Der Künstler aus dem Morgenland

Der Künstler aus dem Morgenland

Der Wunsch nach einem umweltfreundlichen Leben führte Erwin Schatzmann zur Kunst. Seit 40 Jahren prägt er mit Ideen, Projekten und Initiativen die Stadt Winterthur. Obwohl der 66-Jährige viel umgesetzt hat, bleibt noch ein Vorhaben offen.

Die wehenden Fahnen und bunten Türmchen des Morgenlands sieht man erst, wenn man um die letzte Ecke des Industriequartiers Hegi gebogen ist. Hier, hinter Kränen, Containern und Bürogebäuden, hat Erwin Schatzmann sein Reich aufgebaut. Das Morgenland ist als Offspace eine provisorische Kunstinstallation, Werkstatt – und seit elf Jahren sein Zuhause. Hier schnitzt er seine Holzfiguren, malt Bilder, gestaltet Kleider und macht sich Gedanken zur Welt, die er in Aphorismen festhält. Eine Auswahl dieser Texte hat er 2015 in seinem ersten Buch «unverblümt» publiziert.

Erwin wuchs auf einem Bauernhof bei Agasul auf. In seiner Jugend prägte ihn die 68er-Bewegung, insbesondere der extravagante Kleidungsstil der damaligen Popstars wie Jimi Hendrix oder Janis Joplin gefiel ihm. Schon damals gestaltete er seine Kleider selber, indem er sich zum Beispiel Sterne auf die Stiefel malte. Obwohl er in der damaligen Zeit durch seine Outfits ständigen Anfeindungen und Diskriminierungen ausgesetzt war, kam eine Anpassung seines Kleidungsstils nicht in Frage. Im Gegenteil: Er baute ihn im Laufe der Zeit noch aus. «Textile Performance ist ein wichtiger Teil meiner Kunst, mein primäres Kommunikationsmittel», sagt er.

Auf sein Äusseres legt der Künstler viel Wert. Mit seinen langen Haaren, Hüten, den bunten, selbstgestalteten Hemden, uniformähnlichen Jacken und den von Kajal umrahmten Augen fällt er auch heute noch auf. Wenn er spricht und dabei gestikuliert, klackert der rosa Glasstein an seinem Fingerring bei jeder Bewegung seiner rechten Hand.

Als sich der Kosmos öffnete


Inspiriert von den Hippies reiste er als 20-Jähriger mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Indien und verbrachte einige Zeit mit hinduistischen Wandermönchen, die ohne Besitz, aber spirituell erfüllt in Tempeln leben. Nach dieser Reise war für ihn klar, dass er nicht zurück in seinen erlernten Beruf als Kaufmann möchte. Doch was war die Alternative? Mit theatralisch ausgebreiteten Armen sagt er: «Da öffnete sich der Kosmos und der Kunstgeist senkte sich auf mich.» Eine spezifische Religion praktiziert Erwin nicht, doch sein Interesse an Religion und Spiritualität spiegelt sich in seiner Sprache und seiner Kunst. Im Morgenland findet man Kreuze, Jesusfiguren, Statuen weiblicher Gottheiten und einen Tempelraum. Selbst auf seiner Stirn trägt Erwin an manchen Tagen eine Zeichnung, die an ein hinduistisches Segenszeichen erinnert. Religion sei ein geistiges Rezept, wie die Welt aufgefasst wird, und das interessiere ihn.

Einen Plan B zur Kunst gab es für ihn nie. «Ich hatte schlichtweg keine Zeit mehr, weil ich so viele Ideen umsetzen wollte», sagt er lachend. Er begann zu malen, experimentierte mit Keramik – «Einen Topf habe ich verkauft und drei aus Versehen zerschlagen» – und schnitzte auf seinen Waldspaziergängen Gesichter von Waldgeistern in umgefallene Bäume. Seine Holzbildhauerkunst fiel Passant*innen auf und sie beauftragten ihn für erste Kunstwerke in ihren Gärten. Der Stil habe sich im Laufe der Zeit nicht gross verändert, nur die Gesichter seien freundlicher geworden, sagt Erwin.

Bunte Sitzbänke und ein See für Winterthur

Einem breiteren Publikum wurde der Künstler durch Sitzbänke und Spielskulpturen bekannt, die er in den 1980er-Jahren in Workshops mit Jugendlichen schnitzte und bunt bemalte. «Eine glückliche Sache war sicher die Bank auf dem Kirchplatz», erinnert er sich. Die grosse halbkreisförmige Sitzbank steht noch immer dort und ist besonders bei Kindern beliebt. Erneute Aufmerksamkeit erhielt er durch die Initiative «Ein See für Winterthur». Erwin brachte 1999 ein Projekt zur Abstimmung, das in der Waldegg einen künstlichen See vorsah. Als Geschenk an die Stadtbevölkerung sollte das Naherholungsgebiet trockengelegte Weiher auf Stadtgebiet ersetzen. Wegen der hohen Kosten stimmte jedoch die Mehrheit der Winterthurer Stimmbevölkerung dagegen. Die Initiative blieb sein einziger Abstecher in die Politik. Als politischen Menschen begreift sich Erwin aufgrund seiner Lebensführung aber durchaus.

Ein umweltfreundliches Leben führen


«Ich will ein umweltfreundliches Leben führen», sagt er. Auf dieser Überzeugung gründen fast alle seine Entscheidungen. Seine schweren Holzfiguren stellt er fast nur noch im Morgenland aus, um lange Lastwagenfahrten zu umgehen. Das Morgenland besteht aus natürlichen oder recycelten Materialien und ist nicht beheizt. Erwin lebt bescheiden mit der Natur: Abgesehen von drei Räumen ist das Konstrukt offen, und die Jahreszeiten und das Wetter sind direkt spürbar. Windet es, so scheppern, schellen und klingen auf dem ganzen Gelände die aufgehängten Glocken und Windspiele, und wenn die Sonne scheint, spiegelt sie sich in der Dekoration und wirft helle Punkte an die Wände.

Zur Natur Sorge zu tragen und seine Mitmenschen zu achten, das sind seine Prinzipien. Um diese zu erklären, wählt er oft den Begriff Schönheit, denn Schönheit beschreibe für ihn einerseits die materielle und farbliche Ebene eines Gegenstands und andererseits den kulturellen Umgang zwischen Menschen.

Ein Fest für Gleichgesinnte / Artgerechte Haltung im Morgenland / Einen Schatzmanismus-Tempel bauen

Einmal im Monat lädt Erwin Gleichgesinnte zu sich ein: Die Treffen finden unter dem Namen «Artgerechte Haltung» statt und beleben sein Morgenland im Sinne einer Sozialen Plastik. Mit dem Titel spielt er auf ein angenehmes Miteinander an. Die Treffen sind öffentlich, und doch auch eine Art Zusammenkommen dessen, was er als seine Familie versteht. Es wird Musik gemacht, gemalt, gegessen und getrunken – bis um Mitternacht. Dann ist Schluss, den Nachbar*innen zuliebe. «An solche sozialen Regeln muss man sich halten, sonst verscherzt man es sich mit den Leuten.»

Aus Winterthur wegzuziehen kam für Erwin nie ernsthaft in Frage: «Ich möchte die Qualität meines Schaffens an einem Ort erhöhen.» Denn um ein Feuer zu entfachen, müsse man an einem Ort viel Hitze erzeugen. Mit seinen 66 Jahren müsse er aber nicht mehr jede Idee anpacken. Nur ein Vorhaben würde er gerne noch umsetzen: einen «Schatzmanismus-Tempel» bauen. Das Gebäude wäre farbenprächtig, wie bei seinen Architekten-Vorbildern Gaudi und Hundertwasser. «Es soll ein schöner Ort sein, nahe an der Natur und für die Öffentlichkeit zugänglich», beschreibt er seinen Traum – ähnlich dem Morgenland, nur auf Dauer.

 

 

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