Windstill. Nicht kalt. Nicht warm. Der trockene Kies auf dem Waldweg knirscht unter meinen Schritten. Ansonsten herrscht vollständige Ruhe. Nicht einmal das Knacken eines Zweiges oder das Rascheln von Laub ist zu hören.Ich richte meinen Blick dorthin, wo mich mein Weg hinführt. Bergauf. Zu ihm. Ihm, der wartet. Nein, er wartet nicht, er thront. Dunkel. Stumm. Herausfordernd. Je näher ich ihm komme, desto grösser sind die Schmerzen, die er in Körper und Geist zu verursachen scheint. Und trotzdem ist wieder einmal die Zeit gekommen, mich mit ihm zu konfrontieren. Ich laufe los.
Ich setze die Kopfhörer auf und durchbreche die Stille mit einem krachenden Deutschrap-Beat. Es beginnt. Mit kräftigen Schritten stosse ich die Erde von mir weg, und mich selbst vorwärts. Was ich vor lauter Motivation bequem verdrängt habe, ist, dass ich am Wochenende erst gerade noch an einem Festival war. Mein Körper ist daher koordinativ noch nicht ganz in Laufstimmung. Noch kein Lied ist vergangen, und er lässt mich das bereits wissen. Ich komme falsch auf dem Boden auf. Mein Fuss protestiert. Schmerz. Aber der ist bald verflogen, und ich laufe trotzdem.
Noch liegt mein Ziel im Wald verborgen. Doch bereits jetzt kann ich seine Präsenz fühlen. Es übt eine Kraft aus, die mich mit jeder Minute stärker zurückzuhalten scheint. Er lässt meine Beine schwer und meine Haltung krumm werden. Und auch im Kopf manipuliert er mich. Reizt mich mit Gedanken an die süsse Faulheit, die bei einer Umkehr auf mich warten würde. Doch faul bin ich heute schon viel zu lange gewesen.
Ein paar Lieder später meldet sich mein Kater zurück. Dieses Mal lässt er meinen Gleichgewichtssinn zwar in Ruhe, nimmt sich aber stattdessen meine Lunge vor. Husten und Seitenstechen kündigen sich an. Ich widerstehe lange, doch als ich dem Hustenreiz endlich nachgebe, scheuche ich damit prompt ein Reh auf, das nun vor mir über den Weg springt.Vor lauter Schreck vergesse ich fast zu husten. Ablenkung bietet auch die Umgebung. Stetig wird der Wald um den Weg herum dichter. Nadeln lösen Laub ab. Dunkelgrün-braun ersetzt hellgrün-gelb. Ein harziger Geruch liegt in der kühlen Luft. Das Brennen in den Beinen wird stärker. Noch dieses Waldstück, dann wird der Showdown langsam Tatsache. Die Zweifel im Kopf werden lauter. Und ich laufe trotzdem.
Die finale Gerade ist erreicht. Auf den letzten Metern der Steigung kommt er in Sicht. Zwischen Ästen und Blättern erhasche ich einen ersten Blick. Starr, geräuschlos, irgendwie lauernd steht er da. Und entgegen jeder Logik scheint mich die Müdigkeit und Hoffnungslosigkeit immer stärker zu übermannen, je mehr die Steigung meines Weges abnimmt. Mit jedem Schritt scheint er noch grösser zu werden.
Die letzten Meter. Die Lichtung tut sich vor mir auf, und als ich meinen Blick nach oben richte, präsentiert er sich erstmals in seinem ganzen Ausmass. Ich überhole einen langsameren Jogger auf dem Weg zur ersten Treppenstufe. Peinlich, wenn ich jetzt noch abbräche. Nun muss ich da hinauf. Schon die erste Stufe brennt im Oberschenkel. Und ich laufe trotzdem.
Ein Fachwerk-Gerüst aus Stahl. 30 Meter hoch, 130 Jahre alt. Im Sommer ist er Ausflugsziel für Wanderer und Familien, Quelle von Freude und Bewunderung, Impuls für Neugier. Zur Weihnachtszeit wird er von 48 Freiwilligen bewacht, um Suizide zu verhindern. Im Quartier am Waldrand, wo ich herkomme, wissen die Leute schon im Kindesalter von diesem unheimlichen Gegensatz. Wahrscheinlich war der Moment, als ich von diesem erfuhr, sogar mein erster Kontakt mit dem Konzept des Selbstmordes.
Deshalb hatte der Eschenbergturm für mich immer einen starken Charakter. Er schien dank dieses Kontrastes irgendwie mehr als ein einfaches Objekt zu sein. Er schien lebendig. Und doch war diese Lebendigkeit immer jenseits einer jeden Moral. Der Turm war nie gut oder böse. Er war einfach da oben, gebend und nehmend gleichermassen. Und diese neutrale Unerbittlichkeit ist es, die ihn zum perfekten Endgegner meiner Joggingrunde macht.