Von eins auf hundert

Im Dezember 2012 erschien die erste Ausgabe des Coucou. Nun sind es bereits hundert. Ein Interview mit Gründerin und Redaktionsleiterin Sandra über die Anfänge, Freinächte und Bierprojekte, über die Entwicklung und die Zukunft des bisher einzigen Winterthurer Kulturmagazins.

Hundert Ausgaben à je sechs Millimeter Dicke gibt sechshundert Millimeter, also 0,6 Meter (HA, Mathematik!), also etwa ein Hundertsechsundsechzigstel der Höhe des Roten Turms…? Naja, es sind zumindest so viele Ausgaben, dass wir mehrfach laufen müssen, bis wir sie alle auf die Dachterrasse des Coucou-Büros in der Steibi gehievt haben. Dann sitzen wir da, mit zwanzig Kilo Coucou (oder so) auf dem Schoss und Sandra meint: «Wir waren damals schon bitzeli wahnsinnig.» Damals, da war die heute 32-Jährige 21 Jahre alt und hat für den Landboten geschrieben. Sie hatte gemerkt, dass ihre dort publizierten Konzertberichte nicht zu den jungen Menschen gelangten und von älteren Leser*innen mit wenig Interesse aufgenommen wurden. «Das war unbefriedigend; nicht nur für mich, auch für die lokale Musikszene», sagt Sandra. Die logische Schlussfolgerung war, etwas Eigenes zu kreieren. Zusammen mit Melanie Staub, Jigme Garne, Rudolf Gehring, Miguel Garcia und Martin Wilhelm entstand die Idee eines Winterthurer Kulturmagazins. Nachdem Melanie Staub letzten Herbst die Verlagsleitung abgegeben hat, ist Sandra die Einzige, die vom Anfangsteam der Heftproduktion noch dabei ist.

Nun sitzt sie hier, umgeben von fast 100 Coucou-Ausgaben, aus deren Seiten man etwa dreitausend Papierflieger bauen könnte. «Vielleicht waren wir damals alle etwas naiv. Ein Magazin herauszugeben ist um einiges aufwendiger, als man im ersten Moment meint. Aber wir dachten uns, wir machen einfach mal.» Auf eigenes Risiko und ehrenamtlich. Sandras Job als Redaktionsleiterin umfasst etwa ein 60-Prozent-Pensum. Weil das Coucou ein Herzblut-Projekt ist, war und ist es ihr stets wichtiger, einfach das zu machen, was sie gerne macht, zumal sie in all den Jahren immer mit wenig Geld durchgekommen sei. Man habe ihr am Anfang oft gesagt, das Coucou überlebe nicht mehr als drei Ausgaben. Solche Kommentare haben Sandra und den Rest des Teams allerdings nur noch mehr gepusht.

Hast du diese furchtlose und, wie du sagst, naive Einstellung über die Jahre beibehalten?

Sandra: Wir sind heute sicher besser organisiert als zu Beginn. Mehrere Nachtschichten hintereinander einzulegen kommt zum Glück nur noch sehr selten vor. Ich erinnere mich aber noch gut an die Freinächte, in denen wir die verspäteten Artikel ins Layout abgefüllt haben, bevor die Ausgabe dann in den Druck ging. Danach bin ich oft morgens noch durch die Stadt spaziert, um runterfahren zu können. Frühmorgens Feierabend zu machen, während alle anderen gerade in den Tag starten, war schön und absurd zugleich.

Wenn ich eine Idee gut finde, dann ist es immer noch so, dass ich sage: Das probieren wir jetzt aus. Ich muss mich und das Coucou-Team aber manchmal etwas bremsen, damit es nicht zu viel Arbeit wird. Bei vielen Ideen hängt oft ein Rattenschwanz an organisatorischer, zeitfressender Arbeit dran.

Aus dem «einfach mal ausprobieren» sind neben dem Kulturmagazin auch eigenständige Nebenprojekte entstanden, wie die Coucoukunst-Ausstellung an den Musikfestwochen oder das Kulturstadtlabor, das im Sommer 2020 zusammen mit anderen Kulturinstitutionen und Kulturschaffenden kreiert wurde, um während der Pandemie die Kultur in den öffentlichen Raum zu bringen. «Bierprojekte» nennt Sandra solche Aktionen, die als Hirngespinst über einem Bier entstehen und dann oft zu mehr werden.


Wo Sandra ist, da ist Kultur, und wo Kultur ist, da ist Sandra. Als sie im April in der Villa Sträuli ihr erstes Konzert des Jahres besuchte, habe sie sich danach gefühlt wie andere vermutlich nach einer Massage. Es passiere nicht selten, dass sie ein Theater oder eine Ausstellung besuche und danach neue Ideen für Artikel oder Projekte habe. Man habe sie schon lange vor der Gründung des Coucou jeden Abend an einem kulturellen Event angetroffen. Dort hat sie die Leute der Kulturszene kennengelernt, die sie heute als ihre zweite Familie bezeichnet. Die Nächte im Salzhaus oder im Kraftfeld, wo sie oft bis zum Morgen mit den Menschen «verhocked» sei, seien sehr wertvoll gewesen, um zu verstehen, wie eine Institution und die Kulturszene insgesamt funktioniert. Selbst auf der Bühne stehen oder Künstlerin werden, das wollte sie nie. «Ich bin lieber die, die im Hintergrund die Fäden in der Hand hält.

Etwa dreissig Leute fasst der Pool der Autor*innen und Bildermacher*innen, die aktuell beim Coucou mitarbeiten. Hinzu kommt das Kalender- und das Korrektoratsteam mit je sieben  bis acht Personen. Zählte man alle, die schon geschrieben, fotografiert, illustriert oder sonst auf eine Art und Weise mitgearbeitet haben, dann sind es einige hundert Fäden mehr, die zum Coucou führen. Denn von Beginn an sah sich das Magazin auch als Nachwuchsplattform, das auch noch unerfahrenen Schreibenden oder Künstler*innen einen Platz bietet, um Erfahrungen zu sammeln und zu experimentieren.

Gebt ihr allen eine Chance, ganz egal, wie fürchterlich jemand vielleicht schreibt?

Sandra: Ja. Wir geben zu jedem Text ein ausführliches Feedback, so dass die Autor*innen diesen nochmals überarbeiten können. Zudem bekommt man mit der Zeit ein Gespür, was wann abgedruckt werden kann, damit das Gleichgewicht von Professionalität und Experimentieren stimmt. Ein Autor hatte zum Beispiel viele Fluchwörter in seinen Texten, da haben wir uns gefragt, an welchen Stellen es das verträgt und notwendig ist und an welchen nicht.

Zu jeder der hundert Ausgaben könnte sie eine Geschichte erzählen, sagt Sandra. Während die Rubriken «Hör mal», «Lies mal» und «Schau mal» sich bis heute im Magazin gehalten haben, sind andere Rubriken gekommen und wieder gegangen – so auch eine Rezeptrubrik, in der Fabian Häfeli, bis 2017 Bildredaktor beim Coucou, Rezepte von Restaurants organisierte und Rezeptinterpretationen im Magazin abdruckte. «Heute fotografiert er für die Starköch*innen der Schweiz», sagt Sandra.

Bist du zufrieden mit der Entwicklung des Coucou?

Sandra: Ja, sehr. Zu Beginn hatten wir zum Beispiel kein Korrektorat, da liess sich vermutlich auf jeder Seite ein Fehler finden. Wir haben dann nach drei, vier Ausgaben reagiert und ein Korrektoratsteam zusammengestellt. So haben wir es auch bei jeder anderen ‹Baustelle›  gemacht. Wir lernen beim Machen vieles dazu und überlegen uns konstant, was wir mit unseren ehrenamtlichen Ressourcen umsetzen können, um das Magazin besser zu machen. Es sind aber auch die eigenen Ansprüche an das Magazin, die gewachsen sind. Persönlich habe ich gelernt, misstrauischer zu sein. Es gibt Leute, die sehr gut reden können und einiges versprechen, dann aber doch nicht liefern. Von nicht eingehaltenen Deadlines lasse ich mich aber nicht aus der Ruhe bringen, sondern suche einen Plan B, C oder auch mal D.

 

Hast du auch mal daran gedacht, aufzuhören?

Sandra: Vielleicht einen halben Abend lang. Das lag dann aber daran, dass es Veränderungen im Kernteam gab und ich mich fragte, wie wir vorübergehend die zusätzliche Arbeit stemmen sollen. Die Entwicklung des Coucou geht weiter. Das jüngste Beispiel entstand durch die Covid-19-Pandemie: Weil kulturelle Veranstaltungen nicht mehr stattfanden, hat sich auch der inhaltliche Fokus verändert. Die Artikel, die Autor*innen schreiben wollen, beziehen sich vermehrt auf gesellschaftliche Themen. Das mag nicht nur daran liegen, dass das kulturelle Leben noch immer eingeschränkt ist, sondern dass Themen wie Rassismus, Frauen(stimm)rechte und Immigration seit zwei, drei Jahren das öffentliche Gespräch dominieren – und so auch Einzug im Coucou finden.

Wohin soll’s zukünftig noch gehen?

Sandra: Mir ist es ein Anliegen, dass das Coucou auch in Zukunft eine Nachwuchsplattform ist und ich die Redaktionsleitung in ein paar Jahren an jemand Jüngeres abgeben kann. Ziel ist es deshalb, die Strukturen in den nächsten zwei, drei Jahren so nachhaltig zu gestalten, dass die Arbeit nicht mehr zu einem so grossen Teil ehrenamtlich geleistet werden muss, dass also das Kernteam, wie auch die Autor*innen, Bildermacher*innen, das Kalenderteam und das Korrektorat für ihre Arbeit anständig entlöhnt werden können. Dafür müssen wir aber ein paar hundert Abonnent*innen mehr und zusätzliche Inserent*innen gewinnen und alternative Finanzierungsmöglichkeiten suchen. Es gibt also noch einiges zu tun.



Rebekka Bräm schreibt seit Juni 2020 fürs Coucou, nachdem sie infolge Zuzugs auf gut Glück «Kulturmagazin Winterthur» googelte. Sie schätzt das ausführliche, ehrliche und anregende Feedback zu ihren Texten und schreibt, sicher auch deshalb, heute für die Annabelle.

 

Maria ist seit September 2020 Autorin, studiert Fremdsprachen und fühlt sich seit der Mitarbeit beim Coucou in Winti noch mehr zuhause.

 

Johanna Müller gestaltete 2014 ihre erste Page Blanche. Seitdem engagiert sie sich als Illustratorin und als Vorstandsmitglied beim Coucou. Das Kulturmagazin als Bühne für junge Künstler*innen und Autor*innen hat ihr auf ihrer künstlerischen Reise schon unzählige Türen geöffnet und so ist es ihr eine Herzensangelegenheit, diesen Plattformgedanke weiterhin zur Entfaltung zu bringen.

 

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