Liebe wird aus Mut gemacht

In der Polyamorie führen Menschen mehrere Beziehungen parallel. Wie sich solche «Polyküle» organisieren und was sie gegen Eifersucht tun, erzählen drei Erfahrungsgeschichten.

Es kribbelt in den Fingerspitzen, die Schmetterlinge im Bauch flattern wild und die Gedanken drehen sich nur um diese eine Person. Gemeint ist der Rausch des Verliebtseins – vielleicht der Beginn einer neuen Liebe, passiert es aber ausserhalb einer bestehenden Beziehung, ist es nicht selten deren Ende.

Nicht so bei Monica und Chris: Sie sind seit 25 Jahren verheiratet und kennen das Gefühl des frisch Verliebtseins. Denn sie lieben sich als Paar, erlauben sich aber auch Liebesbeziehungen ausserhalb ihrer Partnerschaft. Chris hat zwei Freundinnen neben seiner Frau, Monica trifft sich seit zehn Jahren mit ihrem zweiten Freund und nun ist sie frisch verliebt in einen dritten Mann. Die beiden leben eine polyamore Beziehung.

 

«Mein bester Freund ist meine Frau»

«Wer das nicht weiss, sieht in uns ein ganz normales Paar mit Kindern, Haus und Garten», sagt Chris. Mit seinen Freundinnen verabredet er sich unregelmässig, so wie andere ihre Freunde treffen. Der Vergleich passt auch sonst gut: Chris habe neben seinen Freundinnen kein grosses Bedürfnis nach weiteren Freundschaften oder Sportvereinen. «Mein bester Freund ist meine Frau», sagt er. «Wir können zusammen lachen und über alles reden.»

Zur Polyamorie führte die beiden die Neugier: Als sie nach den ersten Beziehungsjahren wieder Lust auf fremde Haut bekamen, öffneten sie ihre Beziehung zuerst für gemeinsame Abenteuer. Als das erste ihrer drei Kinder zur Welt kam, führten sie diese einzeln fort, sodass immer jemand zu den Kindern kümmern konnte. «Es war eine pragmatische Lösung, den Babysitter sparten wir uns für unsere gemeinsame Zeit», erzählt Chris. Denn es sei wichtig, dass man als Paar nicht nur den Alltag zusammen erlebe, sondern auch den Spass pflege.

«Das war natürlich nicht immer einfach», erzählt Monica. Sie sei nie auf Personen eifersüchtig gewesen, aber anfänglich auf Situationen. Wenn Chris sich zum Beispiel mit seiner Freundin traf und sie alleine zu Hause blieb. «Auch wenn das Treffen mit meinem Freund erst eine Woche her war, kamen da schon Gedanken auf wie: Ich möchte das jetzt auch. Oder: Was hat sie, das ich nicht habe?» Monica musste sich bewusst werden, dass die Situation mit Chris diese Gefühle zwar ausgelöst hat, aber die Ursprünge dafür woanders liegen. Denn oft hätten diese mit dem Selbstwert zu tun, mit gesellschaftlichen Normen oder damit, was einem in Filmen vorgelebt wird. Sie habe diese Gefühle hinterfragt und mit Chris darüber gesprochen. Zu wissen, was er an ihr schätzt und was an seiner Freundin, habe alles geklärt. «Ohne Kommunikation funktioniert keine Beziehung, schon gar keine polyamore», sagt Monica.

Dabei sei Ehrlichkeit essentiell – und Transparenz. Sie wissen, wer die Partner*innen des*der anderen sind und haben einige davon kennengelernt. «Das sind Menschen, die ihm viel bedeuten, klar möchte ich sie kennen», sagt Monica. Das habe ihr auch über die anfänglichen Zweifel hinweggeholfen. «Als ich eine seiner Freundinnen erstmals traf, habe ich gemerkt, dass das auch eine Frau mit Ecken und Kanten ist.»

 

Emotionen vs. Abmachung

Ein solches Kennenlernen erfordert viel Fingerspitzengefühl, insbesondere wenn die Beteiligten diese Erfahrung zum ersten Mal machen. Das lernte auch Jürg. Der 41-Jährige führte eine vierjährige, offene Fernbeziehung, als er sich in eine zweite Frau verliebte. Sie lebte polyamor und machte ihn mit dem Konzept vertraut. «Mir ist Freiheit sehr wichtig, deshalb war ich lange Zeit nicht in festen Beziehungen», sagt er. Die Polyamorie habe dem, was er gelebt habe, einen Namen gegeben.

Bei einem Bier lernte der Jurist den zweiten Partner seiner Freundin kennen. Das sei schon auch durch Eifersucht motiviert gewesen, weil man das Unbekannte fürchte. «Ich wollte ihm erklären, was ich für diese Frau empfinde.» Das Treffen hat das Kopfkino ausgeschaltet. «Das war ein toller Mensch, der meine Beziehung respektiert und ebenso viel Liebe hineingegeben hat», erinnert sich Jürg. Dass sie sich nur zu zweit getroffen haben, sei ein Vorteil gewesen. «Niemand musste sein Territorium verteidigen.»

Anders erlebte er das, als seine Freundinnen sich kennenlernten. «Wir trafen uns zu dritt und waren alle nervös», erzählt der Winterthurer nachdenklich. Er habe versucht das Eis zu brechen und die beiden in ein Gespräch zu verwickeln. «Ich fühlte mich stark unter Beobachtung und versuchte, mich möglichst neutral zu verhalten, was wohl eher distanziert wirkte.» Im Nachhinein hätte er den Frauen lieber Zeit zu zweit gelassen. «Die Spannungen sind auch nach dem Treffen geblieben.» Zwar hätten sie darüber gesprochen, aber das habe letztlich eher dazu geführt, dass sie mehr über die andere Beziehung sprachen als über die eigene. Beide Beziehungen gingen in die Brüche.

«Ich habe mein Herz geöffnet und bin auf die Schnauze gefallen, aber Liebe wird aus Mut gemacht», resümiert Jürg und fragt: «Was hält denn zwei Menschen eher zusammen? Emotionen oder eine Abmachung?» Sollte er sich wieder einmal gleichzeitig in zwei Frauen verlieben, fügt er an, sei er offen für einen zweiten Versuch.

 

Hierarchisch, egalitär oder anarchisch

Wenn Paare ihre Beziehung öffnen wollen, kann die Anfangszeit besonders schwierig sein. Neben sogenannten Polyzirkeln, regelmässige Treffen in verschiedenen Städten der Schweiz, bei denen sich polyamore Menschen austauschen, können auch Coachings in dieser Phase unterstützen. Petra und Armin bieten online ein solches Polyamorie-Coaching an. «Als erstes erarbeiten wir mit unseren Klient*innen ihre persönliche Vision einer Beziehung und wie sie diese umsetzen können», erklärt Petra. Denn die Formen der Polyamorie sind breit gefächert. Darunter gibt es hierarchische Formen, mit jeweils einer Hauptbeziehung, egalitäre Formen, wenn alle Beziehungen gleichranging sind, oder auch anarchische Formen, in welchen alle Beteiligten voneinander unabhängige Beziehungen führen.

Petra und Armin sind seit anderthalb Jahren ein Paar und lebten ihre Beziehung von Anfang an polyamor. Sie haben je eine beziehungsweise zwei weitere Partnerschaften, wobei auch diese weitere Beziehungen führen. «Man kann sich das wie ein grosses Mobile vorstellen», sagt Petra. «Zieht man an einem Ende, wackelt das ganze Konstrukt.» Das verlange nach zwei Grundsätzen: Safer Sex sowie einer ehrlichen, respektvollen und transparenten Kommunikation. Transparenz soll dabei aber nicht bedeuten, dass ungefiltert alles geteilt wird. Denn kleinere Streitigkeiten, die die anderen Partner*innen nicht betreffen, würden diese nur belasten.

 

Bewusst Verbindlichkeit schaffen

Im Coaching werden aber auch ganz pragmatische Themen wie das Zeitmanagement angesprochen. Mit wem verbringt man Weihnachten, den Geburtstag oder die Ferien? Und wie jongliert man Job, Kinder und mehrere Partner*innen aneinander vorbei?

Der Körpertherapeut und die Massage- und Traumatherapeutin sind beide selbstständig, wohnen in unterschiedlichen Städten und Petra hat Kinder aus einer früheren Partnerschaft. Sich dabei nicht aus den Augen zu verlieren, kann eine Herausforderung sein. Um mehr Verbindlichkeit zu schaffen, haben sie bewusst ein gemeinsames Projekt aufgebaut. «Andere Paare ziehen in eine gemeinsame Wohnung oder gründen eine Familie, das waren für uns keine Optionen», erklärt Armin. Mit dem Coaching bauen sie gemeinsam etwas auf und können ihre eigenen Erfahrungen weitergeben.

Zu diesen gehört vor allem auch, sich selbst und seine Bedürfnisse zu kennen. «Wenn ich in einer Woche meine Partner oft gesehen habe, bin ich auch mal glücklich, alleine zu sein», meint Petra schmunzelnd. Denn die Polyamorie braucht vor allem eines: viel Liebe für sich selbst.

 

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