1. Eine Familie in Puebla
Ruedi Widmer: Mit 18 Jahren hast du das
Manuskript für deinen 2015 erschienenen
Roman «Campeón Gabacho» geschrieben. Der
Roman dreht sich um Liborio, ein junger Mann,
oder mehr ein Kind, das aus der Gosse kommt
und in die USA migriert. Mit dem Manuskript
hast du bei einem Literaturwettbewerb in
Mexiko den ersten Preis gewonnen. Wie muss
ich mir diese Aura Xilonen vorstellen, die in
Puebla lebt und ohne eine wirkliche literarische
Ambition an ihrem Romanmanuskript schreibt?
Aura Xilonen: Ich komme aus der unteren Mittelklasse. In meiner Familie gibt es mit Ausnahme meiner Grossmutter, die einen Laden führt, fast nur Künstler*innen. Allerdings leben die meisten in der Frustration, von ihrer Kunst nicht überleben zu können. Es war und ist eine eher ungeordnete, ein bisschen verrückte Familie. Ich fühlte mich nicht wie eine Schriftstellerin, ich habe einfach geschrieben. Übrigens spielt in Mexiko das Klassenbewusstsein eine eher untergeordnete Rolle. Die meisten Leute, egal welcher Klasse sie angehören, sind arm.
RW: Wurde in dieser Familie viel gelesen?
AX: Oh ja. Das Haus war voller Bücher. Da es sie in rauen Mengen gab, gelang es nie wirklich, sie zu ordnen und schön aufzubewahren. Ausserdem war die Kultur des mündlichen Erzählens, des Witzereissens, sehr wichtig. Mit dieser halfen wir uns über die Runden, wenn das Leben sonst nicht so lustig war. Nach dem Motto: Wenn es mal nichts zu essen gibt, dann gibt es wenigstens etwas zu lachen.
RW: Gustave Flaubert soll über seine
berühmteste Romanfigur gesagt haben: «Ich bin
Madame Bovary.» Bist du Liborio?
AX: Ja und nein. Ich bin Liborio, aber ich bin in einer anderen Situation. Liborio ist allem ausgesetzt, was das Überleben in der Gesellschaft schwierig oder unmöglich macht. In seinen jungen Jahren hat er schon alles erlebt, was Menschen einander antun können. In der Migration wird er noch mehr zum Kämpfer, der alle Mittel einsetzt, um zu überleben. Niemand hat auf ihn gewartet, aber er führt auf seine naive Weise den Kampf weiter. Im Grunde ist es ein Kampf um Gerechtigkeit mit dem Ziel, sich emporzuarbeiten in eine Situation, wo er am Drücker ist.
2. Aura in der Haut von Liborio
RW: Fiel es dir leicht, in die Haut von Liborio zu
schlüpfen?
AX: Grundsätzlich ja. Am Anfang stand eine Übung in kreativem Schreiben, an der ich in einer Schreibwerkstatt meines Onkels in Puebla teilnahm. Zur Übung gehörte es, aus der Perspektive des anderen Geschlechts zu schreiben.
RW: Was ist es, was Liborio am Anfang seiner
Reise am meisten fehlt?
AX: Er hat keine Geduld. Er begreift nicht wirklich, wie ihm geschieht. Er schlägt zu, bevor er auch nur kurz nachgedacht hat. Er schlägt mit Fäusten und Füssen zu, aber auch mit Wörtern. Er ist stets im Kampf, er will überleben, er verteidigt seine Idee von Gerechtigkeit. Aber ich kann diese Frage auch positiv beantworten. Menschen wie Liborio haben eine Energie und eine Kreativität, die andere Menschen in privilegierteren Situationen, so eben auch ich, nicht haben. Hinzukommt das, was er durch seine Erfahrungen lernt. Es ist eine Art Heldenreise: Wer es schafft, wird zu einem «campeón de vida», einem Lebensmeister in einer Umgebung, die extrem grausam sein kann.
RW: Gibt es in Mexiko junge Frauen, die
ähnliche Erfahrungen gemacht haben und die
auch so ticken?
AX: Mir kommt «Lucha libre» in den Sinn, eine Kampfsportart, in der alles auf Show angelegt ist. Der Sport wird auch von Frauen praktiziert. Ihre Sprache ist wie die von Liborio: derb, vulgär, unanständig. Nur ist da auch oft viel Humor und Ironie dabei. Auch im mexikanischen Alltag ist das derbe Sprechen, von Männern wie von Frauen, oft nicht beleidigend gemeint, vielmehr geht es um Spiel und Spass. Es sind ja nur Wörter.
RW: Trotzdem ist Gewalt, so hört man in den
Medien immer wieder, etwas sehr Prägendes im
mexikanischen Alltag. Dazu gehört auch die
verbale und physische Gewalt, die von Männern
an Frauen ausgeübt wird.
AX: Diese Gewalt gibt es allerdings. In Puebla ist die Zahl der Frauenmorde dramatisch hoch. Übrigens: Im Roman sind es lauter Frauen, die dazu beitragen, dass sich Liborio beruhigen, dass er quasi erwachsen werden kann.
RW: Im Roman «America» von T.C. Boyle wird
die Geschichte eines Migrantenpaars aus
Mexiko erzählt. Die Frau ist schwanger, sie
müssen sich in einem Canyon in Los Angeles
verstecken. Der Mann ist in gewisser Weise in
einer noch schwierigeren Situation als die Frau.
Er ist ein Underdog. Alle Amerikaner, mit denen
er zu tun hat, sind «Chiefs», wie auch der
Buchhändler in deinem Roman. Der Mexikaner
ist ohne Ausweg ein Mensch zweiter Klasse.
AX: So ist es, und das ist eben die Migrationsrealität, die so weh tut. Zu dem, was weh tut, gehört, dass in den USA die in Mexiko herrschenden Macht- und Gewalthierarchien reproduziert werden. Es gibt, auch unter den Migrant*innen, Gewinner*innen und Verlierer*innen. Alle wollen berühmt sein, wollen ein Leben führen wie Jennifer Lopez oder Mark Anthony. Um dahinzukommen, nehmen sie teil am grossen Verdrängungskampf.
RW: Zudem kommen sie in ein Land, in dem sich
immer mehr Leute wie Opfer fühlen. Auch die
Wähler*innen von Donald Trump, die Weissen
auf dem Land und so weiter fühlen sich so.
AX: Umso mehr muss gelten, dass es Platz für alle haben muss. Der Platz muss geschaffen werden. Wir müssen dafür kämpfen.
3. Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt
RW: Kommen wir noch einmal auf die Sprache
zurück. Lässt sich dieser Roman überhaupt
übersetzen? Ich hatte das Gefühl, dass das
nicht ganz so einfach ist.
AX: Die Kunst des Übersetzens ist die Kunst des Verstehens. Man muss einerseits ein feines Gespür dafür haben, was im Original vermittelt wird. Anderseits muss man sehr stark der Sprache, in die man übersetzt, gerecht werden. Ich glaube, dass das am ehesten gelingt, wenn man sich nicht zwingt, wortgetreu zu übersetzen.
RW: Du führst ja die Figur und die Wörter quasi
spazieren. Es gibt Obertöne und Untertöne, es
gibt Klänge und Färbungen, es gibt mal ein
Augenzwinkern, mal eine Anspielung.
AX: Ja! Die Worte haben ihren Geruch, ihre Stimmungen und Launen, sie sind quasi Kreaturen mit einem Eigenleben. Und sie haben sehr viele Farben. Zum Beispiel das Wort «chingar»: Es kann foppen, aber auch vögeln heissen und dazwischen gibt es noch sehr viele andere Schattierungen.
RW: Stimmt es, dass du in der Art und Weise,
wie du diesen Roman geschrieben hast, nie
mehr schreiben können wirst? Der Roman stiess
auf ein grosses Echo. Es gibt
Erwartungshaltungen. Man möchte dich so und
so sehen, vielleicht möchte man dich festlegen
auf ein Bild, das man von dir hat.
AX: Klar, das stimmt. Viele Kritiker*innen und Verlagsleute wollen mich einordnen, in Kategorien einsperren. Aber ich lasse das nicht zu. Deswegen habe ich keine Verträge unterschrieben. Da hätte ich zwar einen Vorschuss für einen nächsten Roman bekommen, aber auch eine Deadline und viel Druck. Das behagt mir nicht. Ich möchte auch nicht ständig die Rolle der Nachwuchs- oder Erfolgsautorin spielen. Viel lieber bin ich unterhalb des Radars der Literaturöffentlichkeit.
RW: Worum dreht sich dein nächstes Projekt?
AX: In meinem neuen Projekt will ich mit der Struktur spielen, weniger mit der Sprache. Es geht um «Autoficcion», um autobiografische Fiktion.
Aura Xilonen war im zweiten Halbjahr 2019 Writer in Residence des Literaturhauses Zürich. Nach dieser halbjährigen Auszeit nahm die 25-Jährige im Januar 2020 wieder ihr Studium an der Kunst- und Filmhochschule BUAP in Puebla auf. Die deutsche Übersetzung ihres Roman-Erstlings erschien 2019 unter dem Titel «Gringo Champ» bei Hanser. Ruedi Widmer führte das Gespräch am 6. Dezember 2019 in Winterthur.