Der Krisenarchitekt

Der Krisenarchitekt

Kulturkirche, Asylunterkunft und auch das Corona-Testzentrum: Markus Jedele ist für mehrere Umnutzungsprojekte in der Kirche Rosenberg verantwortlich. Für den Winterthurer ist Architektur ein soziales Konstrukt, er selbst verortet sich an der Schnittstelle zwischen Handwerk, Mensch und Kunst. Nicht nur in seinem Beruf, sondern auch in seiner zweiten Leidenschaft als Kutschensammler

Diese Kirche ist auch ein Testzentrum! An diesem Donnerstagabend anfangs Februar steht zwar fast niemand mehr an vor der Kirche Rosenberg, um sich in einer der drei hölzernen Boxen auf das Corona-Virus testen zu lassen. Während rund vier Wochen war hier aber ziemlich was los. Wer sich mit Symptomen in die Testschlange stellte, achtete wohl kaum auf architektonische Finessen. Dabei hätte es in diesem Fall doch einiges zu entdecken gegeben.

Denn verantwortlich für die Architektur der Zwischennutzung in der Kirche Rosenberg ist Markus Jedele. Der 57-Jährige ist kein Unbekannter was Umnutzungen dieser reformierten Kirche angeht: Im Zuge der Flüchtlingskrise im Jahr 2015/16 mussten – «praktisch über Nacht» – schnelle und pragmatische Lösungen zur Unterbringung der Menschen her.

 

Dass leerstehende Kirchen als Notlösung für die Beherbergung geflüchteter Menschen genutzt werden, ist historisch gesehen keine Novität. Und doch war Markus Jedele bewusst, dass ein solches Unterfangen – wie jedes, in denen Kirchen zu anderen als religiösen Zwecken umgewandelt wurden – viel Fingerspitzengefühl erfordern würde: Immerhin war er schon in die Umnutzungspläne der Kirche Rosenberg zur Kulturkirche 2015 involviert. Damals sollte die leerstehende Kirche mit einem kulturellen und spirituellen Programm wiederbelebt werden. Als Mitglied der Kirchenpflege und passionierter Architekt war er damals die perfekte Schnitt- und Anlaufstelle. «Eine Um- oder Zwischennutzung einer Kirche sollte nie als simpler Umbau und Entweihung der Kirche angesehen werden, es ist immer eine Weiterentwicklung eines Gebäudes mit einer speziellen Geschichte», sagt Markus Jedele. Die Frage nach der kulturellen Umnutzung erledigte sich allerdings in dem Moment, als die Stimmberechtigten den Halbmillionenkredit per Volksabstimmung Ende 2015 ablehnten. Rund zwei Monate später zogen die ersten Asylsuchenden in die Holzhäuschen in der Kirche ein – und diese sollten während zwei Jahren ihr Zuhause bleiben. «Es war eine sehr eindrückliche Solidarität vorhanden», erinnert sich Markus Jedele.

 

Im Oktober 2020 folgte die Anfrage der Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich, ob die Kirche Rosenberg nicht temporär in ein Testzentrum umfunktioniert werden könnte. Markus Jedele zögerte nicht lange: Nach Absprache mit der Denkmalpflege, die Kirche im Anschluss wieder zurückzubauen, entwarf er Empfangsschalter, Testboxen und Signaletik im Eiltempo und beauftragte die Handwerker mit der Umsetzung der mobilen Holzeinbauten.

 

«Krisenarchitektur» werden solche Projekte auch genannt – und auch wenn der Begriff vielleicht viel Pathos an sich trägt, passt die Dimension «Geschwindigkeit» sicherlich zu Markus Jedeles Arbeitstechnik: Er ist keiner, der allzu lange fackelt, bevor er seine Ideen in die Tat umsetzt. Seine Architektur ist trotz Eiltempo keinesfalls überhastet, sondern lebt von Präzision, Ästhetik und solidem Handwerk, wie er verdeutlicht. «Egal, ob es sich um ein Projekt mit einer Vorbereitungszeit von zwei Monaten oder zwei Jahren handelt: Eine ernsthafte inhaltliche Auseinandersetzung hat jedes Projekt verdient.»

 

Dass er einmal Architekt werden würde, war dem Winterthurer nicht in die Wiege gelegt worden. Dies hat sich nach und nach ergeben: Nach einer Lehre als Hochbauzeichner und zwei Jahren im Beruf studierte er am Technikum Architektur. Nach dem Studium machte er sich sogleich selbstständig und stieg bei Jozsef Kisdaroczi als Partner ein. 1996 gründete er mit zwei weiteren Partnern das Architekten-Kollektiv, das er heute zusammen mit Peter Wehrli führt. Bei allen Projekten, auch bei klassischen, sind es nach wie vor die Schnittstellen, die Markus Jedele faszinieren.

Dies ist am Beispiel des Krematoriums Winterthur zu erkennen, welches er 2002 entwarf und das von der Kirche Rosenberg aus gut sichtbar ist. «Bei einem solchen Projekt treffen verschiedene Anforderungen aufeinander», sagt er. Nebst kunsthistorischen sind es auch ethische, politische und technische Begebenheiten, die eine wichtige Rolle spielen – oder die Auseinandersetzung mit Leben und Tod. Der gesellschaftliche Wandel im Umgang mit dem Tod kann beim Bau von Krematorien sehr gut nachvollzogen werden. So war dieser bis Mitte des 20. Jahrhunderts im Alltag noch sehr präsent und die Krematoriumsbauten waren wahre Gesamtkunstwerke. Dann folgte nach dem Zweiten Weltkrieg die allgemeine Verdrängung der Thematik «Tod» – zwischen 1960 und 2000 wurden Krematorien «einfach gebaut», erzählt Markus Jedele. Erst seit den Nullerjahren befasse man sich wieder umfassend mit dem Thema, was entsprechende Auswirkungen auf die Architektur habe.

 

Neben der Architektur gibt es noch eine zweite grosse Leidenschaft in Markus Jedeles Leben: Kutschen. «Da habe ich im Gegensatz zur Architektur eine vage familiäre Vorbelastung», verrät er. Sein Urgrossvater war Pferdehändler und Besitzer einer Pferdekutsche. In Kontakt mit Pferden ist Markus Jedele allerdings ursprünglich über Freunde im Tösstal gekommen, die dort einen alternativen Bauernhof führten und diesen weitgehend ohne Maschinen bewirtschafteten. «Dort habe ich gelernt, wie man mit Pferden umgeht», erzählt er. Nachdem er die Kutsche vom Urgrossvater übernehmen konnte, begann er mit dem Restaurieren – und dem Forschen. In der Scheune in Winterthur-Stadel, in der sein Sohn seinen Holzbaubetrieb führt, steht heute auch seine Kutschensammlung. Unterdessen ist er eine Art Pionier auf dem Gebiet: Sein selbstverfasstes Standardwerk zur Geschichte der Schweizer Postkutschen umfasst gut 1500 Seiten. Im Gegensatz zur Eisenbahn sei das ein kaum erforschtes Gebiet, das heute meist nostalgisch verklärt dargestellt werde, aber bei analytischer geschichtlicher Betrachtung sehr spannend sei. «Kutschen mögen heute primitiv wirken», sagt er, aber sie seien der Ursprung unserer heutigen Mobilität gewesen.

Man könnte dem begnadeten Erzähler noch stundenlang zuhören. Markus Jedele ist ein Beispiel dafür, dass eine grosse Offenheit, der Welt zu begegnen, der beste Magnet dafür ist, interessante Projekte anzuziehen.

 

 

 

Hanna Widmer ist Autorin beim Coucou und verbringt ihr Leben irgendwo zwischen Literatur, Musik und Klassenzimmern.

 

Nicola Tröhler ist freischaffender Fotograf und Filmemacher.

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