Warum die Kulturstadt um ihre Zukunft bangt

Zahlreiche Institutionen und engagierte Menschen sorgen das ganze Jahr über für ein abwechslungsreiches kulturelles Angebot in Winterthur. Aktuell wird ausgehandelt, wie die Stadt dieses Angebot in den nächsten Jahren mit befristeten Subventionsbeiträgen unterstützen wird. Bereits jetzt ist klar, dass nicht alle Institutionen auf die gewünschte finanzielle Unterstützung zählen können. Die Verunsicherung in der Kulturszene ist gross.

«Wenn wir wieder keine Subventionsgelder bekommen, gibt es in Winterthur bald ein Theater weniger», betont Jordi Vilardaga. Der künstlerische Leiter des Theater Ariane bangt um die Zukunft des Zimmertheaters. Wenn das kleine Theaterhaus am Lindspitz seinen geforderten Betrag von der Stadt nicht erhält, steht es vor dem Aus. Mit den Subventionsbeiträgen fördert die Stadt die Kulturinstitutionen und Kulturvereine mit jährlich wiederkehrenden Beiträgen und gibt Kulturschaffenden damit eine gewisse Planungssicherheit. Diese fehlt Jordi in seinem Zimmertheater aktuell: Gründungsmitglieder, welche zurzeit zu einem grossen Teil ehrenamtlich arbeiten, stehen kurz vor der Pension. Die nächste Generation soll aber fair entlöhnt werden und angemessene Sozialleistungen erhalten. Dadurch entstünden nicht per se Mehrkosten, doch: «Diese chronische Selbstausbeutung und Unsicherheit, mit der wir seit Jahrzehnten funktionieren, ist nur möglich, wenn man so eine Sache selber auf die Beine gestellt hat. Wer tut sich das sonst an?», fragt sich Jordi. Trotzdem sei es so, dass es Ende Monat immer schwierig sei, alle anfallenden Rechnungen bezahlen zu können. «Seit 13 Jahren kommen wir ohne feste Subventionen aus. Nun sind wir allmählich müde und ernüchtert. Ein Subventionsvertrag wäre unsere letzte Hoffnung», stellt er klar. Zurzeit möchten 22 Kulturinstitutionen ihren befristeten Subventionsvertrag ab 2025 um weitere vier Jahre verlängern. Die meisten von ihnen haben eine höhere Summe beantragt, als sie bisher erhalten haben. Ausserdem sind drei weitere Institutionen dazugekommen. Einige andere sind bereits aus dem Rennen um die Subventionsbeiträge ausgeschieden, beispielsweise die Jungkunst, das Radio Stadtfilter und kürzlich auch das Coucou. Um dem geforderten Betrag der Institutionen gerecht zu werden, müsste die Stadt das für die Kultursubventionen reservierte Budget von 3,2 Millionen Franken auf rund 4,7 Millionen erhöhen. Im Kontext der aktuellen Herausforderungen und allgemeinen Sparmassnahmen ist eine solche Erhöhung laut Stadtpräsident Michael Künzle allerdings nicht möglich: «Auch die Kultur muss einen Beitrag leisten, damit wir ein städtisches Budget, bei welchem die Einnahmen und Ausgaben möglichst im Einklang stehen, erstellen können. [...] Was ich jetzt schon sicher sagen kann, ist, dass wir den von den Institutionen insgesamt beantragten zusätzlichen Betrag in diesem Umfang nicht ausrichten können.» Solche Aussichten lassen Hoffnungen schwinden. Angelina Schlegel, Kommunikationsleiterin der Afro-Pfingsten, meint dazu: «Ich empfinde die Stimmung in der Kulturbranche aktuell als angespannt. Auch wir bei den Afro-Pfingsten sind weit entfernt von finanzieller Stabilität. Deswegen sind die Subventionsbeiträge für uns extrem wichtig.»

STEIGENDE UNSICHERHEIT, JEDES JAHR ERNEUT
Nebst den befristeten Verträgen gibt es auch unbefristete Subventionsverträge, welche nicht alle vier Jahre neu ausgehandelt werden müssen. In Winterthur erhalten das Musikkollegium, das Kunstmuseum, das Technorama und das Stadttheater solche gesicherten Gelder. Laut Geschäftsbericht des Amts für Kultur beliefen sich diese 2022 auf einen Gesamtbetrag von etwas mehr als 11 Millionen Franken. Darin enthalten ist auch ein Teuerungsausgleich von über 44’000 Franken. Die anderen Institutionen mit befristeten Verträgen teilen sich die restlichen 3,2 Millionen aus dem Subventions-Pot. Hier wurde kein Teuerungsausgleich vorgenommen. Zwar finanzieren sich die meisten Kulturbetriebe auch mit Geldern von Stiftungen und – wer keinen Subventionsvertrag hat – den jährlich neu verteilten Projektbeiträgen der Stadt. Diese Projektbeiträge im Umfang von knapp 620’000 Franken sind aber nicht nur viel tiefer, sie geben auch weit weniger Planungssicherheit als ein Subventionsvertrag. Die Kulturschaffenden müssen also jedes Jahr erneut bangen, ob ihre Projekte wieder finanziert werden können. Wieso die einzelnen Institutionen für ihr Schaffen mehr Geld benötigen, begründet die Kulturlobby, welche sich für die politischen Anliegen der Kulturinstitutionen einsetzt, mit verschiedenen Argumenten. Faktoren wie Nachhaltigkeit, Diversität und Inklusion wurden in den letzten Jahren zu Kostenpunkten. Man denke hier an Mehrwegbecher in der Gastronomie, Verwendung lokaler Produkte, die Schulung von Awareness-Teams sowie allgemeine Barrierefreiheit, die gewährleistet werden soll. Ein wichtiger Kostenpunkt ist die Professionalisierung. Viele Kulturschaffende haben mit ehrenamtlicher Arbeit angefangen und sich im Laufe der Jahre professionalisiert. Sie können die Betriebe nur weiterführen, wenn sie angemessene und faire Löhne bezahlen können. Das gilt zum Beispiel fürs Coucou, die Literatur- und Spoken- Word-Reihe «lauschig» oder das Theater Ariane. Steigende Fixkosten und auch die Abstimmung vom Juni 2023 über den gesetzlichen Mindestlohn in der Stadt Winterthur kommen dazu. Alles Argumente, denen laut Kulturlobby bei der Neuaufsetzung der Subventionsverträge Rechnung getragen werden müsse. 

DIE KULTUR IN WINTERTHUR WIRD GESEHEN
Auch wenn sich viele Kulturschaffende in Bezug
auf ihre finanziellen Bedürfnisse von der Stadt nicht gesehen fühlen, bleibt dieser die Relevanz der Kulturszene nicht verborgen. «Das reiche Kulturangebot und die breit engagierte, vielfältige Kulturszene ist eine grosse Stärke der Stadt Winterthur», betont der Stadtpräsident auf Nachfrage. «Dabei ist Kultur fraglos weit mehr als nur ein Standortvorteil. Kultur stiftet Identität, mobilisiert Fantasie und Kreativität, fördert Kommunikation, Vernetzung und soziale Integration.» Tatsächlich bringt Kultur nicht nur Freude und Abwechslung ins Leben, sondern kann auch eine wichtige Rolle in der gesellschaftlichen Bildung übernehmen. Nicht selten ist es die Teilnahme an einer kulturellen Veranstaltung, die neue Perspektiven auf Geschichte und Gesellschaft eröffnet und Besucher*innen aktuelle Themen kritisch reflektieren lässt. Oft schafft die Kulturszene auch ein Gemeinschaftsgefühl. Menschen identifizieren sich mit der Stadt, weil sie die Kultur teilen. Regelmässig statten Leute aus dem Umland Winterthur einen Besuch ab, um das Kulturangebot zu geniessen, was der Stadt auch einen wirtschaftlichen Nutzen bringt.

Dies alles ermöglichen viele ehrenamtliche oder lediglich teilentlöhnte, engagierte Menschen. Die Neuaushandlungen der befristeten Subventionsverträge wären die Gelegenheit für die Stadt, diese Arbeit nicht nur mit Anerkennung, sondern auch mit finanzieller Wertschätzung zu würdigen. Der Kanton Zürich hat diese Gelegenheit ergriffen: Vergleicht man die bisherigen Beiträge des Kantons mit jenen für die kommende Periode (2024–2027), erkennt man ein bezeichnend höheres Budget für die Kulturregion Winterthur. Dies ist durchaus ein Grund zur Freude, doch aufgrund des Subsidiaritätsprinzips, nach welchem die Zusammenarbeit zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden funktioniert, müsste die Stadt ihre Kulturinstitutionen stärker unterstützen als der Kanton. Gleicht Winterthur die Beiträge also nicht an, könnte die Winterthurer Kultur dies bei den nächsten Beitragsverhandlungen mit dem Kanton zu spüren bekommen.

EIN ZEICHEN VOM KANTON AN DIE KULTURSTADT
«Die höheren Beiträge sind ein klares Signal an
die Stadt», sagt Nicole Mayer, Geschäftsführerin der Kulturlobby Winterthur. Jetzt komme es nur noch darauf an, wie dieses Zeichen von der Stadt gelesen werde. «Winterthur ist bis weit über die Stadtgrenzen hinaus als Kulturstadt bekannt und beliebt. Und ein gutes Image muss man bekanntlich erst mal loswerden», stellt die ausgebildete Kulturmanagerin schmunzelnd fest. Oft sei Besucher*innen von Kulturveranstaltungen aber nicht klar, wie viel Freiwilligenarbeit oder private Mittel und Sponsoring dahinterstecken. Wegen des Rufs der Kulturstadt gehen viele davon aus, dass die Angebote weitgehend von der Stadt finanziert und ermöglicht werden. Stefan Dobler, kaufmännischer Leiter der Internationalen Kurzfilmtage, ist der Meinung: «Trotz angespannter derzeitiger Wirtschaftslage sollte Winterthur Schritt halten und neue finanzielle Wege finden, um das Label Kulturstadt weiterhin verteidigen zu können.» Für ihn ist der Subventionsbeitrag der Stadt elementar, um den Stellenwert der Kultur auch auf finanzieller Ebene zu zeigen. An der Eröffnungsrede der Kulturnacht am 23. September 2023 sagte auch Stadtpräsident Michael Künzle: «Federn, mit denen man sich schmückt, müssen auch gepflegt werden.» Zurzeit pflegt die Stadt Winterthur die Kultur mit befristeten Subventionsbeiträgen, die seit 2017 fast gleichgeblieben sind. Bei den letzten Verhandlungen wurden die Verträge verlängert, doch das Budget kaum erhöht.

Die Verhandlungen für die neuen Subventionsverträge laufen seit Mitte September 2022. Der Prozess dauert somit bereits über ein Jahr. Eine lange Zeit, in der die Kulturinstitutionen nicht wissen, mit welchen Beiträgen sie in Zukunft rechnen können. Diese Unsicherheit macht auch Stefan Dobler von den Kurzfilmtagen zu schaffen. Ihm ist es ein grosses Anliegen, seine Mitarbeitenden fair bezahlen zu können und ihnen einen sicheren Arbeitsplatz zu bieten. In der Kultur tätig zu sein, könne sich nicht jede*r leisten und das solle nicht so sein: «Nach dem Schulabschluss versuchen sich viele junge Leute in der Kultur, müssen jedoch aufgrund des finanziellen Drucks die Branche wechseln. Spätestens sobald Familie und Haus geplant sind, fühlen sich viele gezwungen, die Kultur aufzugeben. Menschen brauchen eine gewisse Lebensqualität und finanzielle Sicherheit.» Diese Sicherheit kommt für Stefan Dobler aus den Subventionen. Gibt es für die Kurzfilmtage kein Geld oder nicht mehr Geld als bisher, gilt es für ihn, Ressourcen zu planen, um mehr Stiftungen anzufragen und weitere Unterstützung einzuholen. Er könnte seinem Anspruch, ein fairer Arbeitgeber zu sein, nicht so gerecht werden, wie er sich das wünscht.

DIE KULTUR WILL DER STADT TREU BLEIBEN
Auch wenn die Subventionsbeiträge nicht so ausfallen sollten wie erhofft, so werden die Kurzfilmtage versuchen, der Stadt treu zu bleiben: «Uns gefällt es hervorragend in dieser Stadt. Winterthur bietet alles, was wir uns für die Kurzfilmtage wünschen könnten», so Stefan Dobler. Dazu gehöre die praktische Grösse, das familiäre Ambiente und die vielfältige kulturelle Landschaft. Auch das Theater Ariane hat sich einen treuen Kund*innenstamm in der Stadt aufgebaut und könnte sich nicht vorstellen, ihr Zimmertheater an einem anderen Ort zu haben. Dieser Meinung schliesst sich auch Angelina Schlegel von den Afro-Pfingsten an. «Wir sind gerne in Winterthur zuhause. Unser Festival ist hier verankert.» In Winterthur sind viele Gegebenheiten für eine prosperierende Kultur da: von den Lokalitäten über engagierte Menschen bis hin zu einem interessierten Publikum. Bleibt nur zu hoffen, dass die Geldverteilung der Stadt dies nicht zum Kippen bringen wird – weder auf finanzieller Ebene noch auf der des bitteren Nachgeschmacks mangelnder Wertschätzung. Nicole Mayer von der Kulturlobby wagt zu träumen: «Stell dir vor, wie die Kultur in Winterthur aufblühen würde, wenn alle genug Geld für ihre Projekte und Anerkennung für ihre Arbeit erhalten würden. Das würde eine riesige Welle von Motivation auslösen.» Ob die Stadt den Ruf der Kultur erhören und sie entsprechend unterstützen wird, zeigt sich im Dezember, wenn der Budgetvorschlag der Stadt ans Parlament weitergereicht wird. Dann wird sich auch zeigen, ob die Menschen in Winterthur trotz allem weiterhin motiviert bleiben, um Neues auf die Beine zu stellen und die Kultur leben zu lassen.

NACHTRAG
Der Stand dieser Reportage ist der 15. Oktober 2023.
Es ist möglich, dass einige Informationen bereits nicht mehr aktuell sind.

ALINE GEISSMANN ist Redakteurin beim Coucou.

ALINA KILONGAN
ist Autorin beim Coucou und wohnt mit Aline zusammen. Die beiden sorgen mit ihren ähnlichen Namen immer wieder – auch bei den Interviews für diese Reportage – für Verwirrung.

ASKA SCHÄR studiert visuelle Kommunikation und trinkt gerne Tee in der Sonne.

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