Wer heute nach Anhaltspunkten für Winterthurs Beteiligung am globalen Baumwollhandel sucht, findet sie in einem tristen Innenhof nahe des Neumarkts. Besagter Innenhof gibt die Sicht auf einen Teil der Büroräumlichkeiten der Paul Reinhart AG frei. Ein global agierendes Unternehmen im Handel von Hülsenfrüchten, Nüssen, Ölsaaten und insbesondere Baumwolle mit Sitz an der Technikumstrasse. Durch die Fenster sind Regale mit Baumwollproben zu sehen. Auf den Etiketten stehen Länder wie Brasilien, Burkina Faso, China, Syrien und Usbekistan, darunter jeweils eine Jahreszahl. Solidar Suisse nannte das Unternehmen mit einem Jahresumsatz von schätzungsweise 700 Millionen US-Dollar in seinem Baumwollreport von 2019 «diskreter Schweizer Baumwollkönig».
Jenseits der Gleise im Technopark findet sich ein weiterer Anhaltspunkt für Winterthurs globale Verstrickungen. Noch unscheinbarer agiert hier eine der führenden Händlerinnen der Kaffeesorten Arabica und Robusta; die Volcafe Ltd. Das Unternehmen kauft Kaffeebohnen aus verschiedenen Anbauregionen in Afrika, Südamerika und Asien und verkauft sie an der Börse den grossen Kaffeeröstereien weiter. Zu den Abnehmer*innen macht das Unternehmen – in einem Landbote-Artikel von 2017 als «verschwiegen und unauffällig» beschrieben – keine Angaben. Verschiedenen Medienberichten zufolge sollen unter anderem führende Kaffeehersteller wie Nestlé, Lavazza, Starbucks sowie auch die Schweizer Detailhändler Migros und Coop dazugehören. Der Jahresumsatz der Volcafe Ltd. beläuft sich gemäss desselben Landbote-Artikels auf 1 bis 2 Milliarden US-Dollar.
Verstrickte Unternehmensgeschichten
Dass die Schweiz keine Kolonien hatte und damit nie die politische Herrschaft über ein landfremdes Gebiet und dessen Bewohner*innen ausübte, dürfte selbst denjenigen bekannt sein, die im Geschichtsunterricht einen Fensterplatz hatten. Weniger bekannt ist jedoch, dass auch in der Schweiz Ende des 19. Jahrhunderts, während des sogenannten
Wettlaufs um Afrika, politische Stimmen eine Beteiligung an Kolonialisierungsprojekten forderten. Auch wenn diese Forderungen schliesslich ausgeschlagen wurden, trägt die Schweiz Mitschuld: Sie beteiligte sich an einem ausbeuterischen Wirtschaftssystem und erwirtschaftete auf Grundlage des Kolonialismus den Wohlstand, von dem sie bis heute profitiert. Schweizer Unternehmen wie die Paul Reinhart AG und die Volcafe Ltd. sind nur zwei Beispiele dafür.
Im Schatten Zürichs entfaltete sich im 18. Jahrhundert der Winterthurer Baumwollmarkt. 1789 wurde das Unternehmen Geilinger & Blum gegründet, welches sich auf den Handel mit Baumwollgarnen und -tüchern spezialisiert hatte – 100 Jahre später erfolgte die Umbenennung in Paul Reinhart & Co. und noch später in Paul Reinhart AG. Zusammen mit dem Unternehmen Gebrüder Volkart gehörte Paul Reinhart & Co. im 19. Jahrhundert zu den bedeutendsten Baumwollhändlern der Stadt. Aus der Gebrüder Volkart AG entstand die Volcafé Ltd.
Zurück ins späte 18. Jahrhundert: Die meisten Unternehmen im Baumwollhandel und -warengeschäft waren dazumal mit den städtischen Kaufmannsfamilien Bidermann, Steiner, Sulzer, Haggenmacher, Geilinger, Ziegler und Rieter verbunden. Die Rohbaumwolle, das weisse Faserbüschel im Inneren der reifen Kapsel eines Baumwollstrauchs, bezogen die Unternehmen aus Übersee von den Vereinigten Staaten, Indien, Brasilien sowie Kleinasien (heute Türkei). Durch dieses Geschäft beteiligten sich die Winterthurer Unternehmen an einem transatlantischen Wirtschaftssystem, das zu einem Grossteil auf Sklaverei basierte. Während in Indien und Kleinasien Kleinbauern die Plantagenarbeit verrichteten, arbeiteten in den USA und Brasilien überwiegend Sklav*innen auf den Feldern. Eine direkte Beteiligung am Sklav*innenhandel konnte in Winterthur dem Kaufmann Johann Jakob Sulzer nachgewiesen werden, der Sklav*innenexpeditionen finanzierte. Ausserdem besassen er, Jonas Hauser Sulzer und Johann Ulrich Geillinger Aktien der Compagnie des Indes, einer Gesellschaft für Sklav*innenhandel, die zu jener Zeit zu 30 Prozent in Schweizer Besitz war.
Von der Baumwoll- zur Industriestadt
Winterthurs Titel als Industriestadt kommt nicht von ungefähr, jedoch gerät oft in Vergessenheit, dass er grossteils auf die Baumwoll- und Textilindustrie zurückzuführen ist. Durch die industrielle Revolution in England Anfang des 19. Jahrhunderts konnten auch in der Schweiz bald günstigere Baumwollwaren hergestellt werden. Ein Zusammenschluss aus sieben Winterthurer Kaufleuten, darunter Angehörige der Familien Sulzer, Ziegler, Haggenmacher und Rieter, witterte eine neue Geschäftsmöglichkeit und investierte in den Bau der ersten mechanischen Spinnerei der Schweiz: die Spinnerei Hard. Johann Jacob Rieter, Gründervater der Rieter Holding AG, investierte das Vermögen, das er mit seinem Kolonialwarenladen an der Marktgasse 52 erwirtschaftet hatte. Heute befindet sich auf dem Spinnerei-Areal in Wülflingen die Wohn- und Gewerbegemeinschaft Hard.
Weil England zum Schutz des eigenen Wettbewerbsvorteils den Export von Textilmaschinen verbot, heuerten Schweizer Spinnereien englische Fachleute an, mit deren Hilfe sie eigene Maschinen konstruierten. In Töss errichtete die spätere Rieter Holding AG in den 1830er-Jahren ihre erste Fabrik für Textilmaschinen. Einige Kilometer davon entfernt, an der Zürcherstrasse, gründeten die Gebrüder Sulzer 1834 das gleichnamige Unternehmen und legten den Grundstein für die Sulzer AG.
Ein globales Netz
Christof Dejung gehört zu den wenigen Personen, die Winterthurs Geschichte im 18. und 19. Jahrhundert aus einer globalen Perspektive untersucht haben. Seine wissenschaftlichen Arbeiten liefern grundlegende Informationen für diesen Text. In seiner Dissertation hat der Professor für Geschichte an der Universität Bern sich mit dem Unternehmen Gebrüder Volkart beschäftigt und im Jahr 2013 ein Buch dazu veröffentlicht. «Die Gebrüder Volkart, einst eines der grössten Unternehmen im globalen Kaffee- und Baumwollhandel, war für mich lange Zeit ein Mysterium», sagt der Winterthurer. Für seine Studie erhielt er Zugang zum Unternehmensarchiv der Gebrüder Volkart AG, die zu diesem Zeitpunkt nicht mehr geschäftstätig war. Auch die Paul Reinhart AG habe er für seine Recherche angefragt. Diese gewährte jedoch keinen Zugang zu ihrem Firmenarchiv.
Das Unternehmen Gebrüder Volkart wurde 1851 gegründet. Es importierte indische Rohstoffe wie Kaffee, Gewürze und Rohbaumwolle nach Winterthur und exportierte Textilwaren und andere europäische Konsumgüter nach Bombay. Durch die fortschreitende Industrialisierung boomte das Baumwollgeschäft in Europa, welches durch die Eröffnung des Suezkanals und die Ausbreitung der Telegrafie dynamischer wurde. Die britische Kolonialregierung führte eine Bodensteuer ein und drängte indische Kleinbauern dazu, mehr Baumwolle für den Export anzubauen, womit der Platz für Nahrungsmittel zur Selbstversorgung knapp wurde. Schlechte Ernten hatten tödliche Hungersnöte zur Folge. Winterthurer Baumwollhändler wie die Gebrüder Volkart und Paul Reinhart & Co., welche Baumwolle unter vergleichbaren Bedingungen in Ägypten bezogen, erzielten hohe Profite aus diesen ausbeuterischen Produktionsverhältnissen.
Eine Liste aus dem Jahr 1863 mit den grössten Unternehmen Winterthurs verdeutlicht die Dimensionen des Winterthurer Handels zu dieser Zeit: Die Mehrheit der umsatzstarken Unternehmen ist Teil der Baumwoll- und Textilindustrie. Den ersten Platz belegte die «Bank in Winterthur». Diese wurde 1862 von Winterthurer Kaufleuten gegründet – Angehörige der Kaufmannsfamilien Volkart, Rieter und Sulzer beteiligten sich. Die Handelsunternehmen brauchten Kredite, da Kommissionsgeschäfte aufgrund der Telegrafenlinien seltener wurden. Die «Bank in Winterthur» vergab sie ihnen. Im Jahr 1912 fusionierte die «Bank in Winterthur» mit der Toggenburger Bank zur Schweizerischen Bankgesellschaft, um sich schliesslich 1998 mit dem Schweizerischen Bankverein zusammenzutun, was zur Gründung der UBS führte. Die UBS hat bis heute einen Sitz an der Stadthausstrasse, einem ihrer Geburtsorte.
Das Netz der Baumwollindustrie umspannte auch die Versicherungen: Zur Absicherung der Baumwolltransporte gründeten die Winterthurer Handelsunternehmer die Versicherungsgesellschaft Schweizerische Lloyd, welche aufgrund finanzieller Probleme im Jahr 1883 neugegründet wurde. Aus der Neuen Schweizerischen Lloyd entstand die Schweizerische National-Versicherungs-Gesellschaft, später als Nationale Suisse bekannt. 2014 wurden die Geschäfte des Unternehmens in die Helvetia integriert.
Die Fäden des Mäzenatentums
Gegen Ende des 20. Jahrhunderts ging das Unternehmen Gebrüder Volkart an die Familie Reinhart über. Theodor Reinhart übernahm die Leitung. Er war der Bruder von Paul Reinhart, der seinerseits in das Unternehmen Paul Reinhart & Co. involviert war. Trotz gleichem Tätigkeitsfeld und familiärer Nähe hatten die Unternehmer geschäftlich wenig miteinander zu tun. Die beiden Weltkriege, Wirtschaftskrisen und das Ende der Kolonialzeit führten dazu, dass die Gebrüder Volkart AG ihre Geschäftstätigkeiten in andere Weltregionen verlagerte und in den 1950er-Jahren in den brasilianischen Kaffeehandel einstieg. Diesen Geschäftszweig trat die Firma im Jahr 1989 der Erb Gruppe ab, die ihm den Namen Volcafe gab. Als die Erb Gruppe 2003 bankrott ging, wurde Volcafe Ltd. Teil einer britischen Agrarrohstoffgruppe. Die Aktivitäten im Baumwollhandel gab die Gebrüder Volkart AG kurz vor der Jahrtausendwende ebenfalls auf. Im Volkart-Rundbau an der St. Georgenstrasse befinden sich heute Räume des Wirtschaftsdepartements der ZHAW. Die Stiftung Volkart, die in den 1950er-Jahren aus dem Unternehmen entstanden ist, hat ihren Sitz immer noch im Volkarthaus, wo auch der Radio Stadtfilter und die Coalmine beheimatet sind.
Nicht nur die einstigen Firmengebäude, sondern auch zahlreiche Kulturinstitutionen, sind mit den Profiten der Gebrüder Volkart AG verknüpft. Ab dem 20. Jahrhundert betrieben Angehörige der Familie Reinhart grosszügig Mäzenatentum. Historiker Dejung sagt: «Ich weiss nicht, wie es heute ohne diese Gelder um das Winterthurer Kulturleben stehen würde.» Unter anderem die Kunstsammlung Oskar Reinhart am Römerholz und Stadtgarten, das Fotomuseum, das Musikkollegium, aber auch die Theaterauszeichnung Hans Reinhart-Ring, der Suhrkamp Verlag, der Künstler Ferdinand Hodler sowie der Schriftsteller Herman Hesse wurden von Mitgliedern der Familie unterstützt. Heute steht die Volkart Stiftung hinter dem Kulturlokal Coalmine und fördert verschiedene Projekte im Bereich Dokumentarfilm, Medien, Ökologie und Soziales, zum Beispiel Myblueplanet, Baba News und Swissaid. Die Paul Reinhart AG gründete 1983 ebenfalls eine Stiftung, die sich für die Förderung der öffentlichen Wohlfahrt und gemeinnütziger Institutionen einsetzt.
Auch im Naturmuseum erinnern heute Objekte in der ethnologischen Sammlung sowie exotische Vögel an die Fernreisen der Winterthurer Kaufleute während der Kolonialzeit. Doch die Umstände, unter denen sie erworben wurden, sind teilweise ungeklärt.
Teil 2:
https://www.coucoumagazin.ch/de/magazin/hintergrund/752229/Teil-2-Koloniales-Erbe-was-jetzt.html
Text & Recherche: Amina Mvidie & Hanna Widmer
Amina Mvidie ist Coucou-Autorin und hat für die Recherche viele Blätter mit Stammbäumen und Mindmaps vollgekritzelt.
Hanna Widmer war während der Recherche beeindruckt von der Komplexität und den Verstrickungen der kolonialen Vergangenheiten – und ist gespannt auf den zweiten Teil, in dem der Verantwortung der Akteur*innen nachgegangen wird.
Julien Felber ist Fotograf und Journalismusstudent aus Winterthur.
Verein Kehrseite Winterthur bietet die Stadtführungen «Dunkle Geschäfte – Winterthur und der Kolonialhandel» an.www.kehrseite-winterthur.ch