Wo bleibt der Dialog?

Um mit der lebendigen Kulturszene in Winterthur Schritt zu halten, muss die Stadtverwaltung sich mit dieser zumindest alle paar Jahre einmal aktiv auseinandersetzen. Doch wie könnte eine solche Auseinandersetzung konkret aussehen? Sandra Biberstein geht in ihrem Kommentar nicht nur auf die aktuelle Stimmung in der Kulturszene ein, sondern skizziert auch einen Lösungsansatz, wie die Stadtverwaltung, die Politik und die Kulturmacher*innen in einen produktiven Dialog treten könnten.

«Kultur statt Freiwilligenarbeit.» Dieses Statement veröffentlichten die Internationalen Kurzfilmtage am Mittwoch, 8. November auf ihren Social-Media-Kanälen und ergänzten es mit den Worten: «Nur Liebe und Leidenschaft reichen nicht aus, um Rechnungen zu zahlen. Im Kulturbereich tätig zu sein, bedeutet, durch ein extrem kleines Budget eingeschränkt zu sein und trotzdem auf hohem professionellem Niveau zu arbeiten.» Das Statement ist eine Reaktion auf die Budgetkürzungen im öffentlichen Sektor und auch eine Antwort auf die Rede des Stadtpräsidenten Michael Künzle, die er am Abend zuvor am Eröffnungsapéro im Salzhaus hielt. Darin bemerkte er, dass er stolz sei auf die viele Freiwilligenarbeit, die in Winterthur generell und auch aktuell für die Kurzfilmtage geleistet werde. Er wolle aber auch anmerken: Man könne nicht jedes Projekt professionalisieren und meinen, dass dann Freiwilligenarbeit entlöhnt werde. Dafür habe die Stadt bzw. die öffentliche Hand kein Geld. Ein paar Wochen zuvor sagte Michael Künzle in der Eröffnungsrede zur Kulturnacht, die Kulturschaffenden sollen den Abend noch geniessen, denn nächstes Jahr müssen sie den Gürtel etwas enger schnallen. Diese – um es diplomatisch zu formulieren – sehr ungeschickten Aussagen des Stadtpräsidenten schlugen in der Winterthurer Kulturszene Wellen und sorgten für Unmut. Sind das tatsächlich Worte der Wertschätzung für die Kulturmacher*innen und die zahlreichen ehrenamtlichen Helfer*innen? Worte der Wertschätzung für jene, die mit ihren Projekten und ihrem unermüdlichem Einsatz Winterthur zu der «Kulturstadt» machen, für die sich die Stadt so gerne rühmt?

 

Dieser Unmut traf auf eine ohnehin schon schlechte Stimmung. Zurzeit werden die Subventionsverträge neu verhandelt, die Verunsicherung unter den Kulturmacher*innen ist gross. Darüber berichtete das Coucou bereits in der November-Ausgabe. Viele Kulturschaffende wünschen sich mehr Transparenz in der Kommunikation seitens der Stadtverwaltung. In den Entwürfen für die Subventionsverträge sind teils Leistungen, zum Beispiel 15 kuratierte Veranstaltungen, vorgegeben, die die Institutionen jedoch nicht in dem Umfang umsetzen könnten, würde der benötigte Betrag vom Stadtrat – beziehungsweise in letzter Instanz vom Stadtparlament – nicht gesprochen.

 

Der Entscheid, wie eine Stadt eine lebendige Kulturszene fördert, wird nicht allein vom Stadtpräsidenten und dem Stadtparlament, sondern auch von den Mitarbeiter*innen des Amts für Kultur verantwortet. Insbesondere die Leiterin dieses Amtes hat eine weichenstellende Position inne, weil sie an der Schnittstelle zwischen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft arbeitet und sich bei den jeweiligen Vertreter*innen auch gezielt für ein Projekt einsetzen und dessen Relevanz aufzeigen kann. Für diese Ausgabe des Coucou war deshalb auch ein Interview mit Tanja Scartazzini, der neuen Leiterin des Amts für Kultur, geplant. Der vereinbarte Termin wurde allerdings kurzfristig abgesagt. Ein Gespräch darüber, was das Amt für Kultur in der gegenwärtigen Situation für eine nachhaltige Kulturförderung machen muss und welche Visionen Tanja Scartazzini für die Kulturförderung in Winterthur hat, wäre ein wichtiger Grundstein gewesen, um trotz der schlechten Stimmung und des Unmuts wieder ins Gespräch zu kommen.

 

ES BRAUCHT EIN NEUES LEITBILD

Wie also könnte ein Dialog zwischen Stadtverwaltung und Kulturszene zustande kommen, so dass die sich verhärtenden Fronten nicht über Jahre bestehen bleiben? Und wer ergreift dafür die Initiative? Ein konstruktiver Dialog zwischen Stadtverwaltung und Kulturszene kam versuchsweise vor 10 Jahren zustande, als die ehemalige Leiterin des Amts für Kultur, Nicole Kurmann, zusammen mit ihrem Team ein partizipatives Projekt durchführte. Rund 100 Personen aus der Stadtverwaltung, der Kultur, der Politik und Personen des öffentlichen Lebens waren 2014 daran beteiligt, ein neues Kulturleitbild zu erstellen. Mit dem Amt für Kultur diskutierten sie nicht nur darüber, was überhaupt unter Kultur zu verstehen sei, sondern definierten auch unterschiedliche Handlungsfelder. Eines davon war der Erhalt und die Weiterentwicklung der «Kulturstadt Winterthur». Als Massnahme wurde damals von den Kulturmacher*innen der Wunsch geäussert, dass eine gesetzliche Grundlage zur Kulturförderung erarbeitet wird, die 2023 in Kraft trat. An dem Leitbild orientiert sich das Amt für Kultur heute bei der Förderung von Projekten einzelner Kulturmacher*innen sowie der Stadtrat bei der Vergabe von Subventionsbeiträgen. Ein Dokument, das 2015 – also vor bald 9 Jahren – verabschiedet wurde, hält mit den gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahre allerdings nicht mehr Schritt. Anpassungen in Hinblick auf faire Arbeitsbedingungen, den Mindestlohn, technologische Entwicklungen (Stichwort Digitalisierung und Künstliche Intelligenz), die Themen Diversität, Nachhaltigkeit und Zugänglichkeit sowie Inklusion müssten für ein neues Leitbild diskutiert werden, ebenso wie die soziale Absicherung von selbstständig Erwerbenden.

 

Zudem fehlt aktuell eine klare Strategie für die kommenden Jahre. Zum Vergleich: In den Städten Bern und Zug wurden bei der Ausarbeitung von neuen Kulturleitbildern in partizipativen Prozessen nicht nur Grundlagen für die Förderung erarbeitet, sondern auch gemeinsam klare strategische Ziele gesetzt, die jeweils für die nächsten 10 Jahre gelten. Die Stadt Basel überarbeitet ihr Kulturleitbild alle 5 bis 7 Jahre, die Stadt Zürich sogar alle 4 Jahre, um zeitnah auf Veränderungen reagieren zu können und die Strategie ständig weiterzuentwickeln. Eine Überarbeitung des Winterthurer Kulturleitbilds wäre auch deshalb dringend nötig, weil bei der Version von 2015 die Zielsetzung, was konkret gefördert wird, unentschlossen blieb: Einerseits sollten in der Förderung klare «Schwerpunkte» gesetzt werden. Zu diesen zählten die Museen und «Musik», womit vor allem das Musikkollegium gemeint war. Andererseits gab es ein klares Bekenntnis, auch die «Vielfalt» zu unterstützen und Rahmenbedingungen zu schaffen, die «Freiräume für innovatives und experimentelles Kulturschaffen ermöglichen.» Allerdings wurden die letzten zwei Punkte im Anschluss nicht konkretisiert. Auch wurde in einem Zwischenfazit des Leitbildes bemerkt, dass die bisherigen Förderstrukturen überprüft werden sollten: «Das Anciennitätsprinzip, nach dem die Mittel bisher verteilt wurden, ist zu hinterfragen.» Sich von diesem Prinzip abzuwenden, würde nun bedeuten, dass nicht mehr nur die alten und etablierten Institutionen in den Genuss von hohen Subventionsbeträgen kämen, sondern auch die Leistung von kleinen, innovativen Institutionen mit höheren Beträgen honoriert würden.

 

VOR – UND NACHTEILE

Klar ist, ein neues Kulturleitbild partizipativ auszuarbeiten, würde viel Zeit in Anspruch nehmen. Es bräuchte einiges an Organisation, um sämtliche Vertreter*innen aus der Kulturszene, der Politik und der Stadtverwaltung an einen Tisch zu bekommen und eine grosse Bereitschaft von allen, die dafür notwendige Zeit aufzubringen. Wichtig wäre auch, den Prozess unter eine gute Leitung zu stellen, so dass er nicht zur zermürbenden bürokratischen Angelegenheit würde, bei welcher auch nach zig Treffen doch nichts Relevantes herauskommt. Denn Kulturmacher*innen leisten bereits ein erhebliches Mass an unbezahlter Arbeit, das sollte von einem Amt für Kultur nicht überstrapaziert werden. Dennoch: Ein partizipativer Prozess für ein neues Kulturleitbild würde trotz aller Herausforderungen die Möglichkeit bieten, ins Gespräch zu kommen, sich kennenzulernen, Missverständnisse und falsche Annahmen aus dem Weg zu schaffen, zu diskutieren, welche Relevanz Kultur hat, und vor allem gemeinsam ein neues Selbstverständnis der «Kulturstadt Winterthur» zu erarbeiten. Und – es würde die neue Leiterin des Amts für Kultur in direkten Kontakt zu den Menschen bringen, die sie kulturpolitisch zu vertreten hat.ƒ

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