Wenn Frau* will, steht auch in Winterthur alles still

Wenn Frau* will, steht auch in Winterthur alles still

Am 14. Juni setzen Frauen* in der ganzen Schweiz mit einem Streik ein Zeichen für eine vielfältige, offene und solidarische Gesellschaft. Auch in Winterthur finden zahlreiche Aktionen statt.

Der Aufruf zum Frauen*streik am 14. Juni polarisiert, die Diskussionen sind emotional. Aber weshalb? Was steht auf dem Spiel, wenn sich – nach dem Vorbild des Frauen*streiks von 1991 – Millionen von Frauen* auf den Strassen und öffentlichen Plätzen versammeln und für ihre Anliegen einstehen? Was spricht gegen die tatsächliche Gleichstellung von Frau* und Mann*, ja, die Gleichstellung von Menschen, egal welche soziale oder kulturelle Herkunft sie haben? Und wieso stört es manche, dass Frauen* genauso wie Männer* ihr Leben selbstbestimmt leben wollen?

Darüber zu sprechen, dass die Gleichstellung noch nicht erreicht ist, stellt in unserer Gesellschaft nach wie vor ein Tabu dar. Und wer öffentlich darüber spricht, beschreibt die Gleichstellung als Utopie – was zur Gleichstellung fehlt, wird zwar formuliert, aber trotzdem weicht man der Konfrontation aus, wenn es darum geht, sie umzusetzen.

 

Damit es nicht bei der Utopie bleibt, ist der Tag des Frauen*streiks für viele eine Möglichkeit, aktiv etwas zu verändern und vor allem um Probleme sichtbar zu machen, bei denen Handlungsbedarf besteht. In der ganzen Schweiz haben sich Frauen* zu Kollektiven und Komitees zusammengeschlossen und gemeinsam konkrete Forderungen erarbeitet. Durch die Streikvorbereitungen vernetzten sich die Frauen* zudem generationenübergreifend wie auch über alle Berufsgruppen hinweg. Sie tauschen sich untereinander über ihre Erfahrungen aus. Und weil sie darüber sprechen, bemerken viele auch, dass sie nicht allein sind mit den Herausforderungen, mit denen sie tagtäglich konfrontiert sind. Am wichtigsten ist allerdings die Erkenntnis, dass eine Frau* nicht einfach gleich Frau* ist: Sie alle sind einzigartig als Personen – und entsprechend haben sie auch alle individuelle Vorstellungen, wie sie ihr Leben gestalten wollen.

 

Streik-Gründe gibt es viele

Das zeigt sich auch in Winterthur. Im Februar traf sich das lokale Streikkollektiv zum ersten Mal. Seither sind immer mehr Frauen* dazugekommen – aus den unterschiedlichsten Gründen. «Als junge Frau hatte ich meinen Ehemann bei seiner Ausbildung unterstützt. Als ich selbst – die Kinder gingen alle bereits zu Schule – wieder arbeiten wollte, verweigerte er mir die Unterstützung», erzählt zum Beispiel Margrit. Sie organisierte sich mit einer Kollegin, indem sie sich bei der Betreuung der Kinder abwechselten und so beide an jeweils zwei Tagen wieder arbeiten konnten. Valentina berichtet, dass ihr Partner und sie die Kinderbetreuung gleichberechtigt aufgeteilt haben. Dennoch merke sie, dass von der Gesellschaft nach wie vor erwartet wird, dass sie als Frau alleine dafür zuständig sei: «Wenn mein Kind krank ist, rufen die Lehrpersonen mich bei der Arbeit an, obwohl sie wissen, dass mein Partner an diesem Tag frei hat und sich um die Kinder kümmert.» Was sie störe, sind die Kleinigkeiten, dass gesagt wird, wir seien alle gleich und es trotzdem als selbstverständlich gelte, dass Frauen* für Hausarbeit, Erziehungsarbeit und die Pflege zu Hause sorgen, dass sie sich um das Wohlergehen der Kinder und betagten Eltern kümmern und es Frauen* dadurch an Zeit und Geld fehle. «Es braucht ein Umdenken in den Köpfen, ansonsten ändere sich nichts», sagt sie. Andere Frauen* erzählen davon, dass sie trotz besserer Qualifikation weniger verdienen als ihre männlichen Kollegen, oder wie sie im Alltag immer wieder mit Sexismus konfrontiert sind.

 

Viele der Streikgründe wiederspiegeln sich im von der nationalen Streikversammlung verabschiedeten Aufruf zum Frauen*streik, der 17 Punkte umfasst. Das Manifest für den feministischen Streik, verabschiedet vom Collectif romand de la grève umfasst gar 19 Punkte. Darunter sind Forderungen formuliert wie: «Wir wollen gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit. Wir wollen eine Aufwertung der ‹Frauenberufe› und deren angemessene Entlöhnung.» Oder: «Wir wollen, dass Haus-, Erziehungs- und Betreuungsarbeiten ebenso wie die damit verbundene psychische Belastung anerkannt und geteilt werden.» Die Frauen* fordern zudem Renten, die ihnen ein Leben in Würde ermöglichen, und Sozialversicherungen, die ihre Existenz sichern. Sie setzen sich für eine längere Elternzeit ein, für ausreichend und vor allem bezahlbare Krippenplätze, sie wollen eine ökonomische Aufwertung der Care-Arbeit. Es wird in den Aufrufen aber auch ein Zeichen gegen sexistische, homophobe und transphobe Gewalt gesetzt und auf den fehlenden Respekt gegenüber Frauen* innerhalb von Beziehungen aufmerksam gemacht. Denn auch solchen Diskriminierungen sind noch immer viele Frauen* tagtäglich ausgesetzt – wenn auch nicht alle gleich intensiv. Es gehe beim Frauen*streik vor allem aber um die Solidarität mit den Frauen*, die in unserer Gesellschaft, in unserer direkten Nachbarschaft benachteiligt sind, darüber sind sich die Winterthurerinnen* einig.

 

Drei Arbeitsgruppen

Nicht nur bei den Treffen wird diskutiert, Radio Stadtfilter bringt seit Mai jeden Freitagabend von 18:30 bis 19 Uhr eine Sendung über den Frauen*streik, in der alle erdenklichen Themen angesprochen und die Forderungen diskutiert werden. Zudem haben sich die Frauen* in drei Arbeitsgruppen organisiert, um verschiedene Aktionen für den 14. Juni in Winterthur vorzubereiten. Bereits am 1. Mai machten sie mit Flyern und selbstgebackenen violetten Brötli auf den Streik-Tag aufmerksam. Sie sprechen im Alltag mit Frauen* über die ganz persönlichen Erfahrungen mit Diskriminierung, verteilen Flyer und versuchen Frauen* wie auch Männer* für die Probleme zu sensibilisieren. Damit leisten sie eine wichtige Aufklärungsarbeit bei Themen, über die in der Gesellschaft kaum gesprochen wird. Engagiert sind vor allem Frauen* aus dem Care-Bereich, also Frauen*, die für die Gesellschaft bereits unverzichtbare Betreuungsarbeit leisten. Sei dies als Lehrperson, in der Betreuung von Kindern, oder auch in der Pflege von Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind. Aber nicht nur.

 

«Frauen dürfen streiken – in ihrer Freizeit.» So lautet die Meinung vieler Arbeitgeber*innen und Gewerkschaften auf die Anfrage von Frauen*, die sich am 14. Juni 2019 am landesweiten Frauen*streik beteiligen möchten. Diese Antwort ist enttäuschend, denn damit verweigern sich die Arbeitgeber*innen und gerade auch die Gewerkschaften der dringend nötigen Diskussion. Gerade in Care-Berufen, in denen besonders viele Frauen* tätig sind, können nicht alle frei nehmen. Schliesslich muss der Betrieb etwa in Spitälern und Altersheimen aufrechterhalten werden, auch in Kindertagesstätten und in den Schulen ist die Anwesenheit der Arbeitnehmer*innen unverzichtbar. Dennoch gebe es Möglichkeiten, sich mit diversen Aktionen am Streik* zu beteiligen, erklären die Frauen* des Streik-Kollektivs: Indem zum Beispiel um 11 Uhr eine längere Pause gemacht wird und am Arbeitsplatz der Streik und die Forderungen angesprochen und diskutiert werden. Wer im Schicht-Betrieb arbeitet, findet vielleicht trotzdem – wenn auch nur kurz – die Möglichkeit, sich an einer der Aktionen im Laufe des Tages zu beteiligen.

 

Das Programm am 14. Juni ist nämlich so vielfältig wie die Forderungen. Um 11 Uhr laden die Frauen zu verschiedenen Mittagsaktionen am Kirchplatz ein. Ziel ist es, dass sich alle Frauen* wie auch Männer* zu den Themen informieren und diskutieren können, aber auch bei den Aktionen selbst mitmachen können. So werden zum Beispiel auch politische Forderungen gesammelt – aus diesem Grund wird auch Gemeinderät*innen vor Ort sein. Des Weiteren wird es Lesungen und Konzerte von Frauen* geben und um 15:30 Uhr treffen sich möglichst alle Frauen* aus der Winterthurer Kulturszene vor dem Albani. Denn auch sie wollen an diesem Tag für eine vielseitige, solidarische und offene Gesellschaft einstehen und machen zugleich darauf aufmerksam, dass Frauen* als Kulturschaffende zu wenig beachtet und anerkennt werden.

 

Männer*, solidarisiert euch!

Punkt 17 Uhr startet dann die bewilligte Demonstration unter dem Motto «Wenn Frau* will, steht alles still» auf dem Neumarkt. Auch Männer* sind herzlich eingeladen, sich mit den Frauen* zu solidarisieren und an der Demonstration teilzunehmen. Zeitgleich werden in der ganzen Schweiz Frauen* für ihre Anliegen durch die Städte ziehen und hoffen, dass der Frauen*streik den gleichen Effekt hat wie 1991. Damals folgten auf die Forderungen konkrete Resultate: das Gleichstellungsgesetz, der Mutterschaftsurlaub, Erziehungsgutschriften in der AHV, die sogenannte Fristenlösung beim Schwangerschaftsabbruch und Massnahmen gegen häusliche Gewalt. Gerade deshalb ist der Frauen*streik ein wichtiger Schritt, damit eine vielfältige, offene und solidarische Gesellschaft nicht Utopie bleibt, sondern endlich Realität wird.

 

Das Programm am Kirchplatz

11.00 Uhr Begrüssungsrede von Sarah Akanji auf dem Kirchplatz, Winterthur
13.00 Uhr Poetry Slam von Livia Kozma, schwülstige Lyrik von Julia Toggenburger, schwindelerregende Poesie von Ruth Loosli und rebellische Zeilen von Tanja Polli
14.00 Uhr Konzerte von Momo (Hip Hop),
Akina McKenzie (Singer/Songwriter),
PUFFER 5 (Balkan/Swing)
15.30 Uhr Ansprache von Mattea Meyer
16.30 Uhr Besammlung zur Demo auf dem Neumarkt, Winterthur
17.00 Uhr Begrüssungsrede und Demostart

 

https://www.14juni.ch und www.frauenstreikzuerich.ch

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