Auch Stahl kann reissen

Auch Stahl kann reissen

«Trostlos steht die Lücke vor uns: der Mensch ist zerrissen, die Kunst und das Leben sind getrennt.», so der Philosoph Friedrich Schlegel.

Das Zitat ist mir erstmals im Rahmen meines Germanistik-Studiums begegnet. Zu verorten ist es in der literarischen Strömung der Empfindsamkeit. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts, in der Hochphase des Sturm und Drang, wurde die Zerrissenheit des Menschen von Philosophen und Dichtern stark thematisiert. Emotionen und künstlerische Freiheit standen im Mittelpunkt und der Zwiespalt zwischen Gefühl und Verstand war in der Literatur wie in der Philosophie stark vertreten.

Wurde diese Zerrissenheit im 18. Jahrhundert vor allem in Texten behandelt, stellten sie die beiden Winterthurer Giesser Michael Keller und Hans-Karl Angele Ende des 20. Jahrhunderts anhand einer Guss-Skulptur dar. Mit ihr steht diese von Schlegel besagte Lücke wortwörtlich vor uns: Die Figur ist senkrecht in der Mitte halbiert, wobei die beiden Hälften mit einem Abstand zueinanderstehen und nur durch fünf horizontale Balken miteinander verbunden sind. Das Werk trägt den passenden Namen «Der zerrissene Mensch».

Interessant ist, dass die Lücke in der Körpermitte nur von vorne beziehungsweise hinten sichtbar ist. Von der Seite her betrachtet wirkt die stählerne Figur komplett und stark, ihre Statik lässt sie gar roboterähnlich erscheinen. Doch wird sie frontal oder rückseitig angeschaut, offenbart sich ihr hohles Inneres. Der Zwiespalt – oder diese innere Zerrissenheit – wird nach aussen auf den Körper getragen.

Die Skulptur erweckt mit ihrer zerrissenen Leere einen trostlosen und tauben Eindruck auf mich, sodass ich beinahe Mitleid für sie empfinde. Beinahe, da mir bewusst ist, dass es sich nicht um ein lebendiges Wesen handelt, sondern um ein Kunstwerk aus Stahl. Gleichzeitig sind die portraitierten Gefühle der Skulptur derart einnehmend, dass ich mich beim Betrachten ein wenig verlieren kann und ich vergesse, dass es sich eben nicht um ein lebendiges Wesen handelt. Eine Eigenschaft von mir, an der ich mich oft festhalte, ist die Suche nach dem Positiven in Dingen. Diese Skulptur jedoch trägt eine Melancholie in sich, die ich hier nicht ignorieren oder schön sprechen – beziehungsweise schreiben – wollte.

Chelsea Angel Neuweiler studiert Kunstgeschichte und Germanistik an der Universität Zürich.

Jonas Reolon ist Fotograf und Kameramann aus Winterthur.

Stahlplatten des Trostes
Stahlplatten des Trostes
Artothek

Der Vorplatz des Krematoriums auf dem Friedhof Rosenberg präsentiert sich mit imposanten Betonbalken und Stahlplatten. Davon sind jeweils vier Stück oben und unten an der Krematoriumswand angebracht.

Eine Bronzeskulptur passend zur Schule
Eine Bronzeskulptur passend zur Schule
Artothek

Die Bronzeskulptur des Künstlers Emilio Stanzani befindet sich beim Treppenaufgang zum Schulhauseingang Rychenberg. Erst wenn man die Stufen emporsteigt, wird das Werk allmählich auf der linken Seite…

Eine tierische Bank
Eine tierische Bank
Artothek

In diesem Artikel geht es um die wohl bekannteste Sitzgelegenheit in Winterthur. Ich präsentiere: Die Wauwau-Bank von Erwin Schatzmann. Sie lädt nicht nur zum Sitzen ein, sondern auch zum Staunen.

Widerspruch für Widerspruch
Widerspruch für Widerspruch
Artothek

Wände mit Zeichnungen, Bänke und ein Podest – dieses mehrteilige Werk aus Beton steht seit 2022 auf dem Areal des Schulhauses Wallrüti. Sein Name «Fragmente» weist auf die einzelnen Objekte hin, die…

Das Stonehenge von Winterthur
Das Stonehenge von Winterthur
Artothek

Als ich mich nach meinem Sprachaufenthalt in Bristol auf der Suche nach einem neuen Kunstwerk durch den Kunstführer des Online-Portals Edition Winterthur klickte, stach mir sofort die…