40 Jahre ist es her, seitdem eine Serie von Sachbeschädigungen und Brandstiftungen das bürgerliche Winterthur erschütterte. Im Fokus der Medien und der Polizei: eine Gruppe junger Erwachsener, denen die Stadt, so wie sie war, nichts zu bieten hatte. Sie selbst bezeichneten sich als «Autonome Zelle», in die Stadthistorie eingehen werden sie jedoch als Wintis, benannt nach dem Ort, in dem sie lebten und auf den sie einwirken wollten. «Uns hat geeint, dass wir uns in einer Gesellschaft bewegt haben, die sehr stark kleinbürgerlich geprägt war. Wir wollten etwas anderes, ein anderes Leben», sagt Richard Vetterli, der damals bei den Wintis dabei war. Er beschreibt das Winterthur der frühen 80er-Jahre als «Arbeiterstadt ohne Klassenbewusstsein». Arbeiten, das habe damals geheissen, um 7 Uhr morgens in der Sulzer-Fabrik zu stehen, um 18 Uhr nach Hause zu gehen und sich dann früh ins Bett zu legen, so Vetterli. «Am Abend war immer tote Hose. Es waren alle brav unterwegs, haben die Erwartungen erfüllt, die an sie herangetragen wurden und fanden das auch gut so». Kulturell bot die Stadt, welche sich heute als Kulturstadt vermarktet, den jungen Erwachsenen von damals nur wenig. Sie trafen sich im Jugendhaus, in welchem hin und wieder ein Konzert stattfinden konnte, im Restaurant Salmen oder ab 1981 im Gasthof zum Widder. Für den Grossteil der Kneipen und Restaurants war um 23 Uhr Feierabend, lediglich 15 Lokale erhielten eine Sondergenehmigung und durften länger ausschenken.
Freiräume existierten kaum und bezahlbarer Wohnraum war schwer zu finden. Während in Winterthur Ende 1978 noch 0.69 % aller Wohnungen auf dem Markt freistanden, sank dieser Wert innerhalb von drei Jahren auf 0.16 %, was gerade mal 50 freien Wohnungen in der gesamten Stadt zu Beginn des Jahres 1982 entsprach. Aus dieser Mangellage heraus begannen die Wintis anfangs der 80er-Jahre selbst für bezahlbaren Wohnraum zu sorgen, indem sie leerstehende Häuser besetzten. Was in Winterthur allerdings selten lange gut ging, wie Reynald Braun, den alle nur Sirup nannten, erzählt: «Jede Besetzung wurde niedergeknüppelt. Bevor du die Augen richtig öffnen konntest, hattest du schon Handschellen an.» Für einige Wintis waren dies die ersten repressiven Erfahrungen mit der Stadtpolizei. Da die Besetzungen meist nicht von langer Dauer waren, organisierten sie sich in grösseren Wohngemeinschaften – ein Konzept des Zusammenlebens, welches damals noch vorurteilsbehaftet und kaum verbreitet war.
Punk, Kunst und Anfeindungen
Ende der 70er-Jahre schwappte eine neue Subkultur aus England in die Schweiz über und verbreitete sich im Untergrund der grossen Ballungszentren: Punk fand seinen Weg in die Eulachstadt und prägte eine neue Generation. Eine Generation, die sich von der 68er-Bewegung und dessen, in ihren Augen, heuchlerischem Optimismus abzugrenzen versuchte. Auch Paco Manzanares war bei den Wintis dabei und spürte diese Veränderung. «Wenn man in den 70er-Jahren aufwuchs, war alles wunderbar und happy. Man sagte, alles wird gut und alles wird positiv, aber im Untergrund hat es gebrodelt.» Mit dem Punk einher ging eine ganze Palette kreativer Ausdrucksformen über Kleidung und Kunst bis hin zur Musik. Nicht alle Wintis waren Punks, viele waren dieser Subkultur jedoch zugeneigt und zeigten das auch nach aussen. Sie nähten ihre Kleider selbst, färbten sich die Haare und spielten in Punkbands. Auch Comics erfreuten sich grosser Beliebtheit, ein Teil der Wintis veröffentlichte eigene Fanzines und Illustrationen, oft angelehnt an den Dadaismus, welcher in der 80er-Bewegung ein Revival erlebte und aus den Kunstgalerien auf die Strasse getragen wurde.
Wer als Punk durch Winterthur lief, fiel auf und machte sich zur Zielscheibe von Anfeindungen: «Du wurdest angespuckt, nur schon, weil du eine andere Haarfarbe hattest», erinnert sich Sirup. Auch die Polizei nahm sie ins Visier, wie Paco erzählt: «Es wurden ganz bestimmte Leute rausgepickt aufgrund ihres Aussehens. Ständig wurde man wegen irgendeinem Mist angehalten. Heute würde man dem ‹Profiling› sagen.» Weiter erzählt er von Angriffen durch rechte Gruppierungen in der Stadt: «Die haben begonnen, Outsider zu jagen, was manchmal in brutalen Schlägereien endete. Sie wollten das linke Pack, die Hippies und die Punks ganz konkret bekämpfen».
Auf Demonstrationen folgen Repressionen
Anfangs der 80er-Jahre wurde Winterthur von einer bürgerlichen Mehrheit regiert, angeführt von der FDP. Die Partei verfügte über einen sozialliberalen, allerdings auch über einen starken, militärfreundlichen rechts-aussen Flügel. Diese Nähe zum Militär war insofern relevant, als dass der Kalte Krieg die gesellschaftliche und politische Stimmung auch in Winterthur beeinflusste. So wurde oft versucht, linke Anliegen als sowjetische Propaganda zu delegitimieren. Die geistige wie auch bewaffnete Landesverteidigung war ein heiss diskutiertes Politikum. Militarisierungsgegner*innen, unter ihnen auch die Wintis, forderten eine sofortige Abrüstung zur Deeskalation der Lage, während konservative Kreise auf Abschreckung durch Aufrüstung setzten.
Inmitten dieser angespannten Lage sorgte 1980 ein Rüstungsdeal der Firma Sulzer mit der rechtsnationalistischen argentinischen Militärregierung sowie eine Messe für Militär- und Waffentechnik ein Jahr darauf, die W81, für Aufregung und Protest in der Stadt. Bis zu 1'500 Menschen beteiligten sich an den Kundgebungen, welche weitgehend friedlich verliefen. Einige Tage nach der Sulzer-Demonstration wurde Aleks Weber, welcher später von der Polizei und den Medien zum Rädelsführer der Wintis ernannt werden sollte, verhaftet und mehrere Tage in Untersuchungshaft genommen: Er soll Sprayer*innen vor Zivilpolizisten gewarnt haben. Zuvor sorgten bereits Razzien im Umfeld des Jugendhauses für Aufregung. Die Trägerschaft des «Juhu» schrieb dazu in einer Stellungnahme an die Neuen Zürcher Nachrichten: «Wenn die Behörden meinen, mit polizeilichen Massnahmen liesse sich der Bazillus von Zürich von Winterthur fernhalten, möchten wir darauf hinweisen, dass es gerade diese Massnahmen sind, die heute die Unzufriedenheit unter den Jugendlichen schüren». Ein halbes Jahr vor der Sulzer-Kundgebung ereigneten sich in Zürich die Opernhaus-Krawalle. Im nur 20 Kilometer entfernten Winterthur fürchtete man sich davor, dass der Funke des militanten Widerstands auf die Eulachstadt überspringen könnte. Auch einige Wintis waren bei den Strassenschlachten in Zürich dabei, manche aktiv, andere als passive Beobachter*innen und Sympathisant*innen.
Ein Jahr später folgte dann der Protest gegen die W81. Über die ganze Woche hinweg, in welcher die Messe stattfand, wurde mit einem sogenannten «Menschenteppich» protestiert. Rund 150 Demonstrant*innen legten sich nebeneinander auf den Boden. Wer in die Messe wollte, musste über sie drübersteigen. Daneben hing ein Banner mit der Aufschrift: «Wer über uns geht, geht auch über Leichen». Mehrmals wurde versucht, den Menschenteppich aufzulösen, vonseiten des privaten Sicherheitsdienstes wie auch von der Polizei, welche am Donnerstag 28 Personen vorübergehend festnahm und verzeigte. Am Samstag rückte dann eine rechte «Bürgerwehr» an und übergoss die Demonstrierenden mit Gülle, dies unter den Augen der Polizei, welche die Bürgerwehr gewähren liess. Am Tag darauf folgten weitere Verhaftungen, als eine Gruppe «Bewegter» dem Parkhotel Winterthur, welches zahlreiche Gäste der W81 beherbergte, einen Besuch abstatten wollte.
Von der Wut zur Tat
Im Zuge der Proteste gegen die W81 wurden rund 80 Strafanzeigen erstattet, auch die Wintis waren davon betroffen. Erneut gerieten sie ins Visier der Polizei – die ihnen bereits zugeschriebene Rolle als Unruhestifter*innen zementierte sich weiter. Sie fühlten sich in eine Ecke gedrängt, erdrückt von Repression und gesellschaftlicher Ablehnung. Daraufhin entschied sich ein Teil der Gruppe, zurückzuschlagen. «Jetzt mussten wir uns einfach wehren. Ich konnte nicht zulassen, dass man ständig auf mir herumtrampelte. Ich ertrug das nicht, ich wollte etwas tun!», beschreibt Paco, wie er sich damals fühlte. Etwas tun, das hiess konkret, dass man damit begonnen habe, Botschaften auf Wände zu sprühen und Farbbeutel an Objekte zu werfen, so Paco. Dabei blieb es aber nicht: «Wir haben auch Brandanschläge verübt. Das kam aus einer tiefen Wut heraus, die wir auch nicht als ungerechtfertigt empfanden». In seinem Buch «Bierri», welches 1985 veröffentlicht wurde, schreibt Daniel Scherf, der damals im Widder-Kollektiv tätig war: «Farbeier zerplatzen klatschend an Fassaden, besonders an den frischrenovierten. Spraydosen schmücken Kirchen- und andere Mauern mit Sprüchen, Kampfparolen und Liebesbriefen. Autoreifen werden geschlitzt, Schaufensterscheiben klirren. Feuerchen werden gelegt und wieder gelöscht, Fassaden geschminkt. Wintis winzige Feinde streuen Sand ins Getriebe der selbstzufriedenen Gerechtigkeit».
Die Serie von Farb- und Brandanschlägen sowie Sachbeschädigungen nahm im Juni 1984 seinen Anfang und dauerte rund ein halbes Jahr an. Später wird die Bezirksanwaltschaft Winterthur den Beschuldigten über 240 Delikte zur Last legen, der Grossteil davon Sachbeschädigungen. Im Landboten wurde den Anschlägen eine eigene Sparte gewidmet, die schwarze Chronik Winterthurs. Die Berichterstattung schürte Angst und Wut in der Bevölkerung. Der Druck auf die vermeintlich untätigen Behörden wuchs, dem Treiben ein Ende zu setzen. Im August 1984 detonierte ein Sprengsatz an der Hausfassade des Winterthurer FDP-Bundesrates Rudolf Friedrich. Verletzt wurde dabei niemand, es entstand lediglich ein Sachschaden. Die Wintis bekräftigten auch im Nachhinein stets, dass es nie ihr Ziel gewesen sei, mit ihren Aktionen Personen zu verletzen. Die Behörden sprachen jedoch von einem reinen Zufall, dass der amtierende Bundesrat bei der Explosion unversehrt blieb. Friedrich galt als rechtskonservativer Hardliner, der immer wieder das Schreckgespenst des Kommunismus heraufbeschwor, wenn beispielsweise die Forderungen der Friedensbewegung zur Debatte standen. Für viele Linke war der Winterthurer Bundesrat das «personifizierte Feindbild», wie die WOZ 1982 in einem Artikel schrieb.
Der Staat schlägt zurück
Mit dem Anschlag wurde eine neue Eskalationsstufe erreicht und die bei Sprengstoffdelikten zuständige Bundespolizei intensivierte ihre Ermittlungen. Die Medien verglichen die Ereignisse in Winterthur mit den Aktivitäten von linksterroristischen Gruppen wie der Roten Armee Fraktion oder den Roten Brigaden, welche auch vor Mord nicht zurückschreckten. Eine Übertreibung mit System, wie Richard Vetterli sagt: «Es wurde eine Stimmung geschaffen, die den Behörden die Legitimation verlieh, so einzufahren, wie sie das taten, uns wegzumachen und zu säubern.» Die Wintis bemerkten, dass sie beschattet wurden und ihre Post überwacht wurde. Am 18. November 1984 folgte dann die «Aktion Engpass», eine gross angelegte Razzia in drei verschiedenen Wohngemeinschaften der Wintis. «Das war früh morgens, dann bist du aufgewacht und hast in den Lauf einer Maschinenpistole geschaut», erinnert sich Paco.
Bei der Razzia wurden 21 Personen in Gewahrsam genommen, weitere Verhaftungen folgten. Mehr als die Hälfte der Festgenommenen wurde wenige Tage später wieder freigelassen. Die Beweislage war dünn, dem Grossteil der Verhafteten konnten keine gröberen Vergehen nachgewiesen werden, die Polizei musste sich daraufhin den Vorwurf der willkürlichen Inhaftierung gefallen lassen. Noch immer in Untersuchungshaft sass der Hauptangeklagte Aleks Weber und seine damalige Freundin Gabi. Der zweite Hauptangeklagte, Res S., wurde wenige Wochen nach der Razzia, am 15. Dezember, in Genf ebenfalls verhaftet. In stundenlangen Verhören der Bundespolizei wurde versucht, über Gabi, welcher lediglich der Wurf eines mit Farbe gefüllten Joghurtbechers nachgewiesen werden konnte, an Informationen über Aleks heranzukommen. Dabei kam auch ein vermeintlich von der Polizei gefälschter Brief zum Einsatz, welcher Gabi von Aleks’ Untreue überzeugen sollte. Am Morgen des 18. Dezembers fand ein Aufsichtsbeamter die 23-Jährige mit einem Tauchsieder erhängt in ihrer Zelle vor. Daraufhin wurden stetig weitere Inhaftierte entlassen, bis anfangs Februar 1985 nur noch die beiden Hauptangeklagten Res S. und Aleks Weber einsassen. Res S. verbrachte drei-, Aleks Weber zweieinhalb Jahre in Untersuchungshaft, einen Grossteil davon mussten sie in Isolationshaft absitzen. Beide wurden in mehreren Prozessen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, in einer späteren Überprüfung wurden die Urteile allerdings stark verkürzt. Aleks Weber, der 1987 aus der Haft entlassen wurde, verstarb sieben Jahre darauf an den Folgen einer Aidserkrankung. Res S. legte 1991 vor dem Europäischen Menschenrechtshof Beschwerde gegen seine Haftbedingungen ein und bekam Recht gesprochen. Nach den traumatischen Ereignissen zogen viele Wintis weg, doch einige sind geblieben. Wer konnte, versuchte neu anzufangen, doch bei manchen sitzen die Wut und der Schmerz auch heute noch tief.
Julien Felber ist Fotograf und Journalismusstudent aus Winterthur. Er recherchiert seit rund einem Jahr zum Thema der «Winterthurer Ereignisse» und unterstützt Miguel Garcia und Laura Serra im «Oral-History»-Projekt.