Wie der letzten Ruhestätte Sorge getragen wird

Friedhöfe sind nie nur letzte Ruhestätten. Nebst dem, dass sie als Orte der Trauer und des Rückzugs dienen können, sind sie immer auch Betriebe mit eigenen Aufgaben, Abläufen und Zuständigkeiten. Auf dem Rosenberg sind 16 Personen damit beschäftigt, den grössten Friedhof der Stadt zu organisieren und zu pflegen. Hanna Widmer hat bei einem Rundgang mehr über den Ort, seinen Alltag und dessen Abweichungen erfahren.

Ein Spaziergang über den Friedhof

 

 

Freitagmorgen um halb neun. Die Kälte der Nacht kriecht durch die Schuhsohlen, während wir zu dritt über den Friedhof Rosenberg gehen. Annette Hirschberg, bis Ende April 2023 die Kommunikationsbeauftragte der Technischen Betriebe Winterthur, führt über das weitläufige Gelände. Ihre Nachfolgerin Regina Speiser nutzt die Gelegenheit, den Friedhof ebenfalls etwas besser kennenzulernen. Breite Wege führen über das Gelände, Tafeln mit Anschriften weisen den Weg. Das Verwaltungsgebäude des Friedhofs links vom Eingang wirkt winzig neben der imposanten Aufbahrungshalle. Zur Rechten, etwas weiter oben am Hang, fast ein wenig versteckt hinter den Bäumen: Die Abdankungskapelle und das Krematorium. 

 

Erst aber führt uns der Weg zum Gemeinschaftsgrab Birkenhain. Schlichte Granitplatten sind auf einem Stahlträger aufgereiht und ergeben eine etwa 20 Meter lange, leicht gebogene Form. Auf einigen Platten sind Namen eingraviert, andere wiederum sind leer. Auf dem Kies davor stehen einzelne Blumentöpfe. Nebenan, auf der Wiese im Birkenhain, sind die Urnen beigesetzt. «Jedes Grab wird im GIS, dem kantonalen geografischen Informationssystem, erfasst – so ist ersichtlich, welche Urne wo beigesetzt ist», erklärt Annette Hirschberg. Wer eine bestattete Person sucht, kann gleich beim Eingang des Friedhofs einen QR-Code scannen, den Namen eintippen und erhält so den direktesten Weg zum Grab angezeigt. Bei 170 000 Quadratmetern Gesamtfläche kann das durchaus hilfreich sein.

 

Gleich oberhalb des Gemeinschaftsgrabs Birkenhain findet man das Kolumbarium – eine Form des Urnennischengrabs: Im pavillonähnlichen Bau sehen fast alle Urnen gleich aus: Elegante, jadegrüne Gefässe, die allein oder zu zweit auf der Innen- und Aussenseite des Baus in «Privatnischen» beigesetzt sind. Der Winterthurer Architekt Robert Rittmeyer, der die 1914 eröffnete Anlage entworfen hat, wollte ursprünglich noch viel mehr dieser Kolumbarien aufstellen, um «Abwechslung in das Grabsteinmeer zu bringen», wie er sagte. Doch es blieb bei dem einen. Warum die weiteren Kolumbarien nie realisiert wurden, ist nicht überliefert.

Wer den Architekt Rittmeyer kennt, erkennt auch dessen Handschrift auf dem Friedhof. 1945 sagte er: «Die Urzelle des Friedhofes ist das rechteckige Grab und da es sehr wesentlich ist, dass man sparsam vorgeht mit dem Land, in dem die Toten ruhen sollen, wird auch das Grabfeld logischerweise ein Vielfaches dieses Rechteckes, also wieder ein solches, sein. Zudem ist diese Form für die Ordnung der ganzen Anlage und für die leichte Auffindbarkeit des Einzelgrabes die gegebene.» Grossen Pomp sucht man auf dem Rosenberg vergebens. So vielseitig die einzelnen Grabstätten sind, so ist immer eine gewisse Zurückhaltung erkennbar. «Im Tod sind alle gleich», lautete Rittmeyers Prinzip.

 

Der Architekt ist 1960 verstorben, die Friedhofslandschaft hat sich seither verändert – und verändert sich auch weiterhin. Das eher junge Grabfeld «Blüten und Rosen» im hinteren Teil des Friedhofs ist ein beliebter Bestattungsort, viele Gräber sind bereits belegt. Es ist so bepflanzt, dass zu jeder Jahreszeit etwas blüht – daher der Name. Auch die Baumgräber, bei denen pro Baum acht Holzurnen beigesetzt werden, sind begehrt. Da im Moment alle Baumgräber belegt sind, wurde beim Kanton beantragt, im Wald ausserhalb des Friedhofs weitere Waldgräber anlegen zu dürfen. Vorgesehen ist, dass künftig um 200 Bäume 1600 Gräber geschaffen werden. Wird dies bewilligt, werden schon ab Mitte 2023 von der geplanten Anzahl 512 Waldgrabstätten zur Verfügung stehen.

 

 

 

 

Pflanzen und Sorgen

 

Für die Pflege und Bepflanzung der Anlage und der Gräber zuständig sind Peter Grolimund und sein Team der Stadt. Arbeiten gibt es auf dem grössten Friedhof Winterthurs mehr als genug. Dreimal jährlich gibt es Bepflanzungsänderungen; zu Ostern, Pfingsten und den Allerheiligen am 1. November. 70 000 Pflanzen werden im Frühling gepflanzt, 80 000 im Sommer – und das nur auf dem Friedhof Rosenberg.

 

Wir kommen auf Exhumierungen zu sprechen. Im Kanton Zürich braucht es dafür «ausserordentliche Gründe», sagt Peter Grolimund. Nur in wenigen Ausnahmefällen werde in Zürich eine Exhumierung bewilligt. Je nachdem sei dies auch gar nicht so einfach: Der Boden eines Friedhofs könne je nach Platzverhältnissen dreifach belegt werden, immer unter Einhaltung der vorgegebenen Ruhefrist nach einer Beisetzung. Es kann also vorkommen, dass an der gleichen Stelle drei Särge übereinander liegen. Im Moment sei aber genug Platz vorhanden, sodass es in den nächsten Jahren nur einfache Belegungen geben werde.

 

Peter Grolimund ist Gärtner, kommt bei seiner Arbeit jedoch immer wieder in Situationen, in denen er sich nebst dem Bepflanzen auch um die trauernden Menschen kümmert: Je nach Situation geht er auf die Person zu, um ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Solche Gesten würden sehr geschätzt.

 

Dass eine Person an einem für sie wichtigen Ort ausserhalb eines Friedhofs ihre letzte Ruhestätte finden wolle, das könne Peter Grolimund nachvollziehen. Allerdings bleibe den Angehörigen dann oftmals ein Ort zum Trauern verwehrt – wenn zum Beispiel eine Aschenstreuung auf einem Berggipfel vorgenommen wird.

 

 

Überreste und Übergänge 

 

Der Rundgang führt uns weiter zum Krematorium, wo es etwas wärmer ist als draussen. Mirco Meienhofer begrüsst uns an diesem Märzvormittag im T-Shirt: Im Kremationsofen herrschen Durchschnittstemperaturen von knapp 800 Grad, eine Hitze, die auf den Raum abstrahlt. Durch ein kleines Guckloch lässt sich ins Innere des Ofens schauen: Der aktuelle Kremierungsprozess ist schon fortgeschritten, es sind nur noch die Umrisse eines Körpers erkennbar. Rund eine Stunde dauert es, bis eine verstorbene Person vollständig kremiert ist. Der Ofen ist von Montag bis Freitag von 5 bis 22:30 Uhr in Betrieb. Die Anlieferung der Särge folgt einem vorgegebenen Ablauf. Die Bestatter*innen fahren direkt mit dem Auto in den unterirdischen Teil der Aufbahrung. Bevor die Särge in einen Kühlraum gebracht werden, übergeben die Bestatter*innen den Mitarbeitenden die Anliegen der Angehörigen. «Wünschen es die Angehörigen, werden die Verstorbenen in einen der 20 Aufbahrungsräume gebracht, bevor sie kremiert werden», sagt Annette Hirschberg. Geschützt durch eine Glasscheibe liegt die verstorbene Person dort im offenen Sarg. Die Aufbahrungshalle ist rund um die Uhr zugänglich, bis zu einer Woche können Verstorbene besucht werden.

 

Mirco Meienhofer holt einen Sarg aus der Kühlkammer und öffnet behutsam die Abdeckung einen Spalt breit. «So kommt die Luft besser in den Sarg», sagt er, bevor er den Sarg in den Ofen fährt. Im Schnitt werden 14 bis 18 Personen pro Tag im Rosenberg kremiert, pro Jahr sind es insgesamt ungefähr 3’000. Die Verstorbenen kommen aus der Stadt und Umgebung. «Die Stadt Winterthur hat mit rund 100 Gemeinden Verträge für die Kremation ihrer Verstorbenen, weil die Gemeinden selbst keine Krematorien haben», erklärt Annette Hirschberg.

 

Im Untergeschoss betrachten wir die Überreste in einem Behälter aus Metall, den Mirco Meienhofer unter dem Kremationsofen hervorholt. Auf einer Tonplakette ist eine fünfstellige Nummer eingraviert. Diese wurde vor der Kremation auf den Sarg gelegt und dient zur Identifikation: «So stellen wir sicher, dass es sich um die richtige Person handelt», sagt der gelernte Ofenbauer. «Von einem verbrannten Holzsarg selbst bleiben knapp zwei Esslöffel Asche übrig. Dazu kommen ein paar Sarg- oder Haarklammern, manchmal auch ein künstliches Hüftgelenk – und natürlich die sterblichen Überreste.» Körperfremdes Material, wie zum Beispiel Prothesen, wird in den Recyclingprozess gegeben. Auf Wunsch können Angehörige solche Gegenstände behalten.

 

Hier, im Untergeschoss des Krematoriums, stapeln sich gedrechselten Urnen, welche aus Holz von Winterthurer Wäldern hergestellt werden. Zudem gibt es Urnen, die in der Brühlgutstiftung aus Einsiedler Ton gefertigt werden und sich, da sie nur getrocknet und nicht gebrannt werden, nach einigen Tagen im Boden auflösen. 3 Kilogramm schwer ist eine gefüllte Urne in der Regel – ähnlich schwer wie ein durchschnittliches Neugeborenes: «Wie man auf die Welt kommt, so geht man auch wieder», meint Mirco Meienhofer.

 



Feingefühl in der Verwaltung

 

Links vom Haupteingang sitzen Cornelia Graf und ihre sechs Kolleg*innen am Schalter der Friedhofsverwaltung. Sie sind unter der Woche die Ansprechpersonen für Hinterbliebene, Besuchende und die besagten Vertragsgemeinden. An diesem Freitagmorgen hat die Leiterin der Friedhofsverwaltung Zeit für ein Gespräch – an einem Montag sähe dies anders aus, gerade nach dem Wochenende müssten viele Anrufe beantwortet werden. Anders als der Jobtitel es vermuten lässt, besteht der «Verwaltungsjob» nicht nur aus bürokratischen Prozeduren. In der Friedhofsverwaltung sei viel psychologisches Feingefühl gefragt: «Wenn jemand einen Trauerfall meldet, gilt es sich mit Nachfragen heranzutasten und herauszufinden, in welchem Stadium des Trauerprozesses sich die Person befindet», erklärt Cornelia Graf. Das brauche Empathie, denn die Angehörigen, die sich bei ihnen melden, befänden sich meist an einem sehr schwierigen Punkt in ihrem Leben. Oft könne mittels einer klaren und pietätvollen Kommunikation dem Gegenüber Halt geboten werden. 

 

Trotz viel Hektik im Tagesgeschäft würden während eines Gesprächs die Einzelheiten mit den Angehörigen in Ruhe festgelegt. Cornelia Graf ist es wichtig, dass die Angehörigen wissen, dass es bei den finanziellen Angelegenheiten Fristen und Vorgaben gibt, sowie Hilfsmittel wie To-Do-Listen, die im Internet verfügbar sind. Eine Aufgabe der Angestellten ist es, mit Wissen und Erfahrung zur Seite zu stehen: Wie wird der letzte Wille in Bezug auf Bestattung oder Trauerfeier umgesetzt? Wenn kein letzter Wille vorliegt, wer darf oder muss den Trauerfall melden? Welche Dienstleistungen werden finanziell von der Stadt übernommen, welche nicht? Zudem falle für sie auch viel Organisatorisches an: die Information und Koordination mit Bestatter*innen, Seelsorger*innen, Sakristeien, Pfarrämtern, Gärtnereien und weiteren Involvierten. Auf der Winterthurer Friedhofsverwaltung auf dem Friedhof Rosenberg können zwar alle Behördengänge an einem Ort erledigt werden, zu anspruchsvollen Situationen könne es jedoch kommen, wenn Unstimmigkeiten bestehen – wenn zum Beispiel neue Partner*innen und Kinder einer verstorbenen Person nicht gleicher Meinung sind. In solchen Fällen würden die gesetzlichen Grundlagen beigezogen.

 

Nebst den Gesetzen gibt es weitere Vorgaben, die der Bürokratie des Ablebens Form geben: Für die Grundkosten einer Bestattung kommen in Winterthur die Steuerzahler*innen auf. Dies regelt die Friedhofsverordnung des Kantons Zürich. So sind zum Beispiel Sargbeisetzungen inklusive Sarg, Kremation mit einer Standardurne und Miete eines Gemeinschafts- oder Reihengrabs inbegriffen. Besondere Wünsche wie spezielle Urnen oder die Miete eines Privatgrabs gehen zu Lasten der Angehörigen. Gehörte die verstorbene Person einer Landeskirche an, darf ein kostenfreies Orgelspiel für die Trauerfeier angefordert werden. Auch Angehörige von Aussengemeinden können die Abdankungskapelle Rosenberg mieten. 40 bis 50 Minuten sind für Trauerfeiern in der Abdankungskapelle vorgesehen. «Logistisch herausfordernd wird es, wenn eine buddhistische oder hinduistische Abdankung gewünscht wird», berichtet Cornelia Graf. Diese Religionen sehen eine Trauerfeier von rund 3 Stunden vor. «Es ist eine grosse Herausforderung, gute Lösungen zu finden, wenn viele Termine bereits vergeben sind», erläutert die Leiterin der Friedhofsverwaltung. Nebst buddhistischen Abdankungen finden auch jüdische und muslimische Beerdigungen statt. Beide Religionen haben auf dem Friedhof Rosenberg ein eigenes Grabfeld.

 

Zeitlich anspruchsvoll können auch Überführungen von der Schweiz ins Ausland sein. Diese werden von Bestatter*innen ausgeführt, die Koordination vorab liegt jedoch bei der Friedhofsverwaltung. Muslimische Bestattungen zum Beispiel müssten eigentlich noch am Tag des Todes geschehen. Wichtig sei, dass die rituelle Waschung zeitnah und vor der Überführung durchgeführt werde. Der Sarg werde sowohl für eine Autofahrt wie auch für einen Flug verzinkt. Der Islamische Verein oder islamische Bestatter*innen unterstützen die Angehörigen oft bei der Organisation. Ein trauriges Schicksal droht besonders Menschen mit Fluchterfahrungen, die aus politisch motivierten Gründen ein Land verlassen mussten: Es kann vorkommen, dass eine Regierung einen verstorbenen politischen Flüchtling für die Beisetzung nicht wieder einreisen lässt, was für die Angehörigen vor Ort oft nur schwer zu ertragen sei, erzählt Cornelia Graf.

 

Aussergewöhnliche Geschichten bekommt sie viele mit – sei es bei der Suche nach Angehörigen, beim Herausfinden der Identität einer verstorbenen Person oder bei Todesfällen von Winterhurer*innen im Ausland: «Nicht alle sterben im Spital, im Heim oder Zuhause». Auch wenn uns das Sterben irgendwie alle vereint, so kann es am Ende doch sehr individuell sein – und genau das macht es zu einem wichtigen und spannenden Thema, dem eigentlich mehr Beachtung zustehen würde als ein Dasein in der Peripherie von Gesprächen.

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