«Ich wollte immer gern ein Junge sein.» Mit diesen Worten eröffnet Esther Zimmermann den Erzählsalon im Kaffee Lou Salomé inmitten der Winterthurer Altstadt. Der charmant eingerichtete Raum ist dicht gefüllt mit Besuchenden, die mit einem Tee in der Hand auf die nächsten Worte der Erzählerin warten. Sie führt aus, wie sie als Mädchen bei einer Aufführung im Kindergarten im Prinzessinnenkleid neben dem Prinzen auf einem Tisch sass – breitbeinig, was bei den Eltern, die zu ihr rauf schauten, Schmunzeln auslöste. «Da habe ich beschlossen, dass ich keine Prinzessin sein will», erklärt sie. Wenn sie Dingen nachging, für die sie sich interessierte, hiess es ausserdem häufig: «Das ist nichts für Mädchen!» Also besser ein Junge sein, schlussfolgerte die kleine Esther. Heute aber hat Esther erkannt: Prinzessinnen können auch Wahnsinnsweiber sein. Und deshalb stehen auf dem Programm des heutigen Abends trotz ihres anfänglichen Haderns mit sogenannten Mädchenthemen fast ausschliesslich Geschichten von Prinzessinnen und Göttinnen.
Das Storytelling hat Esther vor über sieben Jahren entdeckt – beziehungsweise das Storytelling hat sie gefunden. 2016 kündigte sie ihren Job im Pflegemanagement eines Spitals, wollte sich erholen und neu orientieren. Ein paar Monate später besuchte sie mit ihrer Schwester eine ehemalige Austauschschülerin in Wales, die Erzählerin war. Als diese ihnen eine Geschichte erzählte, war für Esther klar: «Ich muss auch erzählen. Ich habe keine Wahl.»
Zu ihren Geschichten kommt Esther ähnlich, wie sie zum Erzählen gekommen ist. Nicht sie findet ihre Geschichten, sondern: «Wir Geschichtenerzähler*innen sagen, die Geschichten finden uns.» Aber es steckt auch viel Lesearbeit dahinter. Sie arbeitet sich durch Sammlungen von Märchen und Mythen, liest verschiedene Versionen und fügt diese zu ihrer eigenen zusammen. Hat sie ihre Geschichte, bricht sie sie auf die wichtigsten Sätze runter – «Knochen», wie sie im Storytelling-Fachjargon heissen. Dann baut sie die Geschichte mit Bildern aus – das «Fleisch um die Knochen»: Wie riecht und klingt es, weht ein Wind? Das erfordert viel Vorstellungskraft. Um die Geschichte dann lebendig rüberzubringen, braucht es aber noch mehr. Beim Erzählen lebt die Geschichte von den Pausen, dem Rhythmus und Tempo, von der Stimme, der Mimik und Gestik.
Die Geschichten erzählt Esther auswendig, sie schreibt sie nie auf. «Ich schreibe überhaupt nicht gerne», begründet sie dies. Es war für sie eine wichtige Erkenntnis, dass sie auch ohne Schreiben Geschichten erzählen kann. «Schreiben ist ja nur eine Technik», erklärt sie, «und Mündlichkeit funktioniert anders als Schriftlichkeit.» In der gesprochenen Sprache verliert sie sich nicht in komplizierten Satzkonstruktionen, und das «show, don’t tell» ist noch wichtiger. So sagt sie selten einen Satz wie: «Sie war wütend», sondern sie vermittelt die Emotion, indem sie beschreibt, wie die Protagonistin die Hände zusammenballt und das Gesicht verzieht. Auch ihre eigene Stimme, ihre Körperhaltung und ihr Blick bringen die Emotion zum Ausdruck.
Um sich Geschichten für später merken zu können, macht Esther jeweils Ton- oder Filmaufnahmen. Aktuell verfügt sie über ein Repertoire von ungefähr fünfzig Geschichten, auf die sie bei Buchungen zurückgreifen kann. Im Erzählsalon kann sie aber nicht zweimal die gleiche Geschichte erzählen – wegen den Stammhörer*innen. Das Publikum ist beim Erzählen ein wichtiger Teil: «Es ist ein Dreieck: die Geschichte, die Erzählerin und das Publikum. Je nach Publikum ändern sich meine Geschichten.» In Winterthur hat sie sich ein loyales Publikum aus mehrheitlich Erwachsenen aufgebaut, zu dem ständig neue Leute dazukommen. «Hier sind die Menschen sehr offen fürs Erzählen», erklärt Esther. Deshalb fühlt sie sich in der Stadt mit ihrer Kunst zuhause – aber nicht nur mit der Kunst: Seit 2011 wohnt die dreifache Mutter mit ihrer Familie in Winterthur. Während sie früher jeweils spätestens nach fünf Jahren weiterzog, hat sie hier auch nach über zwölf Jahren noch nicht das Bedürfnis, wegzuziehen.
Besonders gerne erzählt Esther ihrem Publikum griechische, keltische und indische Mythen. «Sie rufen starke Bilder hervor, die mich berühren», begründet sie den Fokus. Ausserdem werden in Mythen grundlegende Fragen verhandelt, die auch für die Gegenwart relevant sind. Dass sie viele Geschichten von Göttinnen erzählt, erklärt Esther damit, dass ihr als Mädchen in Geschichten die weiblichen Vorbilder gefehlt hatten. Die Göttinnen in Mythen hingegen können starke Vorbilder sein: «Sie sind zornig, sie zerstören die Welt und bauen sie wieder auf. Ich finde es wichtig, dass Frauen vielseitig abgebildet werden: Wir sind nicht nur nett und lieb, wir haben Kraft und wir dürfen wütend sein.» In diesen Geschichten hören Frauen und Mädchen, dass sie anders sein können, als es ihnen traditionellerweise zugestanden wird. Deshalb findet die 51-Jährige es auch wichtig, dass Märchen mit klassischen Rollenbildern nicht mehr oder nur abgeändert erzählt werden: «Wir haben 2023, da braucht man keine Geschichten über brave, liebe Mädchen mehr zu erzählen.» Diesen Grundsatz möchte Esther weitergeben. Im Rahmen des Projekts «Zuhören Erzählen Weitererzählen» erzählt sie in Freiburg im Breisgau, wo sie aufgewachsen ist, in Kitas Geschichten und bringt die Kinder auch selbst zum Erzählen. Dieses Projekt würde sie in Zukunft gerne auch in der Schweiz umsetzen.
Zurück im Erzählsalon im Kaffee Lou Salomé: Esther erzählt zusammen mit Miriflu Engeler das letzte Märchen des Abends, in dem der Satz «Sowas können Mädchen nicht!» dominiert. Bis die Prinzessin allen das Gegenteil beweist, indem sie das Turnier, dessen Sieger ihr Mann hätte werden sollen, selbst gewinnt und sich so ein eigenständiges, freies Leben erstreitet. Auch Esther hat eine grosse Entwicklung hinter sich von dem Mädchen, das ein Junge sein wollte zur Feministin, die es geniesst, eine Frau zu sein. Sie entlässt das Publikum mit der Botschaft: «Sowas können Mädchen!»
Christina Nanz ist Autorin beim Coucou und hört und schreibt gerne Geschichten über starke Frauen – Wahnsinnsweiber eben.
Lara Thomann ist Grafikerin und Illustratorin. Geschichten erzählt sie lieber durch Bilder.