Licht und Schatten der 80er-Jahre

Licht und Schatten der 80er-Jahre

Die Winterthurer Ereignisse haben Spuren in den Leben der Beteiligten von damals hinterlassen und prägen diese teils bis heute. Auch die Stadt Winterthur begann sich zu verändern, durch äussere Einflüsse wie dem Ende des Kalten Krieges oder dem Niedergang der Schwerindustrie , aber auch durch die lokalen Kämpfe um Freiräume und alternative Lebensentwürfe. Acht Zeitzeug*innen erzählen von den Folgen dieser turbulenten Jahre und was davon geblieben ist.

Im Zuge des Oral History Projekts sprach der Historiker Miguel Garcia mit 13 Personen, welche die Geschehnisse in den 80er-Jahren in verschiedenen Rollen und aus unterschiedlichen Perspektiven miterlebten. Die Winterthurer Ereignisse bezeichnen eine Serie von Sachbeschädigungen und Brandstiftungen in Winterthur 1984, diese gipfelten in einer Razzia mit rund 30 vorübergehend Festgenommenen und dem Tod einer Aktivistin in Untersuchungshaft. Zum Abschluss der einjährigen Serie im Coucou werden Fragmente dieser Gespräche, die sich mit dem Vermächtnis der 80er-Bewegung in Winterthur befassen, zitiert und zusammengetragen. Wer sich für die Historien der einzelnen Personen interessiert, findet die ausführlichen Gespräche online und für alle zugänglich in der Datenbank des schweizerischen Sozialarchivs.


Wie haben euch eure Jahre als Aktivist*innen in den 80ern persönlich geprägt?


Reynald «Sirup» Braun (Aktivist/ Wintis):

In den drei Jahren, in denen ich auf den Bauernhöfen gelebt habe und weiss Gott wo, in diesen drei Jahren machen andere in dem Alter eine Lehre. Also habe ich mich gewollt oder ungewollt zu einem Untergrundmenschen entwickelt. Ich war ein gesuchter Aktivist und hatte immer mit Sympathisanten und Aktivisten im Ausland zu tun, das war eine sehr prägende Zeit. Wir waren am Anfang wie Berufsbesetzer. Wir haben so viel besetzt, wenn das Haus geräumt wurde und am nächsten Tag wieder leer stand, dann haben wir es gleich wieder besetzt. Nicht nur bei mir, auch bei anderen zeigte sich dann eine gewisse Müdigkeit, ein Frust. Eine Resignation auch, das Erhoffte ist nicht wirklich eingetreten. Und ja, die einen gingen ins Ausland, andere haben sich sonst abgesetzt und andere, alle auf ihre Art, sind dann in Berührung gekommen mit Heroin.

Robert «Popper» Schneider (Aktivist/ Wintis):

Ich bin immer noch dort, über so etwas kommst du nicht darüber hinweg. Ich meine, ich spüre jeden Tag die Folgen, noch heute. Die wollen immer noch Geld von mir, das ist halt die schweizerische Art, dich zur Sau zu machen. Sie geben dir eine Busse, die einfach zwei Mal dein Jahreslohn beträgt, dann noch Nebenkosten, die auch nochmals so hoch sind wie ein Jahreslohn. 40 Riesen wollten die damals für ihren Einsatz, für ihre Arbeit. Ich habe Lohnpfändung seit 40 Jahren auf das Existenzminimum.

Paco Manzanares (Aktivist/ Wintis):

Ja, also mich hat es zum Teil ganz stark aus der Bahn geworfen. Aber was dich nicht kaputt macht, macht dich stärker. Ich bin froh um diese Erfahrungen. Es ist einfach wichtig, dass die Leute zusammenhalten können. Ich glaube, von dem habe ich am meisten mitgenommen. Und auch dass nicht nur Freundschaften zählen, sondern auch gemeinsame Ziele. Dass man eben sieht, dass vielleicht zuerst ein Misthaufen produziert werden muss, dass daraus eine wunderbare Frucht oder eine Blume wachsen kann. Ich denke, es hat mir vor allem die Angst genommen. Ich bin vom Charakter her eher ein ängstlicher oder vorsichtiger Mensch, aber das hat mir den Rücken gestärkt. Ich lernte, zu mir zu stehen und ehrlich zu sein.

Trugen die Vorkommnisse der 80er-Jahre auch zu einem gesellschaftlichen Wandel in der Stadt bei? 

Andreas Mösli (Aktivist/ Musiker):

Das waren ja auch Veränderungen der weltpolitischen Lage, dass die Sowjetunion zusammenbrach und sich so die Situation etwas entspannte und sich gewisse Dinge begannen, neu aufzustellen und zu formieren. Dass die Leute etwas lockerer wurden, war eine globale – oder zumindest in Europa und den umliegenden Ländern – stattfindende Entwicklung. Schlussendlich hatte es positive Auswirkungen. Ich finde es allerdings einfach tragisch, wenn dabei gewisse Personen so unter die Räder kommen, da muss man sich am Schluss schon fragen, ob das der richtige Weg ist.

Kathrin Bänziger (Journalistin):

Ja, diese 80er-Jahre, die waren der Beginn eines Neuanfangs, dünkt es mich. Dort begann so ein bisschen die Aufweichung, der Aufbruch zu neuen Ufern. Das würde ich schon so sehen. Dort begann ja auch der Niedergang von Sulzer, das passierte ja auch in der Zeit oder hat sich zumindest in der Zeit angebahnt. Wir waren nicht mehr «Sulzer-Town», und «Sulzer-Town», das war ja irgendwie auch der Inbegriff des ganzen «Miefs». Die braven «Arbeiterli», die früh aufstehen mussten, um arbeiten zu gehen. Abends durften sie dann ja nicht zu lange in der «Beiz» sitzen, sonst hätten sie am Morgen nicht mehr auf gemocht. Die haben natürlich diese Enge auch ein wenig geprägt, die mussten arbeiten und funktionieren, daneben hatte es dann nicht viel Platz für anderes. Durch den Niedergang der Industrie gab es dann mehr Platz. Platz für andere Arten des Betriebs. Dienstleistungsbetriebe öffneten und brachten einen neuen «Groove» in die Stadt, die haben natürlich auch mitgeholfen bei dieser Entwicklung zu einer anderen Stadt oder zu der Stadt, die wir heute haben.


Welche politischen Folgen hatten die 80er-Jahre für Winterthur?

Kathrin Bänziger (Journalistin):

Es wurde schon offener, zum Beispiel hat der damalige Stadtpräsident Urs Widmer dann eingesehen, dass man auch die alternative Kunst fördern müsse. Es geschah sukzessive, einfach eher ein bisschen spät, Winterthur ist immer ein wenig hinterhergehinkt. Aber die positiven Entwicklungen, die kamen. Die Grünen spielten plötzlich eine Rolle, man konnte Grünräume erhalten mit Initiativen, man konnte sich gegen Überbauungen, gegen Abbrüche wehren. Den «Chrugeler» (Quartier in Winterthur Töss) wollten sie ja kaputtmachen mit einer spekulativen Überbauung des gesamten wunderschönen Quartiers, dort konnte man sich dagegen wehren. Die SP war eigentlich schon immer ein fester Wert in dieser Stadt, aber sie hat dann auch an Boden gewonnen. Dann kamen die Grünen noch dazu und so hatte man dann sukzessive das Gefühl, das diese Stadt doch nicht ganz verloren sei.


Walter «WAL» Frei: (Aktivist / Künstler)

Man kann sagen: «Ja, es ist ein bisschen was passiert», aber wenn wir bei den Mieten hinschauen, bei den Wohnungen, beim Verkehr, dann ist halt einfach nichts passiert. Das sind Prozesse, wenn man das politisch nicht hinkriegt, wie will man das als kleine Gruppierung schaffen. Klar, ich wäre froh gewesen, wenn diese Zeit noch mehr positive Auswirkungen gehabt hätte. Zum Beispiel auf den Verkehr, auf das Wohnen, in Bezug auf Gewalt, da wäre ich froh, wenn dort mehr gegangen wäre, aber es waren nur kleine Auswirkungen. Man konnte ein wenig an der Liberalität der Gesellschaft schrauben und mehr konnte man eigentlich nicht tun. Jetzt ist halt die Frage, wie es weitergeht, wann sie wieder anfangen, die Schraube anzuziehen, das wissen wir ja alle nicht. Es bleibt nicht so, wie es jetzt ist, das ist ja mal klar. Es gibt immer Veränderungen und es ist immer wieder wichtig, dass Leute aufstehen, hinstehen und sagen, was sie denken.


Was war in den 80er-Jahren stärker ausgeprägt als heute?
Andreas Mösli (Aktivist/ Musiker):
Ich habe das Gefühl, heute ist vieles auf einzelne Punkte konzentriert, mir fehlt dabei allerdings so ein wenig das Ganze. Das war in dieser Zeit bestimmt noch etwas stärker vorhanden, dass man die Welt als Welt verändern wollte, und nicht theoretisch auf einzelne Punkte losging, während man dabei den Rest vergisst. Das ist schon ein wesentlicher Unterschied zu heute, was ich schade finde. Die ganze Solidarisierung mit der Dritten Welt und so, das vermisse ich ein wenig.

Jürg Feuz (Aktivist / Wintis)

Heute ist alles stärker reguliert, alles muss geregelt sein. Ich glaube, auf dieses Thema bezogen ist die Gesellschaft heute hoffnungsloser als 1976 oder 1979. Damals hat man daran geglaubt, dass man diese Gesellschaft wirklich verändern kann.

Was ist von den 80er-Jahren noch übrig geblieben in Winterthur?

Jürg Feuz (Aktivist / Wintis):
Viele Dinge haben überlebt. Der Widder hat überlebt, trotz aller Krisen, die «Gisi» gibt es immer noch, der Hako hat überlebt, der Stadtfilter hat auch sehr gut überlebt. Diese alternativen Jobs gibt es immer noch, bei den Wohnformen gibt es heute sogar mehr Genossenschaften, auch kleinere. Es hat sich schon ein gewisser Boden etabliert auch hier in Winterthur, mit kollektiv organisierten Kulturräumen wie dem Kraftfeld oder dem Gaswerk.

Regula Munz (Aktivistin / Politikerin)

Ich glaube, die Stadt Winterthur wurde damals stark aufgerüttelt. Das war ein guter Schock, aus dem heraus dann auch viele Leute erwacht sind. Es war ein nötiger Schock, wie dass eigentlich auf jugendliche Provokation mit einer solch massiven Staatsgewalt, mit einer tödlichen Staatsgewalt reagiert wurde, das hat die Stadt, die Stadt Winterthur extrem aufgerüttelt. Es ist schon eine andere Kultur entstanden, in der es auch gewollt ist, dass das Neue und Unkonventionelle demokratisch seinen Platz hat. Da wurden schon Anstrengungen unternommen, dass all diese sozialen Themen, diese Frauenthemen, die Umweltthemen, dass die alle einen Platz haben. Ich glaube, das hat der Stadt Winterthur extrem gutgetan. Es entstanden auch viele tolle Projekte, das Radio Stadtfilter, das kam ja alles nach mir. Gerade gestern war ich im Kino Cameo, all diese Dinge, das ganze Sulzerareal, das Quartier, wie das genutzt wird, das ist super.

GELEBTE GESCHICHTE
Das Oral-History Projekt sorgt dafür, dass die Erfahrungen der Zeitzeug*innen der Winterthurer Ereignisse ungefiltert und für alle zugänglich überliefert werden können. Alle Interviews können unter www.bild-video-ton.ch in der Datenbank des schweizerischen Sozialarchivs eingesehen werden.

JULIEN FELBER
Ist Journalist und Fotograf aus Winterthur. Im Rahmen einer Semesterarbeit begann er zu den Winterthurer Ereignissen zu recherchieren, ohne zu wissen, dass ihn dieses Thema weitere zwei Jahre begleiten wird.

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