Und die Wolken stehen still

Vermutlich jede*r Winterthurer*in hat einmal die Empfangshalle des Kantonsspital Winterthur betreten. Meist für nur wenige Minuten. Trotzdem ist der Ort immer wieder einen Besuch wert.

An den Kiosk kann ich mich noch entsinnen: Gefüllt mit allerlei Verlockungen für mich als sechsjährigen Jungen war er damals – und genau so steht er heute noch am selben Ort. Sogar die Magazinregale sind noch gleich angeordnet. So sagen es mir jedenfalls meine Erinnerungen, die ich während der vielen Besuche hier in meiner Kindheit gesammelt habe. Irgendwie passte er für mich nie ganz in die Empfangshalle des Kantonsspital Winterthur. Die schrillen Hefte, die glitzernden Ballons und die bunten «Gute Besserung»-Karten wirken seltsam unecht in der weissen und sterilen Umgebung des Krankenhauses. Wahrscheinlich mochte ich ihn darum so sehr.

Auch heute muss ich schmunzeln, als ich den Kiosk nach vielen Jahren unverändert vor mir sehe. Selbst der momentane Umbau scheint ihn nicht zu tangieren. Ich setze mich daneben auf eine Bank, welche auch genauso gut an einer Bushaltestelle stehen könnte. Dieser Ort ist gemacht zum Vorübergehen, zum zeitweiligen Warten – nicht zum Verweilen. Nicht-Orte wie Flughäfen, Bahnhöfe oder auch Einkaufszentren, die geschaffen wurden für spezifisch humane Zwecke. Es sind Orte, welche wir in unserem Alltag meist nicht bewusst wahrnehmen, solange die Umgebung unseren Erwartungen entspricht. Und so bewegt sich alles um mich herum in beständigem Kommen und Gehen. Eilende Ärzt*innen, herumwandernde Patient*innen und orientierungslose Besucher*innen. Nur die auf den Deckenlampen aufgedruckten Wolken bewegen sich nicht und versuchen das zu ersetzen, was durch den Umbau am meisten fehlt: Der Blick aus einem Fenster. Tatsächlich lässt sich nur schwer einschätzen, was sich draussen gerade abspielt. Egal, ob es regnet, hagelt, stürmt oder schneit, die Empfangshalle ruht in gleichbleibender Beständigkeit. Einzig die Kleidung der Vorübergehenden gibt vage Hinweise auf eine Aussenwelt, während der Ort selbst sich den Parametern von Raum und Zeit entzieht – vielleicht fühlt sich so Unendlichkeit an.

Ein Mann kauft seinem Sohn die neueste Ausgabe von «Feuerwehrmann Sam». Eine Tafel Schokolade fällt aus dem Selecta-Automaten und verschwindet in der Tasche einer älteren Frau. Rollstühle und Koffer rattern auf dem geplättelten Fussboden in Richtung Ausgang. Die beiden Damen am Kiosk kichern über eine Geschichte, die gerade ein Kunde erzählt hat. Der Herr am Empfang weist einer Besucherin den Weg zur Sonnenterrasse. Ein Mann setzt sich mit seinem Infusionsständer neben mich. Sein Überwachungsgerät pfeift und blinkt in kurzen Abständen rot auf, was mir etwas Sorgen bereitet. Die Gelassenheit des Mannes und der Fakt, dass auch nach fünf Minuten noch kein Ärzteteam angerannt kommt, beruhigen mich jedoch ein wenig.

Man spürt, dass man als gesunder Mensch nicht hierhergehört. Ich möchte nicht sagen, dass die Empfangshalle abweisend wirkt. Im Gegenteil: Der Raum ist hell, das Personal grüsst freundlich, ab und an wird sogar gescherzt. Und doch halten sich alle Besuchenden natürlicherweise an die unsichtbaren Regeln dieses Ortes. Es wird nicht laut gesprochen, es wird zielgerichtet von A nach B gegangen, und gesunde Menschen betreten das Gebäude nur mit einem festgelegten Vorsatz: Sei es Geldverdienen, die Geburt eines Kindes oder auch eine medizinische Abklärung. Jeder Raum stellt seine eigene Ordnung auf. Eine Mischung aus architektonischen Gegebenheiten und sozialen Normen. Sobald man sich diesen zu entziehen versucht, beginnt sich der Raum zu wehren. Oftmals auf subtile Weise, durch ein Gefühl, dass man irgendwie falsch ist hier. Wie wenn man ohne Flugticket an einem Gate warten würde. Auch die Empfangshalle teilt mir unweigerlich mit, dass ich hier fehl am Platz bin. Ich fühle mich jedoch keineswegs bedrängt – sondern vielmehr bestätigt.

Ich stehe auf und bewege mich in Richtung Ausgang, hinter mir verklingt langsam das Pfeifen des Überwachsungsgerätes. Ich stelle mir vor, wie der Mann mir kurz hinterherblickt, bevor er sich wieder den anderen Vorübergehenden zuwendet. Als ich nach draussen trete, blendet mich das Licht der Sonne, während kleine Wolken am Himmel vorbeiziehen. Ich bin mir sicher, dass mich dieser Ort das nächste Mal willkommen heissen wird.

 

«Weisch, det vorem Manor.»
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