Giulia Bernardi: In der Fotostiftung sind neben
deinem neuesten Werkzyklus «Als ob die Welt
zu vermessen wäre» auch Bilder aus
vergangenen Werkzyklen wie «Hochland» und
«Silberschicht» zu sehen. Diese sind in den
kargsten Vegetationszonen der Erde
entstanden. Was hat dich an diesen
Landschaften fasziniert?
Guido Baselgia: «Hochland» entstand Ende der 1990er-Jahre im Engadin. Damals habe ich mich mit der Frage nach der Waldgrenze auseinandergesetzt. Mich hat beschäftigt, wie die Vegetationsgrenze unsere Vorstellung von Landschaft beeinflusst. Landschaft machen wir uns, Landschaft ist ein kultureller Begriff.
GB: Lass uns noch etwas über diesen Aspekt
sprechen. Inwiefern hat der kulturelle
Hintergrund einen Einfluss auf unsere
Wahrnehmung?
GB: Wie wir Landschaft wahrnehmen, ist mitunter eine Frage der geografischen Höhe. In unserem Alpenraum findet man auf einer Höhe von 4‘000 Metern Eis und Schnee, doch in den Anden ist das Lebensraum. Entsprechend ist auch Lebensraum ein relativer Begriff, was ich in meinem Werkzyklus «Silberschicht» vergegenwärtigen wollte, wofür ich nach Bolivien und Chile gereist bin. In meinen Zyklen geht es mir nicht darum, Landschaftsbilder zu schaffen, sondern vielmehr darum, Aggregatszustände von Natur herauszuarbeiten.
GB: Diese Herangehensweise, den
Aggregatszustand oder die Beschaffenheit der
Natur hervorzuheben, wird auch in deinen
Fotografien vom Salar de Uyuni ersichtlich, eine
der weltweit grössten Salzebenen in
Westbolivien. Dafür hast du eine sehr
reduzierte, konzentrierte Bildsprache gewählt.
Warum?
GB: Es ging mir dabei um Wahrnehmungsfragen und darum, mich von Konventionen zu lösen und die Aufteilung in Vorder-, Mittel- und Hintergrund zu hinterfragen. Ich habe eine Reduktion und Konzentration auf den Bildraum angestrebt, sodass man das Gefühl dafür verlieren könnte, was Himmel und was Erde, was oben und was unten ist. So entsteht ein nicht nachvollziehbarer Landschaftsraum.
GB: Warum ist es dir wichtig, dich von diesen
Konventionen zu lösen?
GB: Wir haben alle gewisse Vorbilder. «Vor-Bild» ist übrigens ein schönes Wort, denn es beschreibt, wie ein Bild immer durch ein vorheriges beeinflusst wird. Meine eigenen «Vor-Bilder» zu überwinden war ein Punkt, der mich bewegt hat. Ich wollte mich nicht auf bereits bekannte Bilder stützen, sondern versuchen, die Welt neu zu sehen. So sind meine Fotografien immer abstrakter geworden, wodurch es dann eine Frage der Betrachtung wird, was man sieht und empfindet. Wahrnehmung und Wirklichkeit klaffen oft weit auseinander. Diese Unbestimmtheit versuche ich in meinen Fotografien zu wahren. Es sind nicht ausformulierte, fertig gedachte Bilder, sondern sollen für die Betrachtenden offen bleiben.
GB: Während deinem darauffolgenden
Werkzyklus «Light Fall», der mitunter in
Ecuador entstand, hast du einen ersten Ausflug
in den Regenwald gemacht. In deinem neuesten
Werkzyklus «Als ob die Welt zu vermessen
wäre» bist du dann 2018/2019 mehrere Wochen
in den Amazonas nach Ecuador und Peru
gereist.
GB: Die Recherche für den neuen Zyklus hatte bereits mit «Light Fall» begonnen. Damals hatte ich erstmals die vage Idee, mich mehr mit Vegetationszonen auseinanderzusetzen, in diesem Fall mit der Üppigkeit des Regenwaldes. Ich wollte erfahren, was «tropischer Regenwald» überhaupt bedeutet und wieso dieser mit der Vorstellung eines paradiesischen Ortes assoziiert wird. Ich habe damals, das war im Jahr 2013, mit meiner Recherche begonnen und versucht herauszufinden, ob sich eine Reise dahin überhaupt mit meiner Arbeitsweise vereinbaren lässt.
GB: Inwiefern?
GB: Für meine früheren Werkzyklen war ich immer alleine unterwegs. Doch im tropischen Regenwald war klar, dass ich das nicht alleine machen konnte. Ausserdem habe ich mich darauf eingestellt, wie bisher mit meiner Grossformatkamera zu fotografieren. Eigentlich ist es ein Unding, unter den klimatischen Bedingungen mit Planfilm zu arbeiten. Die enorme Feuchtigkeit beschlägt schnell Linse und Mattscheibe und es droht immer die nächste Regenfront. Es galt, den Einklang mit der Natur zu finden.
GB: Wieso hast du dich für die analoge
Fotografie entschieden?
GB: Dadurch entsteht eine starke Verlangsamung. Das schnelle Erhaschen wird ausgeklammert, jedes einzelne Bild muss hart erarbeitet werden. Ein wichtiger Unterschied zwischen analoger und digitaler Fotografie besteht aber darin, dass ich das analoge Bild erst viel später entwickle; dazwischen liegt die Zeit, in der sich die Welt und die Erinnerung verändert. Das hat einen wesentlichen Einfluss auf die Arbeit in der Dunkelkammer, wo das aufgenommene Bild im geistigen wie im physikalischen Sinne reflektiert wird.
GB: Zurzeit ziehen verheerende Waldbrände
durch den Amazonas. Welchen Eindruck
hinterlässt das bei dir?
GB: Mein Entschluss, mich mit dem tropischen Regenwald zu befassen, liegt viel weiter zurück als die aktuellen Ereignisse in Amazonien. Was gerade im grössten Regenwald der Erde passiert, ist tatsächlich besorgniserregend. Meine Intuition aber war immer davon geleitet, dass ich die Natur als übergeordnete Kraft auf unserer Erde erkunden möchte. Ich will nicht das Desaströse ins Bild setzen, sondern lege meinen Fokus auf das, was zu bewahren ist, im Vertrauen, dass diese Bilder bei den Betrachtenden etwas auslösen mögen.
Guido Baselgia – Als ob die Welt zu vermessen wäre
1. Oktober bis 16. Februar
Fotostiftung Schweiz
Grüzenstrasse 45
www.fotostiftung.ch