15 Bar auf den Collies
Trainer Marcel Gamper flitzt mit dem breiten Besen noch einmal durch die Turnhalle des Schulhauses Laubegg. In ein paar Minuten beginnt das Training, und dafür muss der Boden blitzblank gereinigt und frei von Staub sein, denn: Auch wenn nur wenig davon auf dem Boden liegt, ist die Chance da, dass sich die Rutschgefahr erhöht und die Veloreifen auf den Staubkörnern den Halt verlieren.
Dass die Kunstradfahrer*innen in der Turnhalle Laubegg trainieren, kommt nicht von ungefähr: «Wir brauchen zum Fahren unbedingt einen Parkettboden – auf weichem Gummiboden würden die Räder einsinken», erklärt Marcel Gamper, der nach 22 aktiven Jahren als Kunstradfahrer nun den Nachwuchs trainiert. Dafür steht der gelernte Maschinenmechaniker und Produktionsleiter für die Herstellung von Helikopter-Flugsimulatoren mehrmals pro Woche in der Halle.
Die Collie-Reifen – also Reifen, die nicht aus Mantel und Schlauch, sondern nur aus einem Schlauch bestehen und oft auch an Velorennen verwendet werden – sind mit bis zu 15 Bar gepumpt. Zum Vergleich: Ein Rennvelo wird auf knapp 6 Bar, ein City-Bike auf etwa 4 Bar gepumpt. Auch wenn man ihm ansieht, dass es ein Velo ist, ist am Kunstrad doch vieles etwas anders: Bremsen, zum Beispiel, sucht man vergebens. Und damit auch rückwärtsgefahren werden kann, läuft das Rad im Starrlauf. An den Naben sitzen – ähnlich einem BMX-Bike oder Rädern für Zirkusartist*innen – Dornen zum Draufstehen. Der Lenker ist locker eingestellt, sodass er mit den Zehen bewegt werden kann und beim Kreisfahren mitmacht. Sitzen zwei Leute auf dem Rad, braucht es eine verstärkte Radkette. Während beispielsweise beim Radball eher auf Carbonräder gesetzt wird, fahren die Kunstradfahrer*innen auf Alu-Rahmen. Rund 10 Kilogramm schwer ist das Fahrrad insgesamt: Leicht genug, um gut zu fahren und doch stabil, damit es nicht so leicht umfällt bei den Kunststücken. Und: Im Gegensatz zu Carbonrädern muss man bei Alu nicht gleich fürchten, dass es Risse im Rahmen gibt, wenn es während des Trainings mal auf dem Boden aufprallt.
Auf einer Seite der Halle übt Trainerin Claudia Jiricek mit ihrer 12-jährigen Tochter Valerie den Kopfstand. Valerie dreht sich auf dem Velo, fährt rückwärts und legt den Kopf auf den überdimensional grossen Sattel. Dann stemmt sie die Füsse gegen das Lenkrad, bevor sie sie in die Höhe hebt. Was schon auf einer stabilen Fläche eine grosse Herausforderung darstellen kann, übertreffen einige der Kunstradfahrer*innen des Radsportvereins Wülflingen um einige Stufen: Das Rad, das sich durch den Fixiermechanismus – also dem Mechanismus, bei dem die Pedalen immer mitdrehen und nicht wie bei einem herkömmlichen Rad stillstehen – wie von Zauberhand im Kreis weiterdreht, wackelt zwar schon ein bisschen – aber der Kopfstand funktioniert. Noch stabilisiert Claudia Jiricek Valerie und hält sie am Gstältli fest, welches sich Valerie zu diesem Zweck um den Bauch gebunden hat. Doch weit weg vom Gelingen ohne fremde Hilfe ist Valerie nicht mehr. «Für die schwierigeren Figuren wie Lenkerstand und Sattelstand rechnet man mit rund 1000 Versuchen, bis sie sitzen», sagt Claudia. Kein Wunder, denn beim Kunstradfahren kommt vieles zusammen: Gleichgewicht, Kraft, Beweglichkeit, Ausdauer.
Auch ein Vorteil sind Aufhängevorrichtungen an der Decke: «Für schwierige Figuren, bei denen wir die Fahrer*innen nicht selber halten können, ist es super, wenn man die Gstältli dranhängen kann», sagt Claudia Jiricek, denn Sicherheit geht stets vor. Protektoren wie Knieschoner oder Helme tragen die Fahrer*innen allerdings nicht – das würde die Beweglichkeit einschränken und Figuren wie der Kopfstand wären kaum mehr möglich. «Unfälle gibt es sehr wenige. Unter anderem auch deshalb, weil wir das rechtzeitige Abspringen beim Gleichgewichtsverlust von Anfang an üben», sagt Claudia.
Kürfahren mit Dezimalstellen
Entlang den Rändern der Turnhalle liegen allerlei Gerätschaften: ein Holzreifen mit einem draufmontierten Lenkrad, Balancierutensilien, Springseile, Jonglierbälle. Auf einem am Boden aufgemalten Kreis übt die 8-jährige Lucia ihre Kür, die sie am darauffolgenden Samstag im Wettkampf fahren wird. Marcel Gamper hält die Stoppuhr in der Hand und kommentiert: «Noch eine Minute. Und jetzt Figur wechseln!» Fünf Fahrerinnen und ein Fahrer im Alter von 8 bis 21 Jahren trainieren an diesem Freitagabend auf ihren Kunsträdern in der Turnhalle des Schulhauses Laubegg. Die Stimmung ist ruhig und konzentriert. Claudia Jiricek und Marcel Gamper sind für je einer Hallenhälfte verantwortlich.
Claudia ist seit ihrer Kindheit begeisterte Kunstradfahrerin. Aufgewachsen in Uzwil, trat sie früh dem Kunstradfahr-Verein bei: «Unter anderem auch, weil es im Dorf überhaupt einen Verein gab.» Mit 20 Jahren wurde sie selber Trainerin, später heiratete sie einen Winterthurer Radballer. Bis vor einem Jahr trainierte sie noch die Junior*innen in Uzwil. «Radball und Kunstradfahren gehören eng zusammen – ein bisschen so wie Eishockey und Eiskunstlauf», sagt sie. In der Schweiz bilden die beiden Disziplinen den Hallenradsportverband. Beim Radsportverein Wülflingen, den es seit über 100 Jahren gibt, wird aber nicht nur Kunstrad trainiert. Zum gleichen Verein gehören auch die Einradhockeyspieler*innen, welche in Wüflingen trainieren. Finanzieren tut sich der Verein über Mitgliederbeiträge beider Disziplinen sowie denjenigen von Passivmitglieder. Zusätzliche Einnahmequellen sind auch Veranstaltungen wie zum Beispiel Wettkämpfe oder Showauftritte.
3 Mal pro Woche trainieren die Kunstradfahrer*innen, an rund 10 Wochenenden pro Jahr finden Wettkämpfe statt. «Für die Junior*innen geschieht dies jeweils in der ersten Hälfte des Kalenderjahres, für die Elite in der zweiten», sagt Claudia Jiricek. Im Vorfeld wird ein fertiges Programm bei den Schiedsrichter*innen eingereicht. Für Lai*innen ist dieses Formular einfach eine lange Liste mit vielen Fremdwörtern: Dornbeugestand, Lenkerstützgrätsche oder Kehrlenkerdoppelstützwaage steht da zum Beispiel drauf. In der Spalte daneben findet man die Punktwerte inklusive Dezimalstellen. Wie so eine Kür abzulaufen hat, ist genau reglementiert. Freestylen kann man nicht, ansonsten würde die Beurteilung zu schwierig für die Kampfrichter*innen. An Regionalwettkämpfen beurteilen jeweils 2 Personen: Eine liest das Programm vor, die andere schaut zu.
Konzentriert beginnt Lucia ihr 5-minütiges Programm ein zweites Mal. Nebst den herausfordernden Figuren ist es wichtig, dass die Kür auf dem Feld zwischen dem Vier- und dem Achtmeterkreis gefahren wird. «Heute wird alles im Kreis gefahren», sagt Claudia Jiricek. Unter anderem geschehe dies mit dem Hintergedanken, den Sport attraktiver zu machen: Kreise eignen sich besser für Fernsehaufnahmen, weil sie dynamischer wirken. Auch Sprünge wurden aus Unterhaltungsgründen ins Programm eingebaut. 2008 entstand das neue Reglement, etwas später wurde das Kunstradfahren ins Jugend- und Sport (J&S)-Programm implementiert. Olympisch ist die Sportart zwar (noch) nicht – inwiefern es Bemühungen gibt, sie darin aufzunehmen, ist nicht bekannt.
Lucia ist unterdessen beim «Rahmenflugi» angekommen. Sie macht «das Flugzeug» auf dem Rad – eine Figur, bei welcher ein Bein auf dem Sattel steht und das andere gegen hinten in die Luft gestreckt wird. Zwischendurch wackelt das Rad – es braucht stets eine gewisse Geschwindigkeit, um nicht umzufallen – aber halten tut es dann doch. Der Sattel ist immer ein wenig höher eingestellt als der Lenker, das sorgt für zusätzliche Stabilität.
Wettkämpfe statt Feierabendbier
Marcel Gamper kam im Alter von 10 Jahren durch seine Eltern zum Radsport – damals noch zum Arbeiter Touring Bund (ATB) Wülflingen. Er erzählt von der Entstehung des Kunstradsports: Vor rund 150 Jahren trafen sich die Mitglieder des ATB Schweiz nach der Arbeit auf Feierabendbier und Velotour. Irgendwann kam die Idee, auf der Wiese Kunststücke zu fahren, was sich zum Kunstradfahren entwickelt hat, oder mit Bällen gegeneinander anzutreten: heute Radball. Später wurden die beiden Sportarten in Hallen verlagert. Heute werden Wettkämpfe allerdings oft gemeinsam veranstaltet – unter anderem aus dem simplen Grund, dass so mehr Publikum generiert werden kann. Weil beim Radball das Gegeneinander die grössere Rolle spielt, ergänzt sich das alles recht gut: Während bei Radball-Spielen die Stimmung durch die Zuschauer*innen angeheizt wird, sorgen die Kunstradfahrer*innen für die Ruhe dazwischen. In Deutschland kommt es vor, dass Meisterschaften in grossen Hallen wie der Porsche-Arena in Stuttgart ausgetragen werden. «In der Schweiz betreibt man Kunstradsport eher in der Ost- und Innerschweiz, in Schaffhausen sowie im Kanton Zürich», weiss Claudia Jiricek. In der Romandie ist er kaum bekannt, im Tessin oder Waadtland noch weniger.
Im Juni gibt es den Kadertest, bei dem die geeignetsten Radfahrer*innen gescoutet werden. Der Test ist vor allem prognostisch: Auch wenn man mit 10 Jahren vielleicht gut fürs Alter ist, kann es durchaus vorkommen, dass man später dann mal zu gross oder zu klein ist. «So ein bisschen wie beim Basketball», sagt Claudia Jiricek: Da ist es – mit wenigen Ausnahmen – schwierig, gross rauszustechen, wenn man 40 Zentimeter «zu klein» ist für den Sport. Zum Test gehört auch ein intensiver Krafttest. «Gerade zum Beispiel der Handstand ist beim Kunstradfahren sehr wichtig», erklärt Claudia. Nach 15 Minuten Einturnen setzen sich die Kids aufs Velo, abgerundet wird das Training mit einer halben Stunde Körpertraining – Beweglichkeit und Kraft sind die wichtigsten Elemente dabei.
Viele Kunstradfahrer*innen beginnen im Alter von 6 bis 8 Jahren mit dem Training, für Wettkämpfe zugelassen ist man in der Regel rund ein Jahr später, wenn man 15 bis 20 Figuren beherrscht. Ab dem 12. Lebensjahr beschäftigen sich die Kunstradfahrer*innen zusätzlich mit Mentaltraining. Ab diesem Zeitpunkt werden komplexere Figuren geübt – zeitgleich kommt entwicklungspsychologisch ein gewisses Risikobewusstsein hinzu: Die Tendenz oder auch Fähigkeit, mehr zu reflektieren: Kann ich das? Bin ich gut genug? Sieht das auch wirklich gut aus? Bei Wettkämpfen können solche Gedanken einschränken, immerhin verfügt man nur über einen Versuch, eine Figur richtig zu präsentieren. In mentalen Trainingseinheiten üben die Fahrer*innen, ihre Gedanken unter Kontrolle zu behalten und Zweifel zu beseitigen. «Das ist eine Schule fürs ganze Leben», sagt Claudia Jiricek. Treten die Fahrer*innen ins Junior*innenalter – also zwischen 15 und 18 Jahre – ein, kommt zusätzlich noch das Ausdauertraining hinzu.
Auf der anderen Seite der Halle übt Valerie indes noch immer den Kopfstand. Sie ist eine der besten Kunstradfahrerinnen ihres Alters. «Ich habe lange überlegt, ob ich will, dass sie das auch macht», erzählt ihre Mutter Claudia. Auch, weil man als Kind nicht unbedingt von der eigenen Mutter trainiert werden will. Aber dann hätten doch die schönen Seiten überwogen. «Die Szene ist klein und übersichtlich, man trifft auf der ganzen Welt immer wieder die gleichen Leute an.» Auch wenn man Minuten später dann gegeneinander antrete, wünsche man sich vor dem Wettkampf gegenseitig Glück. «Es ist eine gute und gesunde Welt», sagt Claudia Jiricek. Und eine zeitintensive: Sie selbst arbeitet 40% in der Radiologie im Kantonsspital Winterthur. Dazu steht sie fast jeden Abend als Trainerin in der Turnhalle Laubegg. Dass ihre beiden Kinder ebenfalls in irgendeiner Form in den Radsport involviert sind, hilft sehr – der Sohn ist begeisterter Mountainbiker. Sowohl Claudia wie auch Marcel sind ausgebildete J&S-Trainer*innen und besuchen regelmässig Weiterbildungen. Durch die vielen Trainingseinheiten und die miteinander verbrachten Wochenenden kennen sich alle sehr gut. «Wir gewinnen und verlieren gemeinsam. Das schweisst uns schon recht zusammen», sagt Claudia Jiricek.