Landschafts-(ge)schichten

Zurzeit schafft die Stadtverwaltung das grösste zusammenhängende Naturschutzgebiet der Region. Es umfasst 54 Hektare, entsteht bei Wülfingen und schafft neuen Lebensraum für seltene Tier- und Pflanzenarten – ein Beispiel dafür, was das Verhältnis zwischen Mensch und Natur heute ist. Umgangssprachlich ist noch immer die Rede von «naturbelassenen» Landschaften. Aber man mag sich fragen, ob dieses Bild noch stimmt? Vielleicht wäre heute die Rede von einer menschbelassenen Natur angebrachter. Im Sinne einer Natur, in die Menschen «aktiv nicht eingreifen» und im Sinne einer Natur, die von Menschen so geschaffen wurde, wie sie ist. In diesem Artikel machen wir ein paar Tiefenbohrungen, erzählen die Geschichten einiger Landschaften Winterthurs – konkret der Landschaften Dättnaus, der Töss und der Gartenstadt insgesamt.

Die Dättnauerweiher

 

Dort, wo der Stadtteil Töss endet und das Land beginnt, das von der Autobahn beherrscht wird, gehst du den Auenrainstutz hinauf. Das Rauschen von Reifen, die mit 120 km/h über Asphalt rollen, lässt du hinter dir, als du die steilen Serpentinenkurven erklimmst. Oben angekommen, auf dem Plateau, reihen sich die Häuser Dättnaus aneinander. Nordwärts, in Richtung Neuburg, erstreckt sich direkt am Siedlungsrand ein langgezogenes Tal, das zwischen dem Ebnet und dem Chromberg liegt. Eine einzelne Strasse, flankiert von Feldern und unterhöhlt von Amphibientunneln, führt hindurch. An ihr liegen zwei Weiher. Schilf, Sträucher, Bäume wuchern entlang den Ufern, verwehren an heissen Sommertagen jenen, die bloss vorbeifahren, den Blick aufs Wasser. Du aber wolltest genau hierher, nimmst den schmalen Pfad, der von der Strasse zum Weiher führt. Als dein Fuss auf den Steg tritt, sinkt er leicht ab. Unter der Wasseroberfläche schwimmen lautlos Fische am dunkelgrünen, quirlblättrigen Tausendblatt entlang. Ein Blässhuhn mit zwei Jungen gleitet über den Weiher, der weisse Schnabel zwischen den tiefroten Augen, umgeben vom schwarzen Gefieder, glänzt in der Sonne. In der Luft schwirren schwarz-weisse, rote, blaue Libellen. Bläst der Wind durch die Pappeln, raschelt es. Dieses Geräusch hat einen anderen Klang als das Schilf … hat einen anderen Klang als die hohen, bronzefarbenen Wiesen, die am Hang wachsen … hat einen anderen Klang als das Lied der Heuschrecken, deren Zirpen den Raum zwischen den Halmen elektrisiert. Die beiden Weiher sind eine Idylle am Rande der Stadt. Du könntest denken, sie wären meilenweit von Winterthur entfernt und stammten aus einer längst vergangenen Zeit. Die Landschaft fühlt sich zeitlos an. Dabei ist sie unfassbar jung.

Natürlich, das Tal ist steinalt. Es entstand vor etwa 18'000 Jahren, als es von einer Eislandschaft bedeckt war. Dort, wo sich heute das rege Leben Winterthurs abspielt, trafen die Ränder des Rhein- und des Linthgletschers aufeinander. Als die Temperaturen stiegen, schliffen die abschmelzenden Wassermassen tiefe Kerben in die unter den Gletschern liegende Gesteinsschicht – in Dättnau bis zu 170 Meter tief. Dann änderten die Schmelzwasserströme ihren Lauf und flossen von der Steigmühle durchs Schlosstal über Wülflingen ins untere Tösstal. Das heutige Flussbett der Töss entstand. In Dättnau füllte sich der Talgrund mit liegengebliebenem Moränenmaterial der Gletscher und Sandsteinstücken sowie Mergel um rund sechzig Meter wieder auf. Diese vor Jahrtausenden sich abspielenden Ereignisse waren massgebend für die Entwicklung des Tals. Die obersten zehn Meter des Talbodens bestehen vor allem aus Lehm – ideale Bedingung für Gewässer. Und tatsächlich, auf einer Karte von 1784 ist zwischen Neuburg und Dättnau ein «Grosser Weyer» eingezeichnet, der sich über die ganze Talsohle erstreckte.

Auf die Phase, in der die geologischen Bewegungen das Tal formten, folgte jene, in der ökonomische Überlegungen das Tal prägten. Im 18. Jahrhundert wurde das Gebiet entwässert. Bald wurde in dem Dorf mit 70 Einwohner*innen Lehm abgebaut. 1876 gründete Johann Jakob Keller eine Handziegelei und 1898 baute sein Sohn Jakob Ulrich eine dampfbetriebene Ziegelei. Die roten Backsteine, die dort produziert wurden, wurden beim Bau der Arbeiterhaus-Quartiere verwendet, die heute noch das Bild einzelner Quartiere prägen und die mitunter aus der Zeit stammen, in der Winterthurs Industrie wuchs und sich bald schon das ausgebeutete Proletariat in der Stadt organisierte. 1900 eröffnete das Arbeitersekretariat in der Helvetia am Bahnhofplatz, 1903 ging aus dem Winterthurer Bezirksanzeiger und dem Anzeiger von Töss die Arbeiterzeitung hervor, 1906 wurde der Politische Arbeiterverein in Seen gegründet und 1911 die städtische Sozialdemokratische Partei. Die Gesellschaft war im Umschwung.

Im Jahr 1921 ist das Dättnauertal komplett trockengelegt. Die Arbeit der Ziegelei Keller wird noch bis 1974 weitergehen. Die alten Lehmgruben fanden in der Zwischenzeit eine neue Verwendung. Sie wurden ab 1947 mit dem Abfall der wachsenden Stadt gefüllt – bis 1959 die Deponie geschlossen und mit Erde bedeckt wurde. Der Kehricht wurde ab dann wieder im «Riet» bei Oberwinterthur gelagert. Jährlich landeten hier etwa 75'000 Liter Kehricht. Innerhalb von vier Jahren entstand der «Stinkberg», der schliesslich im Schweizer Fernsehen als Umweltskandal zu fragwürdiger Berühmtheit gelangte. Als die Ziegelei in Dättnau schloss, wurden die Lehmgruben nach und nach zugeschüttet. Den letzten zwei dieser Gruben war jedoch ein anderes Schicksal beschieden. Nach den Gletscherströmen und den ökonomischen Überlegungen begann nämlich das ökologische Bewusstsein seine Spuren im Tal zu hinterlassen.

Ab den 1950er-Jahren beginnt im Westen das, was nachträglich oftmals als «Konsumgesellschaft» bezeichnet wird – oder in den amüsanten Worten des Ökologie und Philosophie verbindenden Psychoanalytikers Felix Guattari: «the Yankee-way-of-life». In Hinblick auf den Raum, den der Mensch beansprucht, hiess das: Seit 1950 hat sich die überbaute Fläche der Schweiz mehr als verdoppelt, an die 130'000 Hektaren Kulturland sind verschwunden. Der individuelle Bedarf an Wohn- und Wirtschaftsraum wuchs. Damit ging einher, dass die Motorisierung voranschritt, die Nachfrage nach Erdöl grösser, das Autobahnnetz ausgebaut wurde, Landschaften und damit Territorien von Tieren zerschnitten wurden. In Winterthur hiess das konkret, dass 1968 die Autobahnumfahrung und das heute verschwundene Arch-Parkhaus eröffnet wurden. Mit diesen Entwicklungen wuchs allerdings das Umweltbewusstsein, zu dem die Gegenkultur der 1968er-Generation mit ihrer Orientierung an nicht materialistischen Werten beitrug. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird das Stadtzentrum Winterthurs nach und nach wieder autofrei. Die Bewohner*innen erhalten Raum zum Laufen – und Leben – zurück. Die 1980 lancierte Initiative mit dem zynischen Namen «für eine lebendige Altstadt», die gegen ein autofreies Stadtzentrum gerichtet war, wird abgelehnt. Auf Bundesebene tritt 1985 ein Gesetz zum Umweltschutz in Kraft, auf das eine ganze Reihe weiterer folgen. All diese Entwicklungen waren insofern für Dättnau wichtig, als dass erstens die Autobahnumfahrung nicht durch dieses Tal geführt wurde – was zur Debatte stand – und zweitens das aufgekommene Umweltbewusstsein sicherlich die Voraussetzung dafür war, dass in den 1990er-Jahren die Lehmgruben zu Weihern umgestaltet wurden.

Und hier stehst du nun also vor dem Dättnauerweiher, diesem scheinbar so zeitlosen Ort. Ein Weiher, der 1992 ausgebaggert wurde. Der Beobachtungssteg, auf dem du stehst, wurde 2016 vom Vierwaldstättersee hierhergebracht und ersetzte den in die Jahre gekommenen Holzsteg. Der Dättnauerbach wurde 2006 wieder offengelegt und renaturiert, so dass er auch bei einem Jahrhunderthochwasser nicht mehr überläuft. Du bist an zugeschütteten und überbauten Deponien vorbeigefahren, in denen der Abfall über Jahrzehnte unter der Erde vor sich hin gärte und die in den 2010er-Jahren mit fünf Entgasungsgräben ausgestattet werden mussten, um das sich dort entwickelnde Methan und Kohlendioxid abzuführen.

Was erinnert heute noch an all diese Ereignisse? Eine unscheinbare Infotafel, die am Rand der beiden Weiher steht, die in einem der artenreichsten Naturschutzgebiete Winterthurs liegen.

Die Töss

 

Du bist an der Töss und es plätschert. Das Wasser fliesst unaufgeregt über die Steine, sammelt sich in kleinen Becken, wirbelt. Es reflektiert das Sonnenlicht, auf den Pflanzen am Ufer entstehen bewegte Muster. Auch hier siehst du häufig Libellen schwirren, gelegentlich steht auf langen Beinen ein Fischreiher im Flussbett. Einen Eisvogel hast du noch nicht gesichtet, jedoch soll es hier welche geben. Aber vielleicht befindest du dich nicht im ruhigen, renaturierten Leisental, sondern weiter flussabwärts, auf Höhe des Reitplatzes, wo du grillierst, dich im Wasser abkühlst oder mit dem Rauschen der Autobahn im Ohr auf einem der zahlreichen kleinen Kiesstrände wegdöst, während in regelmässigen Abständen ICs und S-Bahnen vorbeirattern. Oder du bist in Richtung Wülflingen unterwegs – auf den Uferwegen, den Trampelpfaden am Waldrand, dem Trottoir der Schlosstalstrasse. Du kommst am Rieterpärkli und an der Schweizerischen Technischen Fachschule vorbei, wo Menschen auf Betontreppen in der Sonne sitzen. Und dann am Wasserfall bei der Wespi-Mühle, an den du aufgrund des Strassenlärms näher herantreten musst, um ihn wirklich tosen zu hören. Vielleicht verweilst du an der Stelle, an der die Eulach in die Töss mündet, bevor du nahe der Hard Steine über das breite, flache Flussbett schnellen lässt. Gehst du dann noch zur Affenschlucht, bist du schon fast ein*e Tourist*in – schliesslich liegt diese in Neftenbach. Du lässt deine Gedanken weitertreiben: In Bern, Basel, Zürich können sich die Bewohner*innen quasi vom Gehsteg aus in ihre jeweiligen Stadtflüsse fallen lassen. Winterthurer*innen hingegen begeben sich in eines von fünf Schwimmbäder, hüpfen in Stararchitekten-Brunnen oder gehen eben an den Stadtrand beziehungsweise noch weiter hinaus, um zu, naja, «baden». Bitte nicht missverstehen: An der Töss lässt es sich wunderbar spazieren, entspannen, aufs Wasser starren, stellenweise reingehen, manchmal gar hineinspringen, den Körper grossflächig kühlen, auf den grossen Steinen sitzen, den Mond betrachten, über Raum und Zeit nachdenken … aber ein Badefluss ist sie nicht wirklich. (Auf diese Tatsache verweist auch die Inexistenz von Flussschwimmbädern auf Stadtgebiet.)

Bei der Brunibrugg betrachtest du einen Flussabschnitt, der dich möglicherweise an englischen Rasen denken lässt. Die Töss wurde Mitte des 19. Jahrhunderts noch als der «schädlichste» Fluss im Kanton bezeichnet. Ihr Name geht auf das germanische «thausj-» zurück – was «tosend, lärmend» bedeutet. Sie war früher dafür berüchtigt, bei Hochwasser über die Ufer zu treten und grosse Schäden zu verursachen. Dieser unberechenbare Charakter passte nicht ins 19. Jahrhundert, die Zeit der beginnenden ökonomischen Rationalisierung. Passte weder zu den zahlreichen, sich zunehmend mechanisierenden Baumwollspinnereien noch zu den mit ihnen entstehenden Siedlungen. So wurde der Fluss nach und nach passend gemacht. Ab 1800 wurden das Tösstal und das Unterland verkehrstechnisch erschlossen. 1844 waren die Strassen von Fischenthal nach Winterthur und von Winterthur nach Bülach fertiggestellt, die Tösstal- und Bülach-Zuglinien fuhren ab 1876. Im selben Jahr trat die Töss über die Ufer und verursachte verheerende Schäden an den angrenzenden Wäldern und Siedlungen. Daraufhin ordnete die damalige Kantonsregierung Flusskorrekturen an. Um auf künftige Hochwasser vorbereitet zu sein, wurde das bis dahin mäandrierende, verzweigte Flussbett der Töss begradigt sowie mit Uferbebauungen und rund 700 Schwellen stabilisiert. Zwischen 1881 und 1910 wurde ein Grossteil der 57 Flusskilometer so gezähmt. Will heissen, entsprechend des ökonomischen Interesses der herrschenden Klasse umgeformt. Rückblickend liesse sich hierbei auch von «Denaturierung» sprechen: Die Kehrseite des monoton gestalteten Flussbetts war und ist der Verlust der Biodiversität: Den Wasser- und Auenpflanzen wurde der Boden genommen, Brutplätze für Vögel verschwanden, die Schwellen erschweren (heute noch) vielerorts den Fischen die Wanderung. Was damals aufblühte, war vor allem die Industrie Winterthurs.

Nachdem das Schadenspotenzial auf diese Weise gemindert wurde, wurde es eher still an der ehemals tosenden Töss. Der Tumult verlagerte sich auf die Gemeinden, Gesundheitsämter und Zeitungen, in denen zum Beispiel «vor dem Baden in der Töss wegen der Verunreinigung dieses Flusses durch übelriechende und gesundheitsschädigende Abwässer der Stadt Winterthur.» gewarnt wurde. Oder die Gemeinden klagten in Briefen an die Stadt Winterthur, dass sie trotz hoher Arbeitslosigkeit in ihrer Gemeinde ein «Bassin» bauen mussten – aufgrund des «Übelstandes», den der Zustand der Töss darstellte. Gewässer und ihre Nutzung wurden im Laufe der Industrialisierung zum Politikum. Wer ist zuständig, wer ist verantwortlich? Wer geniesst, wer profitiert? Wer schützt, wer pflegt? – fragst du dich vielleicht, während du auf einer Holzbank am Ufer sitzt und einem Hund dabei zuschaust, wie er wieder und wieder denselben Stecken aus dem Wasser holt.

Anfang des 20. Jahrhunderts wurde das erste «Bundesgesetz über die Nutzbarmachung der Wasserkräfte»; in seiner Mitte das erste, seither mehrmals revidierte Gewässerschutzgesetz (GSchG) verabschiedet. Ab den 1970er-Jahren kamen zahlreiche Artikel, Verordnungen und Gesetze hinzu, welche sich mit Umweltschutz, Raumplanung und Wasserrecht beschäftigen. Anfänglich darauf ausgelegt, (weitere) Verunreinigungen der Gewässer zu vermeiden, rückte vor ungefähr 30 Jahren der Wunsch nach Renaturierung in den Fokus. Durch sauberes Wasser allein werden die Lebensräume für Flora und Fauna nicht wiederhergestellt, dafür wären Zustände wie vor den Flusskorrekturen notwendig. Zugleich stehen jedoch noch weitere Interessen im Raum: Seit circa zehn Jahren gewinnt die sich an den Stadtrand schmiegende Töss für die Bevölkerung der Eulachstadt als Naherholungsgebiet zunehmend an Bedeutung. Dazu stellt sie auch den grössten Teil des Grundwassers Winterthurs. Und zudem muss nach wie vor der Hochwasserschutz gewährleistet werden. Die Töss ist ein Gewässer, an das viele Bedürfnisse gestellt werden. Heute versuchen die Entscheidungstragenden – sprich: Stadt, Kanton, Bund – allen Seiten gerecht zu werden, indem der Fluss in zahlreiche Abschnitte gegliedert wird. Jeder einzelne Abschnitt wird geprüft: Was war früher dort? Was wird jetzt dort gemacht? Was wäre dort möglich und sinnig? Den gesetzlichen Rahmen bildet dabei das GSchG, für Planung und Umsetzung sind je nach Gewässerabschnitt die Kantone oder Gemeinden zuständig. Die Renaturierungsbestrebungen sind dabei als Mehrgenerationenprojekt strukturiert: Circa 400 Kilometer Fliessgewässer sollen in den nächsten 80 Jahren renaturiert werden. Die Planung wird auf 20 Jahre ausgelegt und alle 12 Jahre überprüft. Online sind zahlreiche Massnahmenpläne, Berichte und Sanierungsvorhaben zu finden – der fehlenden Weitsicht von damals steht heute eine behördliche PDF-Flut entgegen.

Du bist an der Töss. Es plätschert. Schwarzblaue Libellen flattern um die Insel, die spezifisch als Eisvogel-Brutplatz erbaut wurde. Du sammelst Aprikosenkerne und deine Badesachen, Bierdeckel und Notizbücher ein. Und vielleicht denkst du daran, dass dir jemand mal gesagt hat, dass fötzeln sinnlos ist – es sei denn, du nimmst zehn Mal so viel Abfall mit, wie du selber verursacht hast.

Winterthur, die Natourismusstadt?

 

Winterthur, die Gartenstadt, die waldreichste Stadt der Schweiz, die «grüne Stadt an der Eulach». Winti ist – man munkelts – weithin bekannt als naturbelassene Stadtoase, der ganz und gar nicht-concrete Dschungel. Aber mal ehrlich, wohin bringst du die Leute, die dich besuchen kommen bei Schönwetter, um mit ihnen gemeinsam die viel gepriesene Natur dieser Stadt zu bestaunen? So ganz abseits deines Gartens oder Balkons und ausserhalb der paar sorgfältig gestutzten Grünflächen in Parks, welche die Altstadt zieren? Gibts überhaupt DIE Naturattraktion von Winti? Du googelst die Top-Sehenswürdigkeiten Winterthurs. Auf deinem Desktop tauchen das Fotomuseum, das Kunstmuseum und das Technorama auf. Also doch eher Kultur- als Gartenstadt? Tippst du der Suchanfrage ein «Natur» hinzu, erhältst du ziemlich schnell ziemlich viele Tipps, die dich an ziemlich unerwartete «Winterthurer Orte» führen. Wie wäre es zum Beispiel mit einem Ausflug zum Rheinfall oder ins Zürcher Weinland? (Weil ist ja logisch, die Stadtgrenzen von Winterthur sind so dehnbar wie ein Kaugummi.) Der Mythos der grünen Stadt muss doch irgendwo seine spektakuläre Rechtfertigung haben. Oder gilt Winterthur nur als Gartenstadt, um so nebst ihrem Ruf als Kultur- und ehemalige Industriestadt nicht ganz unnatürlich zu wirken? Geht es darum, ein Bild einer kulturellen, geschäftigen, aber auch grünen Stadt vermitteln zu können? Das Bild einer Stadt, der es an nichts fehlt, ausser vielleicht an einem grossen Gewässer? Oder sind es möglicherweise die naturliebhabenden Stadtbewohner*innen, die mit Flecken von Natur in Miniatur bei sich zuhause oder in ihren neun Quadratmeter Pünten für das Image der Stadt sorgen?

 

Dass eine Stadt einen Ruf bekommt, liegt unter anderem an politischen Entscheiden. Im Februar 1926 veröffentlichte der Stadtplaner Albert Bodmer einen Bericht über die Flächennutzung des Stadtgebiets. Inspiriert vom Gartenstadtmodell des Briten Ebenezer Howard, schwebte ihm eine grüne Stadtentwicklung vor: die Stadt umsäumende Waldkuppen als Naherholungsgebiet; Promenadenwege; Spiel- und Sportplätze in den Quartieren; fünf Freibäder; 200 Hektaren Püntenareal; Friedhöfe als nah gelegene Grünflächen. Bodmer, ein Pionier der Schweizer Stadtentwicklung, war Anhänger der Gartenstadtbewegung. Diese wurde Anfang des 19. Jahrhunderts in Grossbritannien als Antwort auf die schlechten Lebensverhältnisse sowie steigenden Grundstückpreise aufgrund der Industrialisierung gegründet. Die Bewegung propagierte ein Leben im Grünen, mit Parks und Gärten zur Selbstversorgung, sowie das Ideal des Einfamilienhauses. Inzwischen wird der Begriff Gartenstadt vor allem metaphorisch für stark begrünte Städte verwendet. Doch bei einer Metapher soll es nicht bleiben, zumindest nicht in Winterthur. Die Stadt sieht eine Zukunft als Gartenstadt, so ist es zumindest in «Winterthur 2040» zu lesen – dem Dokument, das die Stadt zur räumlichen Entwicklungsperspektive veröffentlicht hat. Wie diese aussieht? Nach innerstädtischen Parks und Plätzen, Waldrandparks, Wald, Hangzonen, Vernetzung, drei Parkringen, privatem Grün, Pünten, Landwirtschaft, Wasserwegen, Strassenräumen und Alleen sowie grünen Zeitzeugen, also schützenswerten Gärten und Freiräume aus verschiedenen Epochen, die erhalten bleiben.

 

Der historisch-politische Blickwinkel reicht dir nicht. Inzwischen hast du dich vom Bildschirm gelöst, bist auf der Suche nach der hiesigen spektakulären Natur selbst losgezogen, durchs Stadtgebiet gestreift, hast deine Füsse in städtischen Gewässern baumeln lassen, bist auf zwei Rädern querbeet bis an die äussersten Zipfel von Winti gestrampelt. Immer wieder fandest du dich hoch oben wieder – umgeben von Natur. Nicht dem Nonplusultra einer atemberaubenden Natur, nach dem du gesucht hast, aber doch mitten im Grün. Und das in kürzester Zeit, egal von welchem Punkt in der Stadt du losgezogen bist. Da stehst du nun, über den Dächern am Rande der Stadt. Vor deinen Augen erstreckt sich die städtische Kulisse, du siehst einige Hochhäuser, zahlreiche Museen, blickst auf tausende Ziegelsteine – und dazwischen immer wieder sattes Grün. Wie fliessend die Grenze zwischen Natur und Kultur ist, denkst du dir. Vielleicht ist es eben nicht die Natur, die in Winterthur gefeiert wird. Sondern die Stadt, die hier aus der Natur heraus zelebriert wird.

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