Totentäli – ein Gespräch

Totentäli – ein Gespräch

Sag mal, wie reden wir eigentlich über Orte?

Sag mal, wie reden wir eigentlich über Orte? Bei einem Spaziergang durchs Naturschutzgebiet hinter der Burgruine Alt-Wülflingen spüren zwei Poetographierende dieser Frage nach.

 

«Die Schneise, die der Gletscher hinterliess, links und rechts Molassefelsen, dort oben die Burgruine Alt Wülflingen. Schnurgerade und steinig zieht sich die Weinmannstrasse durchs Tal, gesäumt von Ahorn-, Kirsch-, jungen Wallnussbäumen, Himbeeren, Löwenzahn, Klee. Weiss leuchten, von blauen und roten Libellen umkreist, die Seerosen auf den Weihern. Da, auf der Rietwiese, über den Kohldisteln, Brennnesseln, Schachtelhalmen, und zwischen dem Schilf, schillern Schmetterlingsflügel.» – «‹Totentäli›, seltsamer Name für einen heute so belebten Ort. Jenseitswelt, in der Wildbienen summen, Wasserfrösche quaken, Vögel zwitschern.» – «Poetogen?» – «Hmmm … ‹Blaue Libellen / und Schillerfalter flattern / über den Weihern.›» – «Oder: ‹Blaue Libellen. / Die Schillerfalter flattern. / Wind wiegt das Schilffeld.›» – «Das trifft es.» – «Und: ‹Grünes Schattenlicht, / im windgewiegten … windgewognen … winddurchwogten Zirpen … » – « … ‹beugt das Schilfblatt sich.›» – «Mhm.» – «Aber die Vielfalt des Tales verschwindet im Eydu.» – «Kristallisiert sie sich nicht zu ihm? Zumindest manchmal, wenn ich ein Eydu in einer gewissen Stimmung höre, bricht aus diesem Kristall die Stimmung des Ortes prismatisch auf und entfaltet sich mir in ihrer Gesamtheit.» – «‹Grünes Schattenlicht, / im winddurchwogten Zirpen / biegt das Schilfblatt sich.› … Aber dann erscheint in jedem Eydu das Tal in einem bestimmten Licht. Je nachdem, wo ich stehe, was ich erlebe, an was ich denke, entsteht ein anderes Eydu. Jedes formt nur einen möglichen Mikrokosmos. Neben diesem gibt es aber andere, die genau so treffend wären.» – «Ausser du schleifst die rohe Stimmung zu jener Kristallform, die alle anderen Stimmungen in sich bündelt und sie, in jedem Licht betrachtet, überstrahlt. Jenes Eydu, dessen Inhalt innehalten lässt, den Charakter eines Ortes lesbar macht, sich ins Gedächtnis einschreibt.» – «Sprichwörtlich tönt, wenn auch bloss eine gewisse Zeit lang.» – «Poetogenié.»

«Zum Charakter des Totentäli gehört sicher, dass es ein Naturschutzgebiet ist. ‹Natur-› im ‹Naturschutzgebiet› bezeichnet ja bereits ein bestimmtes Verständnis von Natur.» – «Genau. Die Rietwiesen müssen intensiv gepflegt werden, damit die Vielfalt der Pflanzen- und Tierarten zustande kommt und bewahrt bleibt. Die Salweiden beispielsweise wurden gezielt gesetzt, um die Population der Schillerfalter zu schützen.» – «Trotz der Eingriffe wirkt die Natur hier irgendwie intensiver, ähnlich – aber doch ganz anders – wie in den umliegenden Sonderwaldzonen, in denen man die abgebrochenen Äste und die umgestürzten Bäume, das Totholz, liegen lässt. Dort greift man doch insofern ein, als dass man absichtlich gar nicht eingreift.» – «Ähnlich ist es mit den Eydus. Die meisten Stimmungen trifft man am ehesten, wenn man die 5-7-5-Silben-Form beibehält, einige aber nur, wenn man sich für kleine, bewusste Eingriffe entscheidet. Indem man die Form, die ja vom Zwang befreit, frei sein zu müssen, überschreitet, wodurch wiederum die Freiheit überhaupt erst wirklich spürbar wird.» – «Du meinst, die 5-7-5-Silben-Form entspricht den Totholz-Wäldern, und die Eydus, die davon abweichen, sind wie das Totentäli, das zwar durch künstliche Eingriffe zustande gekommen ist, dafür aber die Natur speziell, andersartig zur Entfaltung bringt.» – «Und durch den Vergleich der beiden Gebiete miteinander formt sich wiederum unser Verständnis dafür, was Natur insgesamt ist.» – «Das, was man so zu verstehen versucht, ändert sich aber ziemlich schnell. Ich meine, kannst du dir vorstellen, wie es hier vor 50 Jahren aussah? Die Amphibienweiher wurden schliesslich erst 1971 von der Stadtforstverwaltung angelegt und 2001 um drei Weiher erweitert.» – «Ich weiss. Wenn ich mich richtig erinnere, hat der Naturschützer Jakob Forster in einem Interview gesagt, dass die Baumaschinen, die die Weiher anlegten, Radspuren hinterliessen, die durch den Regen zu kleinen Tümpeln wurden, die für die Gelbbauchunken ideal zum Laichen waren.» – «Baggergelb leuchtet / der Unkenbauch. Es liegt Laich / im Radspurgraben.» – «Mhm.»

 

Text: Julius Schmidt und Sandra Biberstein

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Poetographie

Hörtext von Marc Herter.

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heute ein extra grosses müesli. energie für einen aufregenden tag.