Nah dran

Nah dran

Im «Needle Park» hat Tanja Polli einst Drogensüchtige reanimiert. Dem Leben und Menschsein auf der Spur ist die 50-Jährige heute als Yogalehrerin, Journalistin und Dokfilm-Kuratorin.

Von ihrer Altstadtwohnung aus lässt Tanja Polli gerne den Blick über die Dächer Winterthurs streifen. «Von hier aus kann ich den Himmel sehen.» Den Horizont zu fassen bekommen, das mag die Journalistin, Yogalehrerin, Geschäftsführerin einer Media-Agentur und – seit drei Jahren – auch Kuratorin einer Dokfilmreihe in der Coalmine.

Doch am Anfang stand das gedruckte Wort, genauer die Gassenzeitung Subita. 1993 war die Winterthurerin die erste Gassenarbeiterin der Stadt. Jugendlichen und Menschen am Rand der Gesellschaft ungefiltert eine Stimme zu geben, das sei die Idee gewesen. «Aufgrund der politischen Stimmung wurde damals viel über diese Leute geredet.» Tanja Polli wollte sie selbst sprechen lassen, jene, die sonst keinen Zugang zu politischen Gremien hatten. Mit der Strassenarbeit in Kontakt gekommen war sie zuvor, mit 22 Jahren, als sie ihre Tätigkeit in einer Kontakt- und Anlaufstelle beim Zürcher Platzspitz aufnahm. Spritzen tauschen, Essen ausgeben und erste Hilfe leisten gehörten zu ihren Aufgaben. Nach der Räumung des Platzspitzs zogen die Drogenabhängigen an den Letten weiter. Dort verschlimmerte sich ihre Situation noch einmal drastisch.

«An gewissen Tagen haben wir bis zu vier Drogenabhängige wiederbelebt»,

erzählt Tanja Polli. Konflikte mit der Polizei seien an der Tagesordnung gewesen. Indem sie sich gemeinsam mit den anderen Mitarbeitenden anwaltschaftlich für die Junkies einsetzte, habe sie sicher eine extreme Position eingenommen. «Der politische Druck auf die Drogenabhängigen war so gross, dass wir uns stark solidarisierten.» Egal, ob die Drogenabhängigen aus einem kleinen Bündner Bergdorf, Mailand oder Paris den Weg an den Platzspitz fanden, in den Augen vieler Polizist*innen waren sie Abschaum und wurden kriminalisiert, «dabei waren sie in erster Linie Opfer», sagt Tanja Polli bestimmt. «Ich erfuhr, dass Heroin vielen Süchtigen ein Gefühl von Geborgenheit schenkt. Hat man Löcher in der Seele, ist es doch klar, dass man sich von diesem Glücksversprechen angezogen fühlt.»

 

Verständnis für die Menschen am Rand der Gesellschaft aufbringen, zuhören und aus dem Bauch heraus entscheiden sowie beherzt handeln: Das sind Tanja Pollis Stärken. In ihren Augen hat sich der gesellschaftliche Umgang mit Personen, die aus der Norm fallen, in den letzten Jahren grundlegend verändert. Heute würden Menschen verantwortlich gemacht, wenn sie auf die schiefe Bahn geraten. Damals habe ein grosser Teil der Bevölkerung einfach Mitgefühl empfunden. «Hoffentlich packen sie es!», nur dieser Gedanke habe die meisten beschäftigt. Zusehen, wenn Leuten Ungerechtigkeiten widerfahren, kann Tanja Polli bis heute schlecht. «Das ist auch etwas, was mich antreibt.» Deshalb schreibt sie seit über elf Jahren für den Beobachter und hat eine Sommerschule im Kosovo ins Leben gerufen. Während der Sommerferien finden dort Ferienkurse statt, die Kinder aus serbischen, kosovarischen und Roma-Familien zusammenbringen. Durch das gemeinsame Spielen sollen Vorurteile abgebaut werden, die oft von Generation zu Generation weitergegeben werden. 

Personen urteilsfrei begegnen und das Menschsein immer neu ausloten: Das tut Tanja Polli als Buchautorin, aber auch auf ihren Reisen, die sie unter anderem nach Marokko, Tunesien, Australien und immer wieder in den Kosovo und nach Indien führen. In Länder, in denen Chaos auf den Strassen herrscht, muss man loslassen können. Das empfindet die 50-Jährige als Befreiung. Ihren beiden Söhnen, 20 und 22 Jahre alt, mitzugeben, dass es neben dem Wohlstand in der Schweiz noch mehr gibt, dass Leute anders leben und denken, sei ihr wichtig gewesen. Auf ihren Reisen kam sie auch mit Yoga in Berührung und machte eine Ausbildung – allerdings nie mit der Absicht, Yogalehrerin zu werden. Heute steht sie dennoch zwei bis dreimal pro Woche vor einer Klasse im Yogastudio Tössfeld und hat Freude am Unterrichten. Wiederum sind es die Begegnungen mit den Kursteilnehmer*innen, die sie motivieren. Ein Traum sei es, einen Kulturort zu schaffen, wo sich Menschen begegnen und etwas zusammen erleben können. «Erst in den letzten Jahren ist mir bewusst geworden, wie viel Kultur bewegen kann.» Dafür würde sie sogar beim Schreiben zurückstecken. Temporär zumindest.

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