchten die Kultur, ihre Praxen und Politiken als Frage der Multiperspektivität. Das Interview mit Catia Porri und Rohit Jain hat Damian Christinger am 3. August 2020 in Glattbrugg geführt.