Rückblick auf zwei der grossartigsten Konzerte Sommer 2022

Rückblick auf zwei der grossartigsten Konzerte Sommer 2022

Die Musikfestwochen 2022 haben gerade begonnen. Ein guter Moment, um auf zwei der grossartigsten Konzerte die man diesen Sommer bereits erleben konnte, zurückzublicken: Neutral Zone am Postierest und No Me Coman am Eidberger

Neutral Zone am Portier-Fest (16.07.2022)

 

«Drüben hinterm Portier steht ein Leiermann und mit bunten Knöpfen macht er, was er kann.»



In dieser Vollmondnacht blinken hunderte grüne, rote, blaue Lämpchen vor einer gelben Backsteinmauer. Sie gehören zu den beiden Elektro-Leierkästen, an denen ein Musiker, gehüllt in einen weissen Kittel, mit Sounds und Beats experimentiert: Tasten werden gedrückt, Regler verschoben, Knöpfe gedreht. Während er Zigaretten verpuffen lässt, laufen die Modularsyntheziser heiss. Hat ein verrückter Wissenschaftler den Lagerplatz in Beschlag genommen? Nein, eher einen märchenhaften Tüftler. Er wird unterstützt von drei wippenden Teddybären, die mit auf der Bühne stehen. Da diese drei flauschigen Tänzer das Online-Profil der Band «Neutral Zone» dominieren, könnte man beinahe annehmen, dass sie die eigentliche Band sind. Wäre also der Musiker, der um sie herumschleicht und den Sound produziert, eigentlich ihr Helfer? Jener Musiker, der seit mehr als 20 Jahren in der Winterthurer Musikszene aktiv, auch bekannt unter dem Namen Admiral James T. und Teil von Howlong Wolf ist … jener Musiker namens David Langhard? Nun, ich vermute mal, in der Band gibt es keine Hierarchien. Während das wippende Teddy-Bären-Trio das Publikum animalisch animiert, die wabernden Licht-Leierkästen es hypnotisiert, sucht der weisskittlige Tüftler nach jener Klangmixtur, die es in Schwingung versetzt. Der Sound klingt so abgespaced als würde man die Alien- und Dinosaurierdeko, die in den letzten Jahren die Kraftfeld- und Salzhaussommerbar zierten, in der ganzen Stadt verteilen – oder so ähnlich.

Tatsächlich verwandelt das Publikum sich durch ihn und angesichts dieser Bühne, die als Kulisse für einen 1970er-Jahre Raumschiff-Film taugen würde, langsam in einen tanzenden Schwarm. Die Kinder, Jugendlichen, Tweens, Dreissiger*innen, junggebliebenen Alten, Silberhäupter, Geister und so fort: Hier verbinden sich verschiedene Generationen ungezwungen im Tanz. Das gelingt heute nur noch selten. Die Musik transformiert hier, fast schon utopisch, für ein paar Augenblicke lang das Miteinander. Und man mag an Jean-Luc Godards Sci-Fi-Film «Alphaville» denken, in der die unvergleichliche Anna Karina ein Gedicht vom unvergleichlichen Surrealisten Paul Éluard vorträgt: «Deine Augen sind heimgekehrt aus dem Lande der Willkür. Einer Ebene, in der nie jemand erfahren hat, was ein Blick bedeutet.»

Unabhängig von diesen poetischen Gedanken kommt mir, ganz prosaisch, bei den blinkenden Maschinen auch ein Begriff aus der Filmwissenschaft in den Sinn: «Kino der Attraktionen». Er wird verwendet, um das frühe Kino zu beschreiben. Ende des 19. Und Anfang des 20. Jahrhunderts strömten die Leute nicht nur in die proletarischen Kintopps und die fahrenden Jahrmärkte, um dort kurze Filme zu sehen, sondern auch, weil der Projektionsapparat selbst eine Attraktion war. Es ging also noch nicht um erzählerische Komplexität, ausgefeilte Figuren oder geistige Kontemplation. Es ging um körperliche Attraktion. Um etwas Viszerales, die Eingeweide, die Bauchgefühle betreffendes.

Bei den Auftritten von Neutral Zone fasziniert nicht nur die elektronischen Beats, sondern ebenso die Maschine, die sie hervorbringt. Die Maschinen, diese Licht-Leierkästen, bilden dabei selbst einen Vorschein, lassen von einer Zukunft träumen, in der man bei Maschinen Freude bereiten. Eine Welt, in der Maschinen nicht den Jobverlust durch Automatisierung, den Raubbau der Natur, Massentierhaltung und die anderen – sagen wir verharmlosend: – «unschönen» Zusammenhänge in Erinnerung rufen, in den Maschinen im gegenwärtigen Wirtschaftssystem auch stehen.

 

 

No Me Coman am Eidberger (09.07.2022)

 

Der Tag ist windstill, der Himmel wolkenlos, die Julisonne brutzelt die Landschaft. Es ist, als läge die ganze Stadt unter einer Käseglocke. Alles schmilzt. Mein Körper, meine Haare, meine Haut schmelzen, während meine wachsweichen Beine mechanisch in die Pedalen treten und meine Schweissporen in Akkord arbeiten, um mein luftiges Hemd zum Triefen zu bringen. Bei heissem Wetter wird selbst die Zeit viskös. Jede Minute zieht sich zäh hin.

Ich radle mit dem Fahrrad an Oberseen vorbei, hinauf ins Hügelland. Ziel: das Eidberger Openair. Konkreter: das Konzert von No Me Coman.

Ich komme gerade rechtzeitig an, wabble erst einmal über die Wiese, hin zu den Brunnen, die in der hintersten Ecke des Festivalgeländes neben den Toilettenwägen stehen. Das kalte Wasser, das über meinen Kopf fliesst, verdichtet mein Fleisch wieder ein wenig. Ich bin bereit. Denke ich. Kurze Zeit. Dann stehe ich schon vor der Bühne und No Me Coman fängt an. Die Musik reisst meinen Körper wie die der anderen mit sich. Wir beginnen zu schmelzen. Diesmal sind es nicht die Sonnenstrahlen, sondern die Soundwellen, die die Partikel unserer Biomasse auflockern. 1905 entdeckte Albert Einstein mit seiner Formel E = mc², dass Masse und Energie äquivalent sind. Er hat das mathematisch bewiesen. Heute können wir an ein No-Me-Coman-Konzert gehen und es mit eigenen Augen sehen. Es gibt in Winterthur – und dem Rest vom Kosmos – kein zweites derart energetisches Gespann. Galoppierende Schlagzeugbeats werden hier gejagt von Gitarrenriffs. Die Band hat ihren Sound gefunden. Psych, verzerrt, schnell – aber weit entfernt von generischem Punk. Ein Sound, der so verrückt ist wie eine Sommernacht, in der man fünf Shots im Widder ext, um dann einradfahrend in der Steibi Feuer zu spucken und zuletzt nackt im Judd-Brunnen zu landen – oder so ähnlich.

Sie spielen «The Waves Are Back», «Won’t Forgive Nor Forget» und «Nos Quieren Callar». Songs von der im Oktober 2019 veröffentlichten Platte «The Tide». Bei ihrer Taufe im Kraftfeld schwebte über der Band ein riesiger Pappmaché-Krake. Einen solchen blutroten Riesenkraken sieht man auch auf dem Albumcover von «The Tide». Er verschlingt dort Häuser, als wäre er der Immobilienmarkt. Der Bandname No Me Coman scheint sich direkt an ihn zu richten. Der spanische Satz heisst so viel wie «Iss mich nicht». Aber handelt es sich hier wirklich um eine Bitte? Dieses «Iss mich nicht», dass dem Kraken entgegengehalten wird, ist genauso listig wie die Antwort, die Odysseus dem Zyklopen Polyphem gibt, als dieser nach seinem Namen fragt. «Niemand» sagt Odysseus. Als er dann dem Zyklopen das Auge aussticht und flieht, kommen die anderen Zyklopen daher, fragen Polyphem, wer ihm das angetan hat, und der sagt bloss immer wieder «Niemand». Die so entstehende Verwirrung verschafft Odysseus und seiner Gruppe genug Zeit, um zu entkommen. Es war stets die List, die den Schwächeren half, die mythischen Mächte zu besiegen – das lehrt fast jedes nicht von Disney verfilmte Märchen. Mit anderen Worten, wenn No Me Coman zu dem Kraken sagt «Iss mich nicht», dann, denke ich, ist das eine genauso listige Antwort. Denn wenn der Riesenkrake sie dann frisst, wird er von innen gekocht werden, sobald die Fünf in seinen Innereien ihre Musik anstimmen und die Temperatur hochschrauben.

 

 

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