Schachzüge und Tacklings

Football assoziiert man hierzulande in erster Linie mit der NFL, der National Football League der USA. Doch auch in der Schweiz ist die Sportart verbreiteter, als man meinen würde. Die Winterthur Warriors gibt’s seit 1987 – und sie sind schweizweit einer der grössten Football-Vereine. 10 Warrior-Teams messen sich jährlich auf nationaler und internationaler Ebene. Dabei wird zwischen Tackle (klassischer American Football mit Körperkontakt) und dem weniger bekannten Flag Football (ohne Körperkontakt), unterschieden. Der letzte Teil unserer Randsportarten-Serie führt ins Probetraining auf dem Deutweg.

Tackle mit Spickzettel

 

Dienstagabend auf dem Rasen neben der Eishalle Deutweg. Es ist heiss, auch um 7 Uhr abends noch. Der Höchstwert des Tages lag bei 37 Grad. Die Luft staut sich, in der Ferne brauen sich graue Wolken zusammen. Mein Besuch gilt dem Frauenteam der Winterthur Warriors im klassischen American Football (Tackle). Der Ferienzeit geschuldet sind nicht ganz so viele anzutreffen, doch die anwesenden Spielerinnen (und ich) sind motiviert.

 

Wir beginnen mit Dribbling-Übungen – und die sind um einiges komplizierter als angenommen. Bis in die Hälfte machen meine Beine mit, dann verheddern sie sich heillos in der ausgelegten Koordinationsleiter. Als nächstes geht es um Reaktionsgeschwindigkeit: Trainer Patrick Feller holt mit den Spielerinnen orangefarbene Schaumstoffrechtecke aus dem kleinen Materialhäuschen. Wir stellen uns zu fünft in einer Reihe hinter diesen Rechtecken auf und halten sie hoch. Die anderen Spielerinnen dribbeln seitwärts daran vorbei und platzieren bei jedem Rechteck eine Faust im Schaumstoff. Dann werden Spielzüge trainiert. Die Spielerinnen kommen zusammen und besprechen den nächsten Spielzug am Spielfeldrand. «Ein 7 Out», sagt der Trainer, und ich habe selbstverständlich keine Ahnung, was das bedeutet. «7 Schritte nach vorne, dann 90 Grad nach rechts», erklärt Patrick. Das verstehe ich zu Beginn noch, doch was genau ich dann machen muss, als der Ball auf mich zufliegt, ist für meine Sportvorkenntnisse etwas zu anspruchsvoll. Prompt geht der Ball ans andere Team. Besser sieht es auch dann nicht aus, wenn ich in der «Defense» für das Decken der Gegenspielerinnen zuständig bin.

 

Was für Aussenstehende wie ein willkürliches Losrennen aussehen mag, hat tatsächlich viel System. Nicht umsonst wird American Football auch «Rasenschach» genannt: Jeder Spielzug ist genau überlegt. Im «Playbook», einem je nach Team zwischen 15 und 500 Seiten langen Dokument, sind sämtliche Spielzüge vermerkt. Während des Spiels müssen diese alle auswendig abgerufen werden können. Im Training liegen jetzt aber noch laminierte A4-Seiten am Spielfeldrand, wo die verschiedenen Spielzüge aufgezeichnet sind. «Die Coaches rufen dann den Spieler*innen den nächsten Spielzug von der Seitenlinie her zu», erklärt Patrick. Damit das gegnerische Team nicht weiss, um welchen Zug es sich handelt, sind die Züge codiert. Einer heisst zum Beispiel «Ram & Dallas»: «Ram» steht für rechts, das heisst der Angriff wird auf dieser Seite erfolgen, und „Dallas“ bedeutet, dass der Runningback, also die Person, die offensiv möglichst viel Raum mit dem Ball gewinnen soll, geradeaus durch die Linie sprintet.

 

Jedes Jahr werden einige Spielzüge weiterentwickelt oder sogar neue definiert. Wie lernt man all das bloss auswendig? Patrick Feller beruhigt: «Einerseits muss man je nach Position unterschiedlich viel wissen. Ein Quarterback hat zum Beispiel andere Aufgaben als ein Receiver.» Zudem wachse das Spielverständnis mit der Zeit – Stück für Stück werden alle möglichen Spielzüge während des Trainings durchgespielt und so lange wiederholt, bis sie sitzen. Diejenigen, die einen Grossteil der Spielzüge auswendig wissen müssen, dürfen einen Spickzettel in einem sogenannten «Wrist Band» am Arm tragen. Auch die Positionen muss man kennen: Der Quarterback gilt als Kopf der Offensive, «Receiver» kann mit «Empfänger*in» übersetzt werden und ist hauptsächlich dazu da, Pässe vom Quarterback zu fangen oder Gegner*innen zu blocken. Dazu kommen Runnigbacks, Linebackers, Cornerbacks und Safeties. Das Schöne an all den unterschiedlichen Positionen: «American Football ist ein sehr inklusiver Sport, was verschiedene Körperfiguren angeht. Je nach Position ist es besser, Fels statt Fliegengewicht zu sein, deshalb ist der Sport auch für Menschen mit schwererem Körperbau attraktiv», sagt Regy Meier. Sie spielt seit rund 3 Jahren im Frauenteam. Schon vorher hat sie sich für NFL-Spiele interessiert. Die Skills, die sie auf ihrer Position benötigt, trainiert sie zusätzlich auch bei den Allgäu Comets in Deutschland, wo einige der Winterthurer Frauen ebenfalls Mitglied sind. Das ist nötig, weil es in der Schweiz neben Winterthur nur noch in St.Gallen ein Tackle-Frauenteam gibt – und deshalb keine offizielle Meisterschaft ausgetragen werden kann. Nebst den beiden Trainings unter der Woche und Spielen am Wochenende arbeitet Regy als Bauführerin. Sie hat sich Ende Juni beim Aussteigen aus dem Auto nach einem Spiel die Bänder im Fuss angerissen. Zu viel belasten sollte sie ihrem Arzt zufolge noch nicht. «Ist aber alles eine Sache der Auslegung», meint Regy und lacht.

 

Noppen und Flags

 

Ein paar Tage später, wieder auf dem Deutweg, Anfang Juli. Auf dem Rasen neben dem Beachvolleyballfeld trainieren die Flag Football-Spieler des Nationalliga A-Teams der Männer. Zum Training Anfang Juli erscheinen heute trotz baldiger Sommerpause etwas mehr als 30 Spieler. Für alle Unwissenden, zu denen auch ich gehörte, sei hier Flag Football kurz erklärt: Die Ausrüstung ist simpel - Shirt, Hose, Noppenschuhe, Mundschutz. Um den Bauch geschnallt ist ein Gurt, an dem zwei «Flags» hängen, circa 40 Zentimeter lange Stoffbändel mit einem Schnappverschluss. Genau wie beim Tackle ist die Schlüsselposition beim Flag der Quarterback. Als Spielmacher*in inszeniert er oder sie den Angriff, liest die Verteidigung, muss werfen können und checkt ab, ob der Spielzug auch tatsächlich funktioniert, um im nächsten Moment darauf reagieren zu können. Während im Tackle ein Spielzug beendet ist, sobald der oder die Balltragende zu Boden gebracht wird, ist dieser beim Flag dann fertig, wenn diesen ein Flag abgerissen werden kann – und dies ohne Körperkontakt. Kein Flag Football Club der Schweiz ist grösser als der in Winterthur. Hier gibt es ganze 6 Teams: Jeweils eine Männer-Mannschaft in den Nationalligen A, B und C, eine U13, eine U16 sowie seit 2022 ein Frauenteam. Manche Spieler*innen sind bei beiden Disziplinen dabei und füllen das American Football-Sommerloch mit Flag.

 

Bis vor ein paar Jahren sei Flag Football einerseits oft der Einstieg in den Football für Jugendliche unter 13 Jahren gewesen, die auf diese Weise die Grundbegriffe des Tackle kennenlernen konnten, bevor sie dann dahin wechselten, erzählt Diether Kuhn, seit 2015 Präsident der Winterthur Warriors. Heute führen die Warriors die Altersklassen 13-16 zweigleisig: Im Frühling bestreiten sie die Flag- und im Herbst die Tackle-Meisterschaft. Mit 16 entscheiden sich die Mädchen und Jungs dann für eins der beiden. Anderseits ist Flag auch oft etwas für ehemalige Tackle-Spieler*innen, die «zu alt» dafür wurden, aber doch noch einen ähnlichen Sport ausüben und Teil des Vereins bleiben wollten.

 

Die Begeisterung für Flag Football zeigt auch Spieler Nicolas Cavelti, als er vom letzten Spieltag in Zürich erzählt: Auf 7 Feldern fanden von morgens um 10 bis abends knapp um 18 Uhr pausenlos Spiele statt. Knapp eine Stunde dauert ein Match, dazwischen gibt es 10 Minuten Pause. Nicolas hat vor 16 Jahren bei den Winterthur Warriors mit American Football begonnen. Nach einem schweren Beinbruch im Jahr 2017 und 2 Jahren Wiederaufbau wechselte er 2019 zum Flag, wo er jetzt im Nationalliga A-Team spielt. «Vor 5 oder 6 Jahren gab es maximal halb so viele Teams, die Meisterschaften bestritten», schätzt Nicolas. Woher der plötzliche Flag-Boom kommt, können sich Nicolas Cavelti und Diether Kuhn nicht erklären. Im Fernsehen werde zwar seit einigen Jahren immer mehr Football gezeigt, aber das beschränke sich auf Tackle. Die Kombination aus Sport und Taktik macht Flag Football für Nicolas, Co-Captain seiner Mannschaft, so spannend. «Wirklich jede*r kann Flag spielen – von ganz klein auf», meint er. Zweimal pro Woche trainiert der Geschäftsleiter und Softwareentwickler auf dem Deutweg. «Am Mittwochabend ist das Training Pflicht, am Freitag nur für die, die wollen». Während der Saison werden oft spezifische Taktiken der Gegner vom nächsten Spiel angeschaut. Auch neben dem Feld sieht man sich oft: «Die Winti Warriors sind eine grosse Familie», sagt der Receiver.

 

Unzählige ehrenamtliche Stunden

 

Den gesamten Verein finanzieren die Spieler*innen durch Mitgliederbeiträge. Da Tackle um einiges aufwändiger ist in Bezug auf Teamgrösse, Infrastruktur und Platzmieten, ist dieser Beitrag deutlich höher als beim Flag. Zusätzlich dazu werden an den Spieltagen im Tackle Eintrittsgelder verlangt. Beim Flag ist dies schwieriger, weil dort während eines Spieltags mehrere Spiele auf bis zu 7 Feldern ausgetragen werden. Auch bei den Sponsor*innen zieht Flag eher den Kürzeren – Sichtbarkeit auf dem Feld ist hier viel schwieriger zu generieren, da der Sport um einiges weniger Publikum hat. Ein Salär erhält im Verein niemand, auch wenn der Aufwand gross ist. Ein Coach beispielsweise leitet wöchentlich 2 bis 3 Mal ein zweistündiges Training, das auch noch vorbereitet werden muss. Während der Meisterschaft kommen die Videoanalysen der eigenen und gegnerischen Teams und die Erarbeitung des Spielplans hinzu. «Die Tätigkeiten im Vorstand erfordern je nach Aufgabe locker zwischen 5 und 20 Arbeitsstunden pro Woche», meint Diether Kuhn.

 

Während Flag Football trotz der schwierigen finanziellen Lage mittlerweile grossen Zulauf geniesst, kämpfen die Winterthur Warriors im Tackle seit knapp 3 Jahren mit fehlendem Wachstum der Junior*innen-Teams. «Wir müssten auf Social-Media-Plattformen wie Instagram oder TikTok präsenter sein», meint Diether Kuhn. Aber auch hier darf der hohe personelle Aufwand nicht vergessen werden – wie auch für andere Vereinsaufgaben wie Website, Buchhaltung oder Jugend & Sport-Ausbildungen. Schwierig ist auch die Rekrutierung von Coaches für American Football. Geeignet wäre eigentlich ein Coach pro Position, also ca. 8-10 an der Zahl. Ausserdem ist die Tribüne auf dem Deutweg zu niedrig, um ein Spiel richtig beobachten zu können. Chur und Basel indes spielen vor geeigneteren Tribünen und erhalten bald eigene Stadien, Genf hat bereits ein eigenes Kunstrasenfeld. «Die Stadt Winterthur hat das Projekt einer neuen Tribüne zwar in der Sportstättenplanung aufgenommen, doch es wird wohl noch eine Weile dauern, bis da was passiert», sagt Dieter Kuhn. Und das, obwohl Winterthur – als einziger Verein neben St.Gallen – ein Frauenteam führt.

 

Ready fürs Spiel

 

Zurück zum Tackle beim Frauenteam der Warriors, wo das Training nach 1,5 Stunden beendet ist. Die orangefarbenen Schaumgummiblöcke werden im Materialhäuschen versorgt. Noch ein letztes Mal wage ich den Versuch, durch den unterdessen sehr verschwitzten Helm einen Schluck Wasser aus der Trinkflasche zu nehmen. Es klappt leider nur halb. Schnell noch werden die letzten logistischen Details zum Spiel am kommenden Sonntag besprochen. Dann versammelt sich das Team im Kreis, Arme in der Mitte. «We are women! We are wild! We are warriors!», rufen alle unisono. Fingers crossed, dass es was hilft für den Sonntag.

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