(Ab-)Stimmen
«Mächtige Festung / Man sagt innen goldig-blau /Weiss nicht, war nie drin» (Stadtkirche, Eydu von Dino Lappert). Blau, Dino, sind die Innenwände der Stadtkirche, Gold habe ich nicht viel gesehen. Aber vielleicht musst du selbst einmal reingehen, um das Hörensagen bestätigt zu sehen oder verwerfen zu können. Sehenswert ist das bunte Licht, für das die Glasmalereien sorgen. Die Wände sind mit schlicht stilisierten, biblischen Figuren bemalt. Der Raum ist so hoch, dass sich die Leere bemerkbar macht. Allen lauten Klängen antwortet ein Echo. Die Abwesenheit ist immer anwesend, hier kann man nicht allein sein. Diese ganze bauliche Inszenierung von Sakralität wirkt auf alle Nicht-Kirchengänger*innen einfach wie ein ästhetisches Schauspiel – es ist doch faszinierend, was sich Menschen fantasieren und errichten können. Der riesige Jesus über dem Chor und all die Heiligen an den Wänden beobachten uns, als wir in den parallel zueinander aufgereihten, alle Blicke nach vorn ausrichtenden Bankreihen Platz nehmen. Dann tritt jedoch kein Prediger auf die Bühne. Keine Messe wird gehalten. Kein Amen wird gesagt. Stattdessen nehmen die Mitglieder von Nadja Zela & The Royal Poodle Force Choir ihre Instrumente zur Hand. Die Band spielt. Ruhige Klänge füllen den Raum. Ein Song, der mich fasziniert besonders beginnt damit, dass E-Gitarre und -Bass als Perkussionsinstrumente verwendet werden. Überhaupt passiert auf instrumentaler Ebene einiges Interessantes. Vielleicht liegt es nur an den unbequemen Kirchenbänken, aber erst zum Ende hin denke ich «Puh, das ist jetzt der letzte Song», aber dann kommt noch einer und dann noch einer, bevor wirklich Schluss ist. Was dem Konzertort an Atmosphäre zugunsten kommt, fehlt ihm an Komfort. Auch auf die musikalischen Elemente wirkt der Ort sich aus. So assoziiere ich beispielsweise die Leute, die den Background-Gesang machen, mit einem Kirchen-Chor. Dabei fällt mir aber auch der Unterschied zwischen beiden auf. Im klassischen Chor, wie ich ihn aus der Schulzeit kenne, gibt es verschiedene Gruppen – Bass, Bariton, Tenor, Sopran – die verschiedene Gesangslinien miteinander interagieren lassen, dabei aber keine Solostimme unterstützen. Beim Auftritt der Band hingegen steht eine Stimme im Vordergrund und die Backgroundstimmen haben eine unterstützende Funktion. Mir fällt auf, dass die Idee, das eine Stimme im Vordergrund steht und andere dazu dienen, sie zu unterstützen, mir nicht besonders gefällt. Vielleicht ist dieses Ge- oder Missfallen auch eine politische Frage beziehungsweise die Frage danach, wie sich politische Formen in Kunst reflektieren lassen: In was für ein Verhältnis treten die Stimmen zueinander, welche Rolle kommt ihnen zu, was für ein Ganzes entsteht dabei? Gibt es ein Solo-Genie, dem andere Stimmen mit- oder nachsingen; Chor-Gruppen-Stimmen, die aufeinander abgestimmt singen; ein Free-Jazziges Gemurmel aus Solo-Stimmen, bei dem jede*r für sich und doch mit allen anderen singt; und so weiter. Es sind letztlich sicher auch dergleichen Überlegungen, die eine Perspektive eröffnen, aus der heraus happening-artige Arten Musik zu machen, eine Faszinationskraft erhalten.
(Vor-)Wort und Musik
Nach dem Konzert sind einige Leute merklich niedergeschlagen. Das Konzert hat sie mitgenommen – in traurige Bereiche. Etwas in ihnen aufgewühlt. Später erfahre ich, dass die Sängerin mit dem Album, das vorgetragen wurde, den Tod ihres Mannes verarbeitet hat. Während ich diesen Text hier schreibe, schlage ich die Musikfestwochen-Internetseite auf und sehe, dass man diese Info auch in der Beschreibung findet.
Wie hängt die Erwartung, die eine Bandbeschreibung schafft, und die Wirkung des Hörerlebnisses zusammen? Ich persönlich fand die Musik spannend, doch traurig hat mich das Konzert nicht gestimmt. Aber vielleicht hätte es das, hätte ich in der Bandbeschreibung jene Sätze gelesen: «Nach dem unerwarteten Tod ihres Mannes rang sie (Nadja Zela) zwei Jahre lang um die Wiederkehr ihrer Stimme, die vor Trauer und Schock verstummt war. In dieser Zeit entdeckte sie Musik aus diversen Genres zum Thema Tod und beschloss, selbst ein Requiem zu schreiben.» Die Worte schaffen eine kleine Erzählung, wenn man so will ein «Vorwort», das meine Erwartung prägt. Das heisst hier konkret, das Vorwort prägt die Art und Weise, wie ich mich darauf einstelle, ein Ereignis – in diesem Falle ein Konzert in einer Kirche – zu erleben. Naheliegenderweise sind hier drei Verhältnisse zwischen Vorwort und Ereignis denkbar: 1) Das Ereignis scheint das Vorwort zu bestätigen: «Wirklich, das ist traurig! Genau so fühle ich mich!» 2) Das Ereignis scheint das Vorwort zu enttäuschen, das Vorwort wird verworfen: «Das tönt gar nicht traurig! Trauer ist etwas anderes.» 3) Das Ereignis scheint das Vorwort zu enttäuschen, doch es wird nicht verworfen, sondern seine umdefiniert: «Das ist gar nicht traurig! Oder doch? Vielleicht hatte ich bisher eine falsche Vorstellung von Trauer und dieses Ereignis ist ein Beispiel dafür, was Trauer auch sein kann.» Für welche dieser Reaktionen – und es gibt sicher noch mehr – jemand sich entscheidet, hängt ab davon … Ja, wovon eigentlich? Ich könnte schreiben, vom persönlichen Befinden oder von der eigenen Biographie, kurz von etwas Psychischem. Aber dann, wiederum, wäre es nicht verfehlt, zu glauben, dass dieses Psychische nicht weitestgehend von gesellschaftlichen Faktoren abhängt? Welche sozialen Rollen bietet eine Gesellschaftsstruktur den Individuen an, um sich in ihnen wiederzufinden? Welche Tätigkeiten kursieren in der Gesellschaft, durch die sie sich verwirklichen können? Wie können sie sich in Jobs verwirklichen? Wie viel Mitspracherecht besitzen die Individuen bei der Mitgestaltung ihrer Lebenswelt, der Stadt, der Architektur, den Wohnformen die sie umgeben? Was für Formen der zwischenmenschlichen Beziehung werden allgemein toleriert, welche werden tabuisiert und mit Exkommunikation bestraft? Und so weiter.
Zurück zum Thema. Nicht alles aus der Musikfestwochenbeschreibung zu Nadja Zela & The Royal Poodle Force Choir scheint die Frage auszulösen, ob die Beschreibung zutrifft oder nicht. Zum Beispiel scheint es mir auf der Hand zu liegen, dass ein Satz wie folgender verworfen wird: «Unter Verzicht auf einen religiösen Ansatz hat Zela ihren Klang zu einem cineastisch anmutenden Experiment ausgeweitet, das so klingt, also ob David Lynch über Calamity Jane schreiben würde, die sich mit Boris Vian fürs Autokino verabredet, um einen alten Walt-Disney Film anzuschauen.» Ich meine nicht, dass diese Beschreibung verworfen wird, weil sie derart exorbitant ist. Sondern weil es für die Aufhebung vom Traum und vom Wachzustand im Surrealen in der Musik keinen rechten Haftpunkt gab. Ich weiss rückblickend nicht, wann ich an Walt-Disney oder an Boris Vian hätte denken können. Ich weiss hingegen rückblickend, wann ich an das Thema Trauer hätte denken können. Das Thema Trauer und Tod lässt sich auf die Musik beziehen: Aufgrund der Klassifizierung eines Songs als Requiem durch die Sängerin, aufgrund der schleppenderen instrumentelleren Parts, aufgrund der Songtextworte «Angel of Death» und so weiter. Aber das Thema Surrealität auf die Musik zu beziehen … wie?
Die Beziehbarkeit zwischen Vorwort und Ereignis ist offenbar nicht ganz willkürlich. Es gibt anscheinend gewisse Wahrscheinlichkeiten, in Rahmen derer Bezüge Sinn ergeben oder nicht. Und wenn sie keinen ergeben, dann verwandelt sich das Vorwort in etwas, was mich auf das Konzert wohl hätte «gluschtig» machen sollen. Mich aber dann im Moment der Erlebens enttäuscht. Und damit auch eine gewisse Unlust provoziert.
(W)ortlos
Nach all diesen Überlegungen zum Verhältnis zwischen einer ankündigenden Bandbeschreibung und dem Konzerterlebnis will ich noch einmal daran erinnert, dass ich in diesem Falle, die Bandbeschreibung nicht gelesen habe. Das heisst nicht, dass ich ein «weisses Blatt» war, ohne Erwartungen an das Konzert gegangen bin. Nur schon dass es an den Musikfestwochen stattfand und dass es an den Musikfestwochen in einer Kirche stattfand, hat unter anderem meine Erwartung geprägt.
Sagen wir, es geht mir bei einem Konzert um «meine» Gefühle – falls es so etwas gibt. Stellt sich dann nicht die Frage, ob mir die Musik egal ist, stellt sich mir dann nicht die Frage, ob mich die Musik nur insofern interessiert, als dass sie mich anspricht? Gut. Aber sagen wir, es geht mir nicht um mich und meine Gefühle, sondern um die Musik. Glaube ich dann, dass ich das Erlebnis der Musik rein, also unbeeinflusst, direkt und unvermittelt, erleben kann? Ohne dass der Zeit, der Ort, meine Stimmung, meine Assoziationen die Reinheit des Erlebnisses trüben würde? Gut. Aber sagen wir, es geht mir um das Erlebnis der Musik nicht in seiner Reinheit, sondern in seiner Ganzheit. Müsste ich dann nicht all dieser Momente, dem Ort, der Zeit, meinem Befinden, meiner Biographie, eingedenk sein?