Wie die Programme in die Kinos kommen

Wie die Programme in die Kinos kommen

Die Kiwi Loge am Oberen Graben, das Kino Cameo auf dem Lagerplatz und das Kino Nische im Kulturzentrum Gaswerk bieten Alternativen zum Mainstream-Kinoprogramm. Doch ganz frei können die Kinos nicht entscheiden, welche Filme schlussendlich auf der Leinwand zu sehen sind. Amina Mvidie hat mit den Programmverantwortlichen über die Faktoren gesprochen, die ihre Auswahl beeinflussen.

Das kommerzielle Kino

Seit Juli 2021 ist Leonardo Tavano Betriebsleiter der Kiwi Kinos AG und damit für die Zusammenstellung des Programms verantwortlich. Er trifft wöchentlich die Filmauswahl für fünf Kinos in vier verschiedenen Städten, unter anderem auch für die drei Säle der Kiwi Loge am Oberen Graben. Dort werden grösstenteils Arthouse-Filme gezeigt. Der Begriff geht in die 1920-Jahre zurück: Filmclubs in den USA gründeten damals sogenannte Art House Cinemas, die im Gegenzug zu den üblichen Kinos kein vordergründig kommerzielles Interesse verfolgten. Inzwischen wird der Begriff oft universell für kleine, unabhängige Filmproduktionen verwendet, wobei die Filme auch in gewinnorientierten Kinos wie in der Kiwi Loge gespielt werden. Obwohl das Arthouse-Kino eine Nischensparte ist, ist es Leonardos Aufgabe, auch in diesem Genre Filme ausfindig zu machen, die den Geschmack eines breiteren Publikums treffen. Daher ist es auch nicht unüblich, dass im Programm der Kiwi Loge hin und wieder grössere Produktionen wie ein «James Bond» oder «House of Gucci» in Originalsprache zu finden sind. Schlussendlich entscheidet aber nicht er, wie lange ein Film gezeigt wird, sondern die Anzahl verkaufter Tickets, sprich die Kinobesucher*innen. Leonardo sagt: «Wenn ich rein nach persönlichem Gusto programmieren würde, müsste das Kino wahrscheinlich morgen schliessen.»
Das Kinoprogramm, das jeweils ab Donnerstag für eine Woche gezeigt wird, legt der Betriebsleiter in Absprache mit den Filmverleiher*innen fest. Leonardo Tavano vergleicht seine Arbeit mit derjenigen an der Börse. Das zeige sich einerseits bei den Besucher*innenzahlen – wie beim Aktienhandel entscheidet er anhand von Auswertungen und Prognosen, welche Filme ins Programm kommen oder bleiben. «Du hältst die Aktien, die am höchsten im Kurs sind. Die anderen lässt du fallen und ersetzt sie», erklärt er seine Arbeit. Es zeige sich zweitens aber auch bei den telefonischen Verhandlungen mit den Verleiher*innen. Am «Progi-Montag», wie Leonardo den Wochentag liebevoll nennt, bespricht er mit ihnen die Wochenendeinahmen und entscheidet dann, wie das Programm für die nächsten sieben Tage aussieht. Jede Woche kommen allein im Arthouse-Bereich drei bis sechs neue Filme auf den Markt. Da Leonardo erst vor Kurzem die Seite gewechselt hat und vorher selbst bei einem Verleih tätig war, kennt er sich in der Branche gut aus. Er tausche sich eng mit den Verleiher*innen aus. «Das Arthouse-Business ist sehr differenziert», sagt Leonardo, «die Verleiher*innen überlegen sich sehr genau, welchen Film sie welchem Kino anbieten – zum Beispiel, ob ein Film eher zu uns oder zum Cameo passt.» Er selber schaue sich längst nicht mehr alle Filme an, die ihm von den Verleihen angeboten werden, sondern setze bei der Auswahl auf eine Mischung aus Know-how im Filmbusiness und Besucher*innenzahlen-Auswertungen aus dem Ausland. «Als Programmverantwortlicher bin ich aber stets auf der Suche nach den Perlen», sagt er. Als Perlen bezeichnet er die Filme, die wider Erwarten grossen Anklang finden. Die zwei jüngsten Beispiele dafür seien «Joker» und «Parasite», beide 2019 erschienen.

 

Das hybride Kino

Im Gegensatz zum Kiwi Loge handelt es sich beim Kino Cameo auf dem Lagerplatz um einen unabhängigen, nichtkommerziellen Betrieb, der nebst aktuellen Filmen auch analoge 35mm-Filme vorführt und Filmreihen kuratiert, die von einer ehrenamtlichen Programmgruppe zusammengestellt werden. Alice Müller ist Teil dieser zehnköpfigen Gruppe, die sich aus Filmwissenschaftler*innen und -enthusiast*innen unterschiedlichen Alters zusammensetzt. Für das Programm um den Jahreswechsel 2021/2022 hat die 71-jährige Pensionärin zusammen mit einer Kollegin aus der Programmgruppe eine Filmreihe rund um die Schauspielerin Meryl Streep zusammengestellt. Alice erzählt: «Die Filmreihen ermöglichen dem Publikum eine intensive Auseinandersetzung mit einem bestimmten Thema. Dabei geht es nicht nur um den Inhalt der Filme, sondern auch um ihre Form und den künstlerischen Aspekt.» Pro Reihe werden während sechs Wochen sieben bis neun Filme gezeigt. Die Schwerpunkte sind vielfältig, der Fokus kann auf einem Land, Ereignis, Jubiläum, Genre, einem*r Regisseur*in, Schauspieler*in und so weiter liegen. Fünfmal im Jahr trifft sich die Gruppe, um das Thema für die nächsten Filmreihen festzulegen. Durchschnittlich kuratiert jedes Mitglied alle ein bis zwei Jahre eine eigene Reihe. Der Arbeitsaufwand für die Filmrecherche sei daher für sie als Programmgruppe-Mitglied nur punktuell sehr hoch, erklärt Alice. Wenn ein Film digital nicht erhältlich ist, sucht sie in einer der wenigen verbliebenden Videotheken in Zürich. Bei der Reihe zu Meryl Streep hat sie sich innerhalb einer Woche zwölf Filme angeschaut. Aufgrund der umfassenden Filmografie der Schauspielerin mussten sie für die Recherche einen klaren Schwerpunkt setzen. «Wir wollten sie als Charakterdarstellerin zeigen», sagt sie, «Meryl Streep ist eine Feministin. Sie hat nur Rollen gespielt, die eine zentrale Bedeutung für die Geschichte eines Films haben. Darauf haben wir auch bei der Auswahl geachtet.» Die Beschaffung der Filmrechte und der Datenträger sowie die administrativen Aufgaben, zum Beispiel das Drucken der Flyer und die Koordination der Techniker*innen, werden von der festangestellten Kinoleiterin Liliane Hollinger übernommen. Vor allem die Beschaffung der Filme sei kosten- und zeitintensiv, erzählt Liliane. Es komme vor, dass die Inhaber*innen der Filmrechte nicht gefunden werden oder für die Vorführrechte eines Films ein Wucherpreis verlangt werde und er darum nicht gespielt werden kann. Nichtdestotrotz lohne sich die teils langwierige Mailkorrespondenz, um die Filmrechte ausfindig zu machen und Filmkopien aufzutreiben. «Unsere Aufgabe als unabhängiges Kino ist es, die Filmkultur sichtbar zu machen», sagt sie. Die kuratierten Filmreihen sollen Ordnung in das Überangebot von Filmen bringen, indem die Programmgruppe für die Kinobesucher*innen eine spannende Filmauswahl trifft.

Liliane stellt auch das Premierenprogramm zusammen. Das sechswöchige Programm inklusive der aktuellen Filmreihe erscheint jeweils auf der Website und in gedruckter Form als Flyer. Sobald Liliane die Daten für die Flyer an die Druckerei weitergeleitet hat, kann sie das Programm nicht mehr ändern. Daher kann sie nicht so spontan auf neue Filme reagieren wie zum Beispiel die Loge. Gleich wie Leonardo tauscht sich auch Liliane eng mit den Verleiher*innen aus. Es sei wichtig, einen regelmässigen Kontakt zu pflegen, um sich über die neuen Filme im Angebot auszutauschen. «Am Anfang habe ich nur Filme ins Programm genommen, die mir angeboten wurden», sagt Liliane. «Aus dem bestehenden Überangebot muss ich eine Wahl für ein Einsaalkino treffen. In den letzten zwei Jahren gelangten zudem viel mehr Direktanfragen von Regisseur*innen oder Produzent*innen an uns.» Hin und wieder entdecke sie auch selbst Filme, zum Beispiel an Filmfestivals. Dann fragt sie direkt bei einem Verleih an, ob sie den Film einkaufen kann – oder manchmal schliessen sich auch Programmkinos zusammen, um dem Publikum ein Werk zugänglich machen zu können. «Das Kino ist ein grossartiger Ort, um gesellschaftliche Diskurse zu führen», sagt sie. «Ich muss hinter dem Inhalt eines Filmes stehen können, um ihn ins Programm zu nehmen. Kompromissbereitschaft gehört aber dazu: Ich mache das Programm nicht für mich, sondern für den Treffpunkt Kino.»

 

Das unkonventionelle Kino

«Programmmachen darf in der Nische jede*r, die*der es gerne einmal ausprobieren möchte», sagt Katrin Jud, die Präsidentin des ehrenamtlichen Vereins, der das Sofa-Kino im Gaswerk betreibt. Das vierzehnköpfige Team sei wild zusammengewürfelt. Die Teammitglieder übernehmen abwechselnd die Programmverantwortung und haben jeweils ein fixes Ämtli, um den Kinobetrieb aufrechtzuerhalten. Man muss kein Filmfreak sein, um bei uns mitzumachen», sagt Katrin. Sie selbst hat Animation studiert, arbeitet Teilzeit im Technorama und ist selbstständig in ihrem eigenen Atelier tätig. Die Interessen innerhalb der Gruppe seien verschieden: «Wir haben einige Horrorfilmliebhaber*innen – ein Genre, das ich gar nicht mag». Die ehrenamtlichen Programmverantwortlichen machen von der Filmauswahl bis zur Vorführung alles selbst: Sie legen das Thema fest, suchen die Filme aus, beschaffen die Filmrechte und -datenträger und spielen sie dann selbst vor Ort ab. Katrin geht bei der Filmauswahl jeweils intuitiv vor: Als sie im vergangenen Jahr eine Reihe zum Thema Pflanzen kuratiert hat, fing ihre Recherche bei Google an. Oft suche sie aber auch in Filmarchiven oder direkt auf den Seiten der Verleihe. Auf die Frage, ob sie sich alle Filme anschaut, antwortet sie: «Manchmal reichen mir die Trailer.» Nach der Auswahl beginne die «Detektivarbeit». Die Beschaffung der Filme finde grösstenteils per Mail statt und sei nicht immer leicht. Jedoch helfen sich die Mitglieder untereinander aus. Das Budget des Vereins schreibt vor, dass er für einen Film 150 Franken oder 30 Prozent der Abendeinnahmen ausgeben kann. «Ein Film kann auch mal etwas mehr kosten. Doch die Verleihe sind meistens kulant, weil sie wissen, dass wir ein kleiner Verein sind», erklärt die Präsidentin. Als Verein haben sie nicht das Ziel, Gewinn zu machen. «Es ist ein Dilemma: Wir sind bewusst eine Nische, aber wir wollen trotzdem Besucher*innen zu uns locken.» Früher hatte das Kino noch eine Ethikkommission, die klare Richtlinien festgelegt hat: Es durften beispielweise keine Blockbuster gezeigt werden. Mittlerweile sehe man das nicht mehr so eng, sagt Katrin. Jede*r Programmacher*in dürfe frei entscheiden, was auf die Leinwand komme. Der Verein habe aber ein klares politisches Selbstverständnis und positioniert sich links. Mit der «Interessengruppe der BewohnerInnen und BenutzerInnen der Stefanini-Liegenschaften» hat er zum Beispiel eine Reihe zu günstigem Wohnraum mit dem Titel «Wir bleiben alle!» gezeigt und eine Aktion durchgeführt, bei der Geflüchtete gratis Eintritt erhalten haben. 
In der Nische werden jeweils am Sonntagabend Filme gezeigt, das Thema des Programms wechselt jeden Monat. Im Gegensatz zu den anderen Kinos sind hier Premieren äusserst selten zu sehen. Die Nische zeigt jedoch auch analoge Filme. Kürzlich hat der Verein von einer Privatperson einen neuen 35mm-Projektor erhalten. «Dieses Ding ist riesig», sagt Katrin. 35mm-Filme vorzuführen, sei besonders aufwendig, darum wird jeden Monat höchstens ein Analogfilm gezeigt: Die 30 bis 35 Kilogramm schweren Filmrollen werden per Post versendet und dann auf die Rollen des Projektors aufgewickelt. Dabei könne auch mal etwas schiefgehen, manchmal fehle bei der Aufführung der Ton oder gar das Bild. Sie sagt: «Zum Glück haben wir ein sehr tolerantes Publikum.»

 

 

Amina Mvidie ist Kommunikationsstudentin und arbeitet im «Cinema Luna» in Frauenfeld als Operatrice.

Katrin Jud mischt gerne in Nischen mit. Zudem zeichnet sie gerne und macht Animationsfilme.

 

Die Gespräche mit den Programmverantwortlichen wurden wie folgt geführt:
Alice Müller und Liliane Hollinger (Cameo) am 27. Januar 2022
Katrin Jud (Nische) am 28. Januar 2022
Leonardo Tavano (Kiwi Kinos) am 1. Februar 2022

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