Dean: «Seit dem Vorfall fühle mich in meiner Heimatstadt Winterthur nicht mehr sicher, und bin deshalb nach Zürich geflüchtet.»
Julian: «Als Jugendlicher hätte ich einen Safe-Space in Winterthur sehr wertvoll gefunden. Schwul sein unter Heteros kann anstrengend sein.»
Milusch: «Oft fehlen in Winterthur die Möglichkeiten, queere und barrierefreie Anlässe durchzuführen. Das schliesst einen Teil der Community aus.»

Warum Safe-Spaces wichtig sind

In Winterthur gibt es nur wenige Safe-Spaces für queere Menschen, auch Hasskriminalität ist ein Thema. Drei junge Winterthurer*innen erzählen über ihr Anderssein in einer «weltoffenen» Stadt.

Es ist ein Samstag Ende November 2017. Die Kälte – es ist etwa drei Grad Celsius – hat die Strassen um zwei Uhr nachts schon längst eingenommen und der Boden ist nass. Nichtsdestotrotz sind immer noch einige Menschen unterwegs. Dean, damals 23 Jahre alt, möchte am Postomat an der Stadthausstrasse gerade Geld abheben, als er und seine zwei Freundinnen plötzlich von vier jungen Männern umzingelt werden. Dean bleibt bewusst ruhig, er will in einer solchen Situation nicht auffallen. Einer der Typen fragt: «Bist du etwa schwul?» Dean bestätigt eingeschüchtert. «Soll ich dich etwa Tunte nennen, oder was?», will einer der Typen als nächstes wissen. Bevor Dean überhaupt darauf reagieren kann, trifft ihn eine Faust im Gesicht. Ein Knall dröhnt in Deans Kopf und durch seine Wange fährt ein stechender Schmerz. «Dean, renn!», schreit eine der Freundinnen. Er rennt los, die vier Männer verfolgen ihn. Dean knickt mit dem Fuss ein und fällt zu Boden. Neben ihm steht ein Stapel Gartenstühle, die von einer Blache bedeckt sind. Schmerzerfüllt versteckt er sich unter der Blache und hört, wie die Täter an ihm vorbeirennen. Für eine Weile bleibt Dean in seinem Versteck und versucht die Schmerzensschreie zurückzuhalten. Der Fuss ist verstaucht, der Kiefer gebrochen. Drei Wochen muss Dean im Spital verbringen, danach bleibt er lange arbeitsunfähig. Die Metallplatten, die seinen Kieferknochen zusammenhalten, wurden erst kürzlich entfernt. Die Täter sind bis heute nicht gefasst.

 

Hate Crimes in der Schweiz

Das Verbrechen gegen Deans zählt zu jenen Straftaten, welche als «Hate Crimes» – zu Deutsch: Hassverbrechen – bezeichnet werden. Als solche werden durch Vorurteile motivierte Straftaten definiert, die darauf abzielen, Menschen einer spezifischen gesellschaftlichen Gruppierung einzuschüchtern. Neben Angriffen auf Personen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung fallen auch sexistisch, rassistisch oder antisemitisch motivierte Vergehen in diese Kategorie. Hassverbrechen werden bis heute statistisch nicht als solche erfasst. Am 26. September 2019 hat der Nationalrat die Motion von Rosmarie Quadranti (BDP) zur statistischen Erfassung von Hate Crimes gegen LGBTQ+ Menschen angenommen. Nun erwarten die Befürworter*innen vom Ständerat, dass er ihr Anliegen ebenfalls ernst nimmt. Ein durchaus wichtiger Schritt. Zudem sendet das Abstimmungsergebnis vom 9. Februar über das das Verbot, Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung zu diskriminieren, mit einer schweizweiten Zustimmung von 63,1 Prozent ein klares Signal. Für Anna Rosenwasser, Aktivistin und Geschäftsführerin der Lesbenorganisation Schweiz, war die Erweiterung der Rassismus-Strafnorm überfällig. Sie weist darauf hin, dass selbst in Städten, die sich selbst gerne als modern und offen wahrnehmen, viel homophobe Gewalt passiert. Sie nimmt dabei auf eine nationale Befragung der LGBTQ+ Community zu Hate Crimes Bezug. Laut dieser haben 73 Prozent der Befragten schon einmal eine Belästigung oder Beleidigung erlebt. 7 Prozent wurden bereits einmal angespuckt, 13 Prozent schon mindestens einmal körperlich angegriffen.

 

Zugehörigkeitsgefühl ist wichtig

Übergriffe wie jener, den Dean im November 2017 erlebt hat, belasten die Betroffenen auch psychisch. «Seit dem Vorfall fühle mich in meiner Heimatstadt Winterthur nicht mehr sicher, und bin deshalb nach Zürich geflüchtet», erklärt Dean. Bei Milusch war es anders: Milusch wuchs in einem Dorf im Zürcher Unterland auf und zog vor eineinhalb Jahren nach Winterthur. In der Wahlheimat fühlt sich Milusch nun sicher. Die Kindheit und Jugend auf dem Land war nicht immer einfach. Offen erzählt Milusch nun, mit 30 Jahren, dass da immer das Gefühl gewesen sei, anders zu sein als die anderen Kinder. Nicht nur, weil Milusch non-binär und asexuell ist, sondern auch wegen dem ADHS, das bei Milusch erst spät diagnostiziert wurde, fühlte Milusch sich lange Zeit nirgends richtig zugehörig. «Erst als ich durch die Milchjugend in Kontakt mit der LGBTQ+ -Szene kam, fand ich die Bezeichnungen für mein Anderssein. Die Gemeinschaft hat mir sofort viel Orientierung und Kraft gegeben.» Rückblickend sagt Milusch, dass es hilfreich gewesen wäre, früher in Kontakt mit der LGBTQ+ -Community zu kommen. Eine queere Schulgruppe, wie es sie mittlerweile an einigen Gymnasien und Fachhochschulen gibt, hätte Milusch damals geholfen: «Gerade in der Schulzeit ist es so wichtig, dass man sich irgendwo zugehörig fühlt.»

Ähnliches erzählt auch der 23-jährige Julian. Er hatte in der Schulzeit ebenfalls mit Homophobie zu kämpfen. Schon in der Primarschule im Schulhaus Wülflingerstrasse wurde seine «Andersartigkeit» zum Beweggrund, nach der 6. Klasse die Kantonsschule Rychenberg anzupeilen. Von älteren Bekannten wusste er, dass ihm in der lokalen Sekundarschule vermutlich physische und verbale Gewalt gedroht hätte. Der Sprung ins Gymnasium gelang, die erhoffte Sicherheit und Akzeptanz blieb jedoch aus. An deren Stelle traten verschiedene Formen der Ausgrenzung von den Schülern aus der Parallelklasse. «Wer als Junge nicht einem gewissen übermaskulinen Stereotyp entsprach, der hatte es an dieser Schule schon eher schwer», meint Julian rückblickend. Unter anderem bewegte ihn dies zu einem Wechsel in die Kantonsschule im Lee. Ein Teil der Willkommensrede zu Beginn des ersten Jahres blieb ihm bis heute in Erinnerung: «Die Schule vermittelte uns, dass jede*r Schüler*in in ihrer*seiner Einzigartigkeit wichtig ist. Die Gesamtheit der Individuen mit ihren Stärken und Schwächen forme erst die Gemeinschaft». Julian schmunzelt und fügt hinzu: «Das war ein schöner Moment.»

 

Lokale Treffpunkte für die Community

Gemeinschaften, deren Mitglieder sich untereinander stützen und austauschen, gibt es auch in Winterthur. Das Angebot für die lokale LGBTQ+ Community ist für eine Grossstadt jedoch äusserst schmal – aber es gibt sie. In der Winterthurer Altstadt findet man im Untergeschoss eines weissen Hauses mit grünen Fensterläden das «wilsch». Das «wilsch» markiert einen Treffpunkt für die lokale LGBTQ+ -Community. An der Tür des Lokal stehen die Worte: «Jeden Donnerstag und Freitag von 19 bis 23 Uhr.» Zusätzlich finden im historischen Gebäude an der Badgasse 8 abwechslungsreiche Veranstaltungen wie gemeinsame Abendessen, Karaoke-Singen oder Brunchs statt und es werden gemeinsame Ausflüge organisiert. Das «wilsch» ist der älteste LGBTQ+ -Treffpunkt in Winterthur und wurde vor über 20 Jahren gegründet. Nebstdem existiert noch die «Milchbar», die jeden zweiten Mittwoch in der Alten Kaserne für «junge Falschsexuelle» einen Treffpunkt anbietet. Die Winterthurer LGBTQ+ -Community hat monatlich also ein paar wenige Stunden, um diese gemeinsam in einem Safe-Space zu verbringen. Ein «Safe-Space» ist ein Ort, an dem sich Menschen zurückziehen können, die marginalisiert oder diskriminiert werden. «Minderheiten sind in den allermeisten Situationen auch in ihrem Alltag Minderheiten. Wenn du schwul, lesbisch oder bi bist, fühlst du dich konstant ‹anders›. Je nachdem wird dir auch täglich klargemacht, dass dieses ‹anders›. schlecht ist», sagt Anna Rosenwasser. Auch sie entschied sich Winterthur zu verlassen, um der um einiges sichtbareren queeren Community in Zürich näher zu sein. «Anlässe, an denen du einmal nicht in der Minderheit bist, an denen du mal nicht hören musst, dass mit deinem Anderssein irgendetwas falsch ist, können dich dann bestärken und dich realisieren lassen, dass mit dir alles richtig läuft», fügt sie hinzu. Solche Anlässe würden dann im Idealfall dem Konzept des Safe-Space entsprechen. Die verschiedenen Formen von Safe-Spaces bieten Gleichgesinnten die Möglichkeit, sich auszutauschen. Gegenseitige Akzeptanz ist an diesen Orten zentral.

Auf seine Jugendzeit zurückblickend meint Julian: «Früher hätte ich einen Safe Space in Winterthur sehr wertvoll gefunden. Ich musste auch erst einmal lernen, was es heisst, schwul unter Schwulen zu sein, und was es heisst schwul unter Heterosexuellen zu sein.» Auch Dean berichtet über sein Ausgangsverhalten, dass er solche sicheren Orte im Alltag vermisst: «Wenn ich ein normales Lokal betrete, bin ich oft innerlich unruhig und versuche mich einfach nur normal zu verhalten. So fühle ich mich einigermassen sicher und provoziere niemanden mit meiner sexuellen Orientierung.» Daraus geht hervor, dass Safe Spaces besonders für junge Menschen ein wichtige Ankerpunkte während der eigenen Entwicklung sein können. Diese Ankerpunkte lassen sich nebst dem «wilsch» und der «Milchbar» in Winterthur primär im benachbarten Zürich finden. 

 

 

Auch barrierefreie Anlässe fehlen

Doch warum ist die Dichte an Safe-Spaces in einer eigentlich «weltoffenen» Stadt wie Winterthur so gering? Anna Rosenwasser erklärt sich dies durch die Nähe zu Zürich und durch die vielen queerfreundlichen Spaces, über die Winterthur schon verfügt. Es gebe aber einen entscheidenden Unterschied zwischen queerfreundlichen Spaces und Safe-Spaces: «Ein Ort, an dem LGBTQ+ willkommen sind, ist nicht dasselbe wie ein Ort, an dem sie in der Mehrheit sind. Es braucht meiner Meinung nach beides. Ein Metalhead kann sich an einer 90er-Party wohlfühlen, aber es ist für ihn vermutlich was anderes als an einem Metal-Festival zu sein.» Auch Milusch findet, dass es in Winterthur zu wenige Veranstaltungen gebe, die explizit an die queere Community gerichtet sind. Für Milusch fehlten insbesondere Veranstaltungen, welche auch Menschen mit einer physischen oder psychischen Beeinträchtigung inkludieren: «Viele queere Veranstaltungen drehen sich ums Party machen und Alkohol – das schliesst Menschen mit einem Alkoholproblem oder gewissen neurologischen Beeinträchtigungen aus», sagt Milusch. Durch das ADHS fühlt sich Milusch in stark reizenden Umgebungen nicht wohl. Ausserdem trinkt Milusch seit einiger Zeit nicht mehr – seither sei es schwieriger geworden, an queeren Veranstaltungen teil zu nehmen. «Deshalb wünsche ich mir mehr queere Kafi-Anlässe in Winterthur», sagt Milusch. Aber anders als bei Partys, für welche sich relativ einfach die passende Location finden lasse, tauche bei anderen Anlässen zusätzlich noch das Problem auf, dass es in Winterthur schwierig sei, überhaupt Räume zu finden, die günstig gemietet werden können und gleichzeitig für alle Menschen zugänglich seien. In kaum einem der engen und zum Teil denkmalgeschützten Gebäude in der Altstadt gibt es zum Beispiel einen Lift. «Damit die Stadt auf diesen Wunsch nach mehr Infrastruktur aufmerksam wird, braucht es Bemühungen sowohl innerhalb der Community als auch von Menschen, die mit uns sympathisieren», sagt Milusch.

Dass die Anliegen der LGBTQ+ -Community bei der Winterthurer Bevölkerung durchaus auf Gehör stossen, hat das deutliche Ja zum Schutz vor Hass am 9. Februar gezeigt. Das Abstimmungsresultat bewegte sich je nach Stadtkreis zwischen 58 und 78,88 Prozent. Das Ergebnis für die ganze  lag bei Schlussendlich bei 69,5 Prozent.

Portraitzitate

 

Julian: «Als Jugendlicher hätte ich einen Safe-Space in Winterthur sehr wertvoll gefunden. Schwul sein unter Heteros kann anstrengend sein.»

 

Dean: «Seit dem Vorfall fühle mich in meiner Heimatstadt Winterthur nicht mehr sicher, und bin deshalb nach Zürich geflüchtet.»

 

Milusch: «Oft fehlen in Winterthur die Möglichkeiten, queere und barrierefreie Anlässe durchzuführen. Das schliesst einen Teil der Community aus.»

WilschBar

jeden Donnerstag und Freitag, 19 bis 23 Uhr

Badgasse 8

www.wilsch.lgbt

 

Milchbar

die «falschsexuelle» Bar der Milchjugend

Jeden zweiten Mittwoch ab 19 Uhr

Alte Kaserne

Technikumstrasse 8

www.milchjugend.ch/milchbar

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