Kultur ist ein grosses Wort. Jede*r hat eine andere Definition, ein anderes Verständnis davon. Die einen denken bei «Kultur» an Kunst, Film und Literatur, zweite an Veranstaltungen wie Konzerte, Theater oder an Ausstellungen, dritte an gemeinsame Aktivitäten oder Räume, in denen man sich trifft und austauscht. «Auch das Albanifest gehört dazu», pflegt Stadtpräsident Michael Künzle immer wieder gerne zu sagen, wenn er über Winterthur als Kulturstadt spricht. Im Vorwort zum 2015 überarbeiteten Kulturleitbild der Stadt Winterthur versuchte er diesen weit gefassten Begriff, der auch die Quartierkultur, Stadtfeste und die Clubszene einschliesse, in Bezug auf die Stadt näher zu umschreiben: «Kultur ist Leben. Nicht zuletzt deshalb hat Winterthur heute den Ruf einer Stadt, in der man gerne lebt.» Er führt weiter aus, dass Kultur Identität stifte, Fantasie und Kreativität mobilisiere, Kommunikation, Vernetzung und soziale Integration fördere und der Gesellschaft neue Impulse gebe. Auch ein Verweis auf die Definition der Unesco fehlt nicht in seiner Beschreibung. Diese sieht Kultur als «die Gesamtheit der einzigartigen geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Aspekte (...), die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen».
Bei einer solch offenen Definitionen wie «Kultur ist Leben» und der Unesco-Definition, auf die sich das Kulturleitbild der Stadt Winterthur abstützt, stellt sich allerdings die Frage: Welche Art von Kultur wird von Seiten der Stadt finanziell konkret unterstützt? Zuständig für die Kulturförderung ist der Bereich Kultur des Departements Kulturelles und Dienste, der ab 2023 in «Amt für Kultur» umbenannt wird. Bereichsleiterin, Nicole Kurmann, hat mit ihrem Team in den letzten Monaten eine gesetzliche Grundlage erarbeitet, in der die verschiedenen Ansätze der städtischen Kulturförderung beschrieben werden. «Kulturförderung ist der Überbegriff für das, was wir als Amt für Kultur machen. Die neue Kulturförderungsverordnung beschreibt unser ganzes Tätigkeitsgebiet bis hin zu den einzelnen Unterstützungsmassnahmen.» Weil die Stadt aber einen solch offenen Kulturbegriff habe, gebe es innerhalb der Verwaltung noch andere Bereiche wie die Quartierentwicklung, die für die Soziokultur zuständig sei, oder das Departement Sicherheit und Umwelt, bei dem das Albanifest und die Dorfeten angesiedelt seien. Gebühren zu erlassen sei zum Beispiel auch eine Art der Unterstützung, allerdings nicht Bestandteil dieser neuen Verordnung. Darin werden die bisherigen Tätigkeiten des Amts für Kultur festgehalten, sozusagen der Status Quo der städtischen Kulturförderung. Die Verordnung war im Herbst in der Vernehmlassung, wurde vom Stadtrat abgesegnet und nun dem Stadtparlament zur Diskussion vorgelegt. Wann die Stadtparlamentarier*innen das Gesetz beraten, ist noch nicht klar. Geplant ist jedoch, dass es am 1. Januar 2023 in Kraft tritt.
Bewahren und entwickeln
Was ist dieser Status Quo? Er wird im Gesetz in 18 Artikeln beschrieben. Darin ist der Zweck, die Grundsätze und die Ausgestaltung der städtischen Kulturförderung formuliert. Der Zweck umfasst erstens «die Förderung, Entwicklung und Sichtbarmachung des kulturellen Schaffens», zweitens «die Förderung der Kulturvermittlung, des kulturellen Austausches sowie die Teilhabe an der Kultur» und drittens «den Erhalt, die Pflege, Erschliessung und Vermittlung des der Stadt anvertrauten Kulturerbes und der Sammlungen.» In Kommentaren zu den einzelnen Gesetzesartikeln hat das Amt für Kultur zudem etwas ausführlicher dargelegt, was unter Schlagworten wie «Förderung» oder «Teilhabe» zu verstehen ist.
Förderung meint in erster Linie, das bestehende Kulturschaffen in der Stadt zu erhalten, sprich grössere Kulturbetriebe und Festivals mit wiederkehrenden Beiträgen in Form von Subventionen zu unterstützen. Aber auch die kulturelle Vielfalt ebenso wie Nischenangebote und innovatives Schaffen sollen berücksichtigt werden. Zugleich liege der Fokus darauf, dass sich das bestehende zeitgenössische Kulturschaffen entwickeln kann, was in Form von punktueller Förderung über Projektbeiträge geschieht. Darüber hinaus wird auch darauf verwiesen, dass Winterthur von seiner Geschichte geprägt sei. Durch die Sammeltätigkeiten von Industriellen ist die Stadt im Besitz eines grossen Fundus an wertvollen Bildern. Ebenso besitzt sie eine Münzsammlung, die im Münzkabinett zu sehen ist, und zahlreiche Baudenkmäler. Dieses Kulturerbe zu pflegen, zu erschliessen, aber auch seinen Wert zu erhalten, sei eine der Aufgaben, die die Stadt wahrnehmen müsse, sagt Nicole Kurmann. Und führt weiter aus, dass Zugang zu und Teilhabe an Kultur so niederschwellig, ge-nerationen- und herkunftsübergreifend, divers und inklusiv wie möglich gestaltet sein soll. «Von Seiten der Stadt besteht die Erwartung, dass alle Institutionen, die wir fördern, das Augenmerk auf den kulturellen Austausch und Teilhabe legen. Diese Erwartung halten wir auch in den Subventionsverträgen fest, um sie in Pflicht zu nehmen.»
Das Amt für Kultur hat zudem insgesamt neun Grundsätze festgehalten, anhand der die Kulturförderung ausgerichtet werden soll. Zum Beispiel sollen «Freiräume für innovatives und experimentelles Kulturschaffen» ermöglicht werden. Ein Kriterium ist, dass Beiträge nur gesprochen werden, wenn grössere kulturelle Betriebe ihre Finanzierung aus verschiedenen Quellen erschliessen. Ausserdem sollen die geförderten Vorhaben und Organisationen «nachhaltig» wirken. Im Gesetz wird zudem mehrmals auf das Kulturleitbild verwiesen. Die Bereichsleiterin sagt: «Das Gesetz schafft nur die rechtlichen Grundlagen. Mit welcher Strategie und mit welchen Schwerprunkten die Stadt diese Grundlagen umsetzt, wird im Kulturleitbild festgehalten.» Und das Leitbild werde periodisch in einem partizipativen Prozess erarbeitet – auch das ist gesetzlich geregelt.
Verbindlichkeit schaffen
Warum aber ist eine gesetzliche Grundlage für die Tätigkeit des Amts für Kultur überhaupt wichtig? Nicole Kurmann verweist auf das Kulturleitbild 2015 – das erste stammt aus dem Jahr 2003. Es wurde in einem partizipativen Prozess überarbeitet. An diesem Prozess waren rund 100 Mitwirkende aus der Stadtverwaltung sowie diverse Kulturakteur*innen beteiligt. Das Amt für Kultur hat zusammen mit ihnen unterschiedliche Handlungsfelder definiert. Eines davon war der Erhalt und die Weiterentwicklung der Kulturstadt Winterthur. Als Massnahme wurde damals von den Kulturakteur*innen der Wunsch geäussert, dass eine gesetzliche Grundlage zur Kulturförderung erarbeitet wird. Damit forderten sie von der Stadt ein, die Kulturförderung in Winterthur verbindlich abzusichern. «Konkret heisst das, die Stadt muss ihre Verantwortung für den Erhalt und die Weiterentwicklung der Kultur wahrnehmen, was auch eine finanzielle Komponente miteinschliesst. Die Kulturausgaben der Stadt waren bis anhin freiwillig, es gab keine Gesetzesgrundlage dafür, dass die Kultur Gelder bekommen muss», erklärt Nicole Kurmann. Das Budget, das dem Amt für Kultur für die Kulturförderung zur Verfügung stehe, wird vom Stadtparlament in den jährlichen Budgetdebatten beschlossen. Wie viel Geld für die Förderung von einzelnen Kulturprojekten zur Verfügung stehe, weiss das Amt für Kultur also erst wenige Monate im Voraus. Mittels Subventionsverträgen ist die Finanzierung für vier bis maximal acht Jahre geregelt, doch auch bei diesen Beträgen hatte das Stadtparlament bislang die Möglichkeit, zu kürzen. Die Unverbindlichkeit bedeutet für viele Kulturakteur*innen Planungsunsicherheit. Um dieser entgegenzuwirken, sprachen sich die Kulturakteur*innen bei der Überarbeitung des Leitbildes dafür aus, eine Gesetzesgrundlage zu schaffen. «Es wird sich zeigen wie stark die damaligen Hoffnungen finanziell erfüllt werden können. Aber wenn das Stadtparlament ja sagt zu dieser Verordnung, ist das ein Bekenntnis zur Kulturstadt und damit auch zur Kulturförderung», sagt Nicole Kurmann. Und im neuen Gesetz gibt es nun immerhin eine Kürzungsklausel, die eine Kürzung auf 5 Prozent begrenzt und besagt, dass bei Beiträgen unter 100'000 Franken gar nicht mehr gekürzt werden darf.
Wie definiert man «angemessen»?
Insgesamt wurden 2021 35,6 Millionen Franken – also 2,2 Prozent aller städtischen Gesamtausgaben – für die Kultur eingesetzt. Zum Vergleich: In anderen Städten und Gemeinden betragen die durchschnittlichen Ausgaben für die Kultur bei 3,3 bis 3,7 Prozent des Gesamtbudgets. Die Stadt Winterthur liegt damit tiefer als andere Städte – was im Wahlkampf im Februar bei Kulturpodien immer wieder Thema wurde: Bemängelt wurde sowohl von der SP als auch von der Kulturlobby, dass in der neuen Kulturförderungsverordnung im Artikel 2 stehe: «Für den Erhalt und die Weiterentwicklung der Kulturstadt sind unter Berücksichtigung der finanziellen Leistungsfähigkeit der Stadt jährlich angemessene finanzielle Mittel einzusetzen.» Die Stadt sollte die Kulturausgaben dem Wachstum der Stadt anpassen – sie also erhöhen, damit sie vergleichbar sei mit anderen Städten und Gemeinden, schrieb die SP in einem Communiqué. Und die Kulturlobby merkte in einem Statement an, es sei mit Blick auf die Debatte im Stadtparlament zu hoffen, «dass sich hier eine konkretere Formulierung im Sinne einer Absichtserklärung» finden lässt, die Ausgaben an den Schweizer Durchschnitt anzunähern. Denn die Kulturförderung sollte etwas verbindlicher sein, ansonsten sei bloss zu hoffen, «dass die sogenannte ‹Angemessenheit› jeweils mit Bedacht definiert wird.»
Die Diskussion über die Kulturausgaben hat Nicole Kurmann selbst ins Rollen gebracht. In einem Bericht zur Kulturförderungsverordnung, die im Herbst 2021 als Entwurf an die politischen Parteien, die parlamentarische Sachkommission, die Kulturlobby, zahlreiche Kulturinstitutionen, das House of Winterthur, die Fachstelle Kultur des Kantons Zürich sowie die Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte für eine erste Feedbackrunde verschickt wurde, präsentierte sie die Vergleichszahlen zu den Kulturausgaben verschiedener Schweizer Städte. Eine Quote für die Kulturausgaben sei schlussendlich auch im Stadtrat diskutiert worden, allerdings wurde rasch das finanzpolitische Argument vorgebracht, dass kein Bereich der Stadtverwaltung aus der jährlichen Budgetdiskussion des Stadtparlaments herausgenommen werden könne, da die Kultur genau gleich wie der Sport oder das Soziale behandelt werde. «Dem Parlament steht es natürlich frei, nochmals einen Vorstoss zu machen», sagt die Leiterin des Amts für Kultur. Gleichzeitig weist sie auch darauf hin, dass es eine Herausforderung war, den Gesetzesartikel einerseits verbindlich, andererseits auch offen zu formulieren. Ein Gesetz könne nicht jährlich neu verhandelt werden, sondern sei für mindestens 10 Jahren gültig. «Aber wer weiss aktuell schon, was in 2 Jahren sein wird?», fragt sie und bemerkt: «Damit wir die zukünftigen Entwicklungen in der Kulturszene nicht von Unterstützungsmöglichkeiten ausschliessen, haben wir die Gesetzesartikel möglichst offen formuliert», sagt Nicole Kurmann.
Strategisches Weichenstellen
In dem Gesetz hat das Amt für Kultur auch Artikel formuliert, die zukünftige Entwicklungen vorwegnehmen. Es waren vor allem diese Artikel, die in der Vernehmlassung vom Stadtrat kritisch diskutiert wurden. Durch sie, so Nicole Kurmann, werden jedoch die Weichen einer Kulturförderung, die in die Zukunft wirken soll, gestellt. Da ist zum Beispiel der Artikel, dass Museen «als Orte der Bildung, der Erkenntnis und der Reflexion sowie der Sinnes- und Experimentierlust auszugestalten» seien. Die Stadt zieht hier explizit die Museen in die Verantwortung. Da sie mehrere Museen betreibe, könne sie hier eine Erwartung formulieren, die über den Kernauftrag, also «über das Sammeln, Bewahren, Erschliessen und Vermitteln» hinausgehe. Eine andere Vorwegnahme sei der Punkt zur sozialen Sicherheit von Kulturakteur*innen – ein Dauerbrenner, sagt Nicole Kurmann. Viele Kulturakteur*innen finanzieren sich ihren Lebensunterhalt mit Teilzeitjobs, das eigentliche kulturelle Schaffen ist kaum entlohnt. Zwar gibt es einzelne, die ihre Sozialleistungen selbstständig-erwerbend abrechnen können. Ein Grossteil könne das jedoch nicht. Es gebe zwar bereits Empfehlungen von Bund und Kanton, auf den Unterstützungsbeiträgen von mehreren 10'000 Franken Sozialleistungen abzurechnen, aber in der städtischen Kulturförderung werden nie so hohe Beiträge an einzelne Personen vergeben. In städteübergreifenden Arbeitsgruppen werden zurzeit Modelle diskutiert, mit denen die soziale Sicherheit auf lokaler Ebene gewährleistet werden kann.
Die Kulturförderverordnung bietet dem Amt für Kultur zudem ein Argument, Kulturinstitutionen bei der Professionalisierung zu unterstützen. In Zukunft können sie sich so bei der Unterstützung von Vereinen in prekären Situationen nicht nur auf eine Strategie, sondern sich auf ein Gesetz berufen. Denn was oft als selbstverständlich hingenommen wird: Alle Festivals, viele Kulturorte und -veranstaltungen sowie zahlreiche Projekte gibt es nur, weil einzelne Menschen sehr viel unbezahlte Zeit hineinstecken. Das ehrenamtliche Engagement ist es, was Winterthur in den letzten Jahrzehnten zu der Kulturstadt hat werden lassen, die sie heute ist. All das, was mit ehrenamtlicher Arbeit aufgebaut wurde, für die Zukunft zu erhalten, wird eine grosse Herausforderung für die Stadt. Ein Beispiel: Die Musikfestwochen durchzuführen, ohne dass ein bezahltes Büro-Team viel organisatorische Arbeit leistet, wäre heute nicht mehr möglich. «Wir versuchen stets auf solche Entwicklungen zu reagieren und unterstützen Vereine in solchen Transformationsprozessen», sagt Nicole Kurmann. Sie betont zudem: «Der Druck für die Kulturinstitutionen, sich zu professionalisieren, ist nicht eine Wahl, sondern ein Erfordernis. Denn nur schon die ganze Fundraising-Arbeit, die für das Beschaffen von Geldern für das Programm oder für die Umsetzung von Projekten, kann man heute eigentlich nicht mehr ehrenamtlich leisten.»
Sandra Biberstein leitet seit bald zehn Jahren die Redaktion des Coucou, arbeitet jeden Monat etwa 40 Stunden bezahlt und mindestens 100 weitere ehrenamtlich fürs Magazin. Sie würde sich wünschen, dass mehr Menschen das Coucou abonnieren. Denn auch ein Abo ist eine Form von Kulturförderung.