Der erste der zwölf schönsten Tage im Jahr

Der erste der zwölf schönsten Tage im Jahr

Die Musikfestwochen finden dieses Jahr (2021) nicht – wie gewohnt – in der Altstadt statt, sondern an drei Standorten – auf dem Viehmarkt, im Büel- und im Rychenbergpark. Was erwartet uns dort? Ein Resümee des ersten Festtages.

11. August 2021, die 46. Musikfestwochen (eine Park-Specialedition) sind eröffnet. Die Feierfreudigen mussten sich entscheiden: Will ich meine ersten Konzerte nun im Rychenberg- oder im Büelpark hören? Mich trieb es zu meinem alten Jugendfreund, dem Rychenbergpark. Unser Wiedersehen war (meinerseits) voller Überraschungen. Die Musikfestwochen, mit ihren Lichtern, Düften und heiteren Leuten, haben ihn fast schon in die Lichtung eines Zauberwaldes verwandelt – und während ich mich an die Menschenmenge akklimatisierte, kam ich mir vor wie die Hauptfigur aus jenem Glanzstück der Grimmschen Märchensammlung «Von einem, der auszog, um das Fürchten zu lernen». Klar, wegen des Konservatoriums verirrten sich schon früher Melodien in den Rychenbergpark, aber jetzt … jetzt steht eine andere Musik, nämlich laute, in seinem Zentrum. Sie wird auf einer Bühne präsentiert, die sich sehen lässt. Von einem gewölbten Zelt überdacht erinnert sie beim Eindunkeln mit ihren fünf Lichtketten-Armen an einen luminiszierenden Octopus – beziehungsweise «Pentopus»? So oder so: «No Me Coman»! Die Neige des Parks, an deren Tiefpunkt er tentakelt, hilft ihm dabei, das Publikum in seine Fänge zu ziehen. Flankiert ist das Gelände rechts – wenn man Richtung Bühne blickt – von einer Reihe Buden: einer OnThur-Bar, einem für Winterthur klassischen Momo- und … einem Hot-Dog-Stand namens «Frau Hund». Letzterer verkauft sogar Sauerkraut-Honig-Senf-Hot-Dogs. Wenn ich «Honig-Sauerkraut» höre, brodelt aus den Tiefen meines – halt irgendwie – deutsch sozialisierten Selbst natürlich ein gewisser Groll empor: Bei Luther, Schiller und Luxemburg! Honig-Sauerkraut? Ketzerische Kombination! Als aufgeklärter Mensch, der besonnen seine Vorurteile reflektiert, weiss ich natürlich – in den nächsten Tagen werden die Geschmacksnerven meiner Zunge mit dieser Kombination konfrontiert und von ihr vielleicht sogar positiv überrascht werden, wer weiss. Auch die buschige linken Parkseite flankiert eine Buden-Reihe: Hier findet man am höchsten, wichtigsten Punkt der Reihe – dort wo er hingehört – den Ort, an dem die Unterzuckerten sich aufzuckern können … hier findet man: den Crêpes-Stand. Und sein süsser Zimt-Zucker-Duft zieht gnadenlos alle mit leeren Mägen sirenenhaft in seinen Bann. Die Schlange vor dem Stand war gestern lang, und das auch noch eine ganze Weile nach dem Konzert. In sicherer Entfernung zu dieser olfaktorischen Betörung, weiter unten auf der Konzertwiese, hat es sich Radio-Stadtfilter nicht nehmen lassen, ein Freiluft-Wohnzimmer aufzuschlagen. In den nächsten Tagen jeweils um 18:00 Uhr werden seine Moderator*innen ihre Sendung durch den Äther, die Membranen unserer Radiolautsprecher und schliesslich unsere Gehörschnecken schwingen lassen – «Mit viel Hertz und Ähhms / Shitty flute, Lokalkultur / Radio? Stadtfilter.» (Im Äther, Eydu vom Poetograph Colin Kofmel). Kann man den Grund, aus dem wir Stadtfilter lieben, besser beschreiben? Nein. Wie auch immer, jenen die sich zurückziehen wollen, Ruhe suchen, bietet der Rychenbergpark einige Rückzugsmöglichkeiten. Wer die verborgendsten davon finden will, muss sich eine*n Gymnasiast*en vom Lee oder vom Rychenberg schnappen. Denn die Büsche im Musikschulpark boten schon vor den Musikfestwochen jenen Jugendlichen Schutz vor suchenden Blicken, die in der Mittagspause ihre Tüten skrabbelten (jap, Crew 5000-Referenz), um der Frage auf den Grund zu gehen, ob es eine gute Idee ist, den Mathe-, Sport- oder Deutsch-Unterricht high zu verbringen … die Antwort war immer schon klar, oder? Naja. Aber die wenigsten Leute kommen ja an die Musikfestwochen, weil sie Ruhe suchen. Sie kommen natürlich wegen der Musik! Wobei. So sicher ist das gar nicht. Ich kenne genug Leute, die wegen dem Fest kommen. Sie kommen, um Leute zu treffen, zu reden, zu plaudern, zu palavern und zu trinken. Im Grunde lassen sich zwei MFW-Typen unterscheiden: die musikaffinen und die festaffinen. Klar, zwischen diesen beiden Polen gibt es zig Zwischenpositionen. Es hat schon seine Berechtigung, dass das zwölftägige Festival nicht «Musikwochen» oder «Festwochen», sondern eben «Musikfestwochen» heisst.

Eine kleine Herausforderung stellt dieses Jahr der Einlass dar. Zu diesem gehört, dass alle ein Covid-Zertifikat, ein Ticket und einen Ausweis vorweisen müssen – das ist klar, das meine ich gar nicht. Was ich meine ist: Dieses Jahr musst du ein Gespür dafür entwickeln, wann(!) du kommst. Denn entweder wartest du 5 Minuten oder 30 Minuten in der Schlange vor dem Eingang. In ein paar Tagen werden sich aber bestimmt einige Leute dadurch profilieren, dass sie Expert*innen in Puncto Einlass-Timing sind. Ich gehöre erst mal nicht dazu – bin um 19:10 Uhr angekommen und war erst um 19:41 Uhr auf dem Gelände. Etwas Gutes hat das Warten allerdings: In der Schlange vor dem Rychenbergparkgelände kommt man locker mit Leuten ins Gespräch. Und ja, natürlich: Wenn Gspänli auf dem Weg ans Ende der Schlange an anderen Gspänli vorbeikommen, dann gesellen sie sich dazu. So dass die Schlange zwar kürzer, aber auch breiter wird. Gehört halt dazu, nicht? Der Punkt ist ja nicht unbedingt, dass man sofort auf dem Gelände sein muss – es heisst doch, Vorfreude sei die schönste Freude. Die Musik hört man immerhin auch von draussen schon gut – aber, ist ja klar, sie ist da noch nicht ganz ins Festival-Gefühl eingebettet. Die eingängigen Melodien von My Ugly Clementine haben auf jeden Fall auch von draussen flauschig getönt. Als ich schliesslich drinnen ankam, begann gerade auf der Startrampe die Winterthurer Band Anger MGMT zu spielen. Die von der Moderatorin Laura Serra von der Hauptbühne aus mit den Worten begrüsst wurde, dass ganz «Hard-Rock-City auf sie gewartet hat». «Hard-Rock-City», das ist, je nachdem wen man fragt, entweder Renegade-Bar-mässiger-Jargon oder ein Song von Huckedicht, den die Band in 00er-Jahren für den FC Winterthur geschrieben haben – beziehungsweise für ein Album mit dem Titel «Winti kickt. Winti Rock» – und zur Hymne der Konzerte wurde, die in der zweiten (oder war es die dritte?) Halbzeit von FCW-Matchen stattfanden. Aber was soll man mit dieser Info anfangen!? Heute am Rap-Abend wird sicher jemand Vitudurum-United-mässig davon reden, dass Winterthur Hip-Hop-City ist – in Wirklichkeit ist Winterthur natürlich die Stadt der Poetograph*innen, aber das ist ja sowieso allen klar, ich wollte es einfach noch einmal auf eine ganz subtile Art und Weise erwähnt haben. Zurück zur Startrampe! Die drei Songs von Anger MGMT hätten mit ihren grungigen Riffs in Nicht-Covid-Zeiten die Menge wahrscheinlich sogar zum Pogen gebracht, diesmal aber hat es nur für ein cooles, distanziertes Mitwippen gereicht. Danach spielte zum Abschluss die Band /A\. Das Konzert war, wie man so sagt – und wenn man das so sagt, kommt man sich immer ein wenig blöd vor – «schön». Die düsteren Industrial-Parts stimmten geschmeidig in die Atmosphäre des inzwischen dunkel gewordenen Parks ein. Nach dem Konzert blieben die festaffinen Leute und murmelten durchs Dunkel, grölten durch den Park oder stellten sich beim Crêpes-Stand an, um sich aufzuzuckern. Die musikaffinen begaben sich gleich darauf in Richtung Ausgang, dessen auffällig helle Beleuchtung im Kontrast zu dem gedämpften Licht im Rest vom Park stand – den Budenlampen, Lichterketten und den Scheinwerfern, die die Bäume anstrahlen … und in Chiaroscuro-Wesen verwandelten. Diesem hellen Ausgangslicht entgegen flogen nach und nach all die Winterthurer Seelen wie – mitunter recht betrunken torkelnde – Motten und ihre Feststimmung verpuffte, als sie die Schwelle, die die MFW vom Rest der Welt trennt, übertraten. Der erste Festtag war vorbei.

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