So hält es die Realität aus und überlässt die Kontrolle über sein Schicksal nicht anderen. Solange es die Geschichten selbst erzählt, und so den schmerzhaften Ereignissen einen Sinn geben kann, solange kann ihm niemand etwas anhaben.
Das Kind wächst zu Beginn des Romans während des Kalten Kriegs im ehemaligen Jugoslawien auf – es wohnt isoliert mit seiner Mutter und muss sich die Welt aus einer engen Perspektive erschliessen. Nach dem Tod der Mutter wird es in ein Waisenheim gebracht, danach von neuen Eltern adoptiert. Vieles, womit es konfrontiert wird, versteht es nicht. So beginnt es, den Wörtern, die es von den Erwachsenen aufschnappt, einen eigenen Sinn zu geben, und schafft sich mit der Sprache eine eigene, schützende Welt.
Karl Rühmann erzählt abwechselnd in der Ich-Perspektive und in der dritten Person über «das Kind», manchmal wechselt die Perspektive mitten im Satz. Dieses Spiel bezieht die Lesenden mit ein und zeigt, wie eng Fiktion und Realität miteinander verwoben sind. Es gibt keine Orts- oder Personennamen, viele Geschichten enden abrupt und fordern einen dazu auf, diese selbst weiterzuspinnen.
«Glasmurmeln, ziegelrot» ist ein poetisches, tieftrauriges, aber auch hoffnungsvolles Buch über die Kraft von Geschichten und Sprache.
«Glasmurmeln, ziegelrot» umfasst 168 Seiten und wiegt 275 Gramm.
Martina Keller arbeitet bei den Solothurner Literaturtagen und beim Kulturamt Thurgau und organisiert Sofalesungen in Winterthur.