«Leerstellen und Lückenbüsser»

«Leerstellen und Lückenbüsser»

Fremd ist das, was man draus macht: In der Schweizer Premiere des Theaterstücks «Die toten Tiere» im Kellertheater stellt die Präsenz eines stummen Fremden Welten auf den Kopf.

Manchmal findet jemand eine Münze auf dem Weg. Helen findet gar einen fremden Mann auf der Strasse – und nimmt ihn, ohne gross nachzudenken, mit zu sich nach Hause. Viel sagt er nicht   (im Grunde genommen gar nichts) und genauso wenig tut er auch. Eigentlich ist er einfach da. Und sein Dasein löst einiges aus:            In Helen; und auch in Veit, ihrem Ex-Mann, der per Zufall vorbeikommt und mit der ungewohnten Situation konfrontiert wird.

Das ist die Ausgangslage des Stücks «Die toten Tiere», das Mitte Januar im Kellertheater aufgeführt wird. Eine «radikale wie humorvolle Versuchsanordnung über die Art und Weise, wie sich Rassismen klammheimlich in unseren Alltag hineinorganisieren», schreibt das Kellertheater über das Stück der Autorin Eva Rottmann. Rassismus, die Andersartigkeit, das Fremde – grosse Themen, die derzeit nicht nur über Theaterbühnen, sondern auch durch die Medien geistern. «Die toten Tiere» sei sehr intuitiv entstanden, erzählt Autorin Eva Rottmann, und es sei spannend zu sehen, wie das Stück als Auseinandersetzung mit Rassismus inszeniert würde. Ihr selber ging es eher um das Fremdsein allgemein: Nämlich dass jeder Mensch im Grunde genommen fremd ist und sich unverstanden fühlt. 

Auch für Regisseur Udo van Ooyen steht ebendieses Fremdsein ganz klar im Zentrum – aber eher das, was das Fremde in uns auslöst. Denn im Grunde genommen ist «das Fremde» eine Art uns vorgehaltener Spiegel, in dem wir unseren Umgang mit ebendem reflektieren: die Angst, die Faszination, oder dann das Bedürfnis, etwas Gutes zu tun. Auch Helen hat sich das auf die Fahne geschrieben: Sie will etwas Gutes tun. Nach der Trennung von ihrem Ehemann Veit steht kein Stein mehr auf dem anderen. Obwohl die Welt des ehemaligen Ehepaars nach aussen hin – wenngleich auch etwas kühl und kontrolliert – perfekt scheint. Dennoch sind die beiden alles andere als im Reinen mit sich selbst. Veit hat die emotionale Leerstelle nach der Trennung mit einer neuen Freundin gefüllt. Sein aufgefrischtes Image als Frauenversteher pflegt er sorgfältig; und dank dem Einfluss seiner viel jüngeren Freundin ernährt er sich auch nur noch vegan. Sein Machotum versucht er hingegen nicht mehr allzu sehr gegen aussen zu demonstrieren, trauert ihm aber gleichzeitig noch hinterher: «Ich bin eigentlich ein Cowboy», sagt er an einer Stelle im Stück über sich selbst.

Helen hingegen, beruflich eine sehr erfolgreiche Businessfrau, versucht sich als Gutmensch – und nimmt in ihrer Euphorie kurzerhand jenen eingangs erwähnten Fremden nach Hause: «Wer weiss, wie viele Menschen da draussen noch auf den Strassen liegen und darauf warten, dass mal jemand kommt und ihnen hilft», sagt sie in einem Monolog zum Publikum. Als per Zufall Veit vorbeischaut, wird auch er in die neue Situation mit hineingezogen – und er lässt es geschehen, teils aus Eifersucht, aber auch aus seinem eigenen Gefühl des Alleinseins heraus. Und damit beginnt das Chaos und der zunehmende Kontrollverlust im Leben der beiden frisch Getrennten. Denn die drei schaffen sich in der Wohnung ihr eigenes Biotop – und verlieren mehr und mehr den Bezug zur Aussenwelt. Durch die Quasi-Adoption des Mannes werden die beiden zu Temporär-Eltern – der Fremde wird bemuttert, während die beiden mit ihrem Engagement versuchen, über ihr jeweiliges Vakuum hinwegzukommen. Helen kündigt gar ihren Job, um mehr Zeit für den jungen Mann zu finden; und auch Veit schmeisst alles hin. Ihr Verhalten zu reflektieren, halten sie wohl nicht für nötig – oder können es in ihrer Euphorie gar nicht tun. «Sie haben beide etwas sehr Infantiles an sich», bemerkt Regisseur Udo van Ooyen: «Die Art und Weise, wie sie Konflikte austragen, erinnert an Kleinkinder.»

Er möge Eva Rottmanns Sprache, meint Udo van Ooyen, und dass es kein ganz realistischer Text sei. Auf jeden Fall kein Lehrstück, in dem moralisierend mit dem Zeigefinger gefuchtelt werde. Zwar bediene sich das Stück in ironischer Weise gängiger Klischees, doch das Ganze wird nicht so überdreht, dass sämtlicher Realitätsbezug verloren geht. Zu Beginn sei «Die toten Tiere» noch leicht und komödiantisch, doch mit der Zeit drücke die Ernsthaftigkeit immer mehr durch. Im Stück gibt es auch einige Monologe, in denen sich die Figuren direkt ans Publikum wenden – persönliche Gedanken, von denen der jeweils andere nichts weiss. So sieht man nicht bloss die Handlungen, sondern erfährt auch etwas über die Beweggründe ebendieser.

Mit Anna-Katharina Müller und Erich Hufschmid holt der Regisseur zwei bekannte Gesichter der Schweizer Theaterszene auf die Bühne des Kellertheaters. «Dass sie einen Draht zur Komik haben, war mir wichtig», sagt Udo van Ooyen, aber nebst diesem bringen sie auch selbstverständlich eine grosse schauspielerische Differenziertheit mit. Der burkinesische Schauspieler Urbain Guiguemdé, der den jungen fremden Mann verkörpert, steht dagegen vor einer ganz anderen Herausforderung: Er muss sich seine Bühnenpräsenz ohne jeglichen Text «erkämpfen». Keine einfache Aufgabe, auch nicht für Regisseur van Ooyen. Aber in den fünf Wochen proben darf und soll ja auch noch einiges entstehen.

 

«Die toten Tiere»

Schweizer Premiere, Sa., 12. Januar, um 20 Uhr

So, 13. Januar um 17:30 Uhr

Mi/Fr, 16./18. Januar und 22./25. Januar um 20 Uhr

Sa/So, 19./20. Januar und 26./27. Januar um 17:30 Uhr

Eintritt: CHF 35/15

Kellertheater

Marktgasse 53

www.kellertheater.winterthur.ch

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