Ja, sie machen einen zu etwas Geworfenem, das auf die manifest gewordene Entwurfsskizze zufliegt. «Überhebliche, demütigende Gebäude!», könnte man anklagend ausrufen, ebenso gut könnte man sagen: «Ideale Gebäude, die bescheiden und demütig stimmen!» Demütig sah auf jeden Fall die alte Frau aus, die sich neben mich auf die Bank setzte, als ich zum ersten Mal, aus reiner Schaulust, in die St. Peter und Paul Kirche ging. Das Gespräch, in das sie mich verwickelte, brachte mir einmal mehr zu Bewusstsein, dass jeder der Fremden, die einen tagtäglich umgeben, eine Stimme besitzt, die ihn dazu befähigt, Ansichten mitzuteilen. Ansichten, aufgrund derer man das Gefühl bekommt, dass das Leben, aus dem diese Stimme heraus spricht, sich auf einem unbekannten Kontinent abspielt. Einem Kontinent, der irgendwo in der Nähe ganz fern hinter den Ecken dieser Stadt verborgen liegen muss und den man aller Wahrscheinlichkeit nach niemals entdecken wird.
Inzwischen habe ich fast alles von diesem Gespräch vergessen, aber dass sie sagte «dieser Ort ist erbaulich», daran erinnere ich mich noch immer. Ihr verdanke ich also diesen dunklen, mich heimsuchenden Gedanken, den die St. Peter und Paul Kirche steinern verkörpert; diese Erinnerung, die über die Zeit hinweg mein und ihr Inneres mit den Farben des christlichen Geheimnisses namens ‹Erbaulichkeit› übermalt hat und die behauptet: «Ey, hier ist etwas, das du niemals wirklich kapieren wirst!» Aber diese Stimme gewordene Vergangenheit lügt! So leicht kriegt sie mich nicht dran, denn ich bin clever genug, ihr hier und jetzt mit diesem Text ein Heim zu bauen, in das sie gefälligst einzuziehen hat. Ich erwidere also: «Keineswegs kann diese christlich-geheime Erfahrung den Heiden, Satanisten, Abgefallenen, Ungläubigen, Hipstern, Punks, Ravern, Alternativen und mir ganz unzugänglich sein!» Dieses dunkle, sakrale Gefühl der Erbaulichkeit muss irgendwie im profanen Staunen weiterleben – wenn auch nur als erstaunliche Mischung aus Schönheit und Leere. Wie liesse sich sonst die Masse an Reise-Blogs erklären, die gotische Kirchen und Kathedralen preisen? Klar, wenn man über die Winterthur-Tourismus-Websites surft, dann sieht man, dass unsere von Wilhelm Friedrich Carl Bareiss entworfene neogotische St. Peter und Paul Kirche in der Bewertung ihrer ‹Sehenswürdigkeit› nicht unbedingt gut abschneidet. Daher mag mancher behaupten, es sei überheblich, sie neben den Kölner Dom, die Kathedrale von Reims oder Notre-Dame zu stellen. Aber auf die können wir pfeifen! Peter und Paul ihr seid unsere Dame! Du weinselige Winterthurer Katholikin liegst hinterm Bahnhof wohlig eingebettet im nüchternen Schützenwiesen-Jubel, der mit jeder Minute nach Spielanpfiff mehr und mehr ins feuchtfröhliche Gegröle überschwappt. Der Beifall steht dir gut! Hoch die Gläser! Auf die Fialen, die dein Haupt krönen! Auf die Glocken deines Kirchturms! Auf deine beiden prächtigen, bunten Rosenfenster! Die Seraphim singen dir Lieder! Und Asrael, Michael, Raphael, Gabriel und Odin, Loki, Thor und Jupiter, Mars, Venus und Buddha und Shankaranarayana und Cthulhu stimmen zusammen mit den FCW-Fans ein!
Okay, okay, okay, das war vielleicht ein bisschen überrissen. Ich fahr den Enthusiasmus zurück, will aber doch anfügen, dass sich in ihm zumindest die Feierlichkeit spiegelt, die damals der Bau dieser katholischen Kirche im reformierten Kanton Zürich bedeutete. Ich meine, sogar der Dichter Gottfried Keller kam zur Eröffnung, und nach dem ist hier immerhin eine Strasse benannt. Na gut, das ist nicht gerade ein Alleinstellungsmerkmal … C.F. Meyer, J.C. Heer, M.S. Kübler, U. Hegner, A. Corrodi, H. Bosshard und F. Schiller. Trotzdem ziehe ich jetzt das Fazit: Die St. Peter und Paul Kirche ist erbaulich! Doch, doch, das kann man so sagen. Wer das nicht glaubt, der soll sich nur einmal lange genug davorstellen. Früher oder später bekommt man Bauchgefühle oder zumindest Hunger, versprochen! Ich habe das probiert und auf dem Heimweg – im Bus – ging mir dann sogar ein Licht auf: Die Pantographen (ihr wisst schon, die Stromabnehm-Dinger zwischen den Leitungsdrähten und den Linienbussen) und die dem Kirchgewölbe aufgemalten Sternblumen haben etwas gemeinsam. Beide sind Verbindungsstellen, die den Strom fliessen lassen. Nur verbinden die Sternblumen im Gewölbe der Kirche halt Himmel und Erde. Die meisten, die in unsere Dame eintreten, zählen wohl zu den Leitfähigen, nur halten halt nicht alle von ihnen die Bibel für ein Kraftwerk. Und daher sprechen manche von heiligem Licht, sonntäglicher Genesis-Wiederholung, ausserweltlichem Raum und andere von schönem Licht, Abstand vom Alltagslärm, einer unzeitgemässen Einrichtung – die ja auch echt charmant ist, so wie Briefe, Schallplatten, 35mm-Filme oder Modem-Knistern. So brabbelten also ich und die alte Frau von damals in gleich klingenden und doch verschiedenen Sprachen vor uns hin und aneinander vorbei und verstanden uns manchmal und manchmal nicht. Vielleicht entwickelten wir so ein wenig mehr Verständnis für dieses grundsätzliche Unverständnis zwischen uns. Und beim Blick um die Ecke erspähten wir flüchtig einen der fremden Kontinente, die wir täglich unbemerkt passieren.