1. Das Kino Südostasiens
Sandra Biberstein: Die Internationalen Kurzfilmtage zeigen dieses Jahr in ihrem Schwerpunkt-Programm Kurzfilme zum Thema «Das Kino Südostasiens». Was zeichnet diese Filme aus?
Stefan Staub: Ein Charakteristikum ist, dass die Kamera oft eine Art Eigenleben hat: Sie ist selbst Protagonistin. Manchmal wirkt es, als wären Personen im Film nur zufällig im Bild, die Kamera fokussiert sich auf etwas anderes und sucht Bilder. Die Stimmung ist oft melancholisch, etwas mysteriös. Durch langsame Kamerafahrten taucht die Zuschauerin oder der Zuschauer in diese Atmosphäre, in eine Langsamkeit und Lethargie ein. Die Filme haben dominante Geräuschkulissen – zirpende Grillen, das Rauschen vom Verkehr. Es wirkt, als ob die Tonebene die Hitze in der Region reproduziert, es trieft aus allen Poren, man spürt den Schweiss.
SB: Entspricht diese konstruierte Atmosphäre im Film der Realität?
SS: Ich war selbst noch nie in Südostasien, kann das also nicht beurteilen. Die Länder und die Atmosphäre kenne ich nur aus der Kino-Perspektive: Das Filmschaffen aus der Region verfolge ich aber bereits länger, mit dem Werk von Langfilm-Regisseuren wie Tran Anh Hung aus Vietnam, der in den 1990er-Jahren mit Filmen wie «Der Duft der grünen Papaya» (1993) und «Cyclo» (1995) sehr populär war, oder von Pen-Ek Ratanaruang aus Thailand «Last Life in the Universe» (2003) bin ich vertraut.
SB: Hat sich dein Bild vom südostasiatischen Kino durch die intensive Auseinandersetzung mit Kurzfilmen aus der Region für das Programm der Internationalen Kurzfilmtage verändert?
SS: Das Bild hat sich erweitert, da das Filmschaffen nicht in allen Ländern gleich ist. Die Atmosphäre, die ich oben beschrieben habe, ist vielleicht typisch für das thailändische oder auch vietnamesische Kino. Das philippinische Filmschaffen hat hingegen eine breitere Ausrichtung; und kann auch mal in der Handlung sehr schnell, laut und wild sein. Ich spreche hier allerdings über das unabhängige Filmschaffen. In Thailand, in den Philippinen und auch in Malaysia gibt es natürlich auch eine lokale Filmindustrie, die eine andere Art von Kino hervorbringt. Diese meist billig am Laufband produzierten Filme laufen allerdings nicht an internationalen Festivals und sind ausserhalb der jeweiligen Länder kaum bekannt.
SB: Wie lässt sich das Independent-Kino von demjenigen im Westen unterscheiden?
SS: Im Vergleich zum westlichen Independent-Filmschaffen bedienen sich die Filmemacher einer sehr ruhigen, gesetzten Erzählweise. Die Filme sind langsam aufgebaut, es wird wenig erklärt und gesprochen, oftmals werden nur Blicke ausgetauscht. Die Zuschauerin oder der Zuschauer muss den Sinn der Handlung selbst suchen. Es sind weniger in sich abgeschlossene, klassisch erzählte Storys. Oftmals entlädt sich die Spannung erst in einem Kulminationspunkt am Ende des Films. Das ist aber nicht nur für den südostasiatischen Raum charakteristisch, sondern für das Art-House-Kino im gesamten asiatischen Raum.
2. Bruch mit Klischees
SB: Südostasien ist eine Region voller Kontraste und sehr divers. Wie bildet das Programm der Kurzfilmtage das ab?
SS: Die Vielfalt gestaltete sich bei der Recherche als Herausforderung. Im Programm wird das Filmschaffen aus neun Länder in neun Themenblöcken vorgestellt. Man kennt zwar Südostasien als Region und vermutet einen gemeinsamen Nenner. Die Produktionen sind allerdings sehr unterschiedlich. Im Programmteam haben wir uns gefragt, wie wir diese Diversität abbilden können. Das Thema Sexualität zum Beispiel wird im indonesischen Filmschaffen stark behandelt, weil es in dieser streng muslimischen Region ein Tabubruch darstellt. In anderen Ländern dagegen ist es nur ein marginales gesellschaftliches Thema. Es sind vor allem ästhetische Aspekte, die das Programm als Ganzes zusammenhalten.
SB: War es schwierig, sich bei der Selektion der Filme nicht von Klischee-Bildern leiten zu lassen?
SS: Bei der Themensetzung sind wir im Programmteam tatsächlich von Klischee-Bildern ausgegangen, beziehungsweise von dem, was wir bereits aus Filmen aus der Region kannten. Durch die Recherche ergab sich ein breiteres Bild: Wir stiessen immer wieder auf Filme, die mit Klischees brechen. Im Familien-Block sind zum Beispiel klassisch erzählte Filme zu sehen, Familien-Stories, die dem Bild der typischen asiatischen Familie entsprechen. Es wird aber auch die Abwesenheit von Familie oder ungewollte Schwangerschaft thematisiert. Letzteres ist in den Philippinen ein grosses Thema, weil in dem sehr katholischen Land Abtreibung verboten ist. Das war mir vorher beispielsweise nicht bekannt. Überraschend ist auch der Block «Forever Young», in dem die Filme nicht nur Einblicke in die asiatische Jugendkultur geben, sondern selbst durch moderne Ästhetik Ausdruck eines zeitgenössischen asiatischen Kinos sind.
SB: Wie repräsentativ ist eure Auswahl für das südostasiatische Filmschaffen?
SS: Wir ziehen jeweils Experten hinzu – vor allem Personen aus diesen Ländern, die bei anderen Filmfestivals mitarbeiten – und fragen, was ist wichtig, was kommt neu auf, etc. Länder wie Myanmar sind beispielsweise stark im Bereich des kurzen Dokumentarfilms; ebenso Kambodscha. Andere Länder sind dagegen im Spielfilm stark.
Wir haben Filme von südostasiatischen Regisseurinnen und Regisseuren gewählt, die auch bei einem cinephilen Publikum in Südostasien angesagt sind. Kurzfilme, die an regionalen oder internationalen Festivals laufen. Im Programmteil «Voyage to Phnom Penh» liessen wir zudem auch die Aussenperspektive einfliessen. Die Filmschule HEAD (Haute école d’art et design) in Genf lancierte ein Austauschprogramm für Studierende, bei dem sie in der Hauptstadt Kambodschas mit Studierenden des Center Bophana während zwei Monaten vor Ort Dokumentarfilme drehten. Gleichzeitig liess das Bophana Center eine Webserie produzieren, in der arme Menschen auf der Strasse porträtiert wurden. Das Programm stellt die Innen- einer Aussensicht gegenüber.
SB: Weshalb sind nicht alle Länder aus der Region im Programm vertreten?
SS: Wir haben klar den Anspruch an das Programm, einen besonderen Blick aus der Region zu transportieren. Filme aus Burma und Laos sind nicht vertreten, weil die Filmproduktion in diesen Ländern sehr klein ist. Singapur hingegen hat eine hochstehende Filmproduktion, sie orientieren sich aber sehr stark am westlichen Blick, was für unsere Themenwahl nicht besonders spannend war. Singapur ist allerdings für das Filmschaffen in der gesamten Region ein wichtiger Geldgeber, der Film wird mit vielen Co-Produktionen und Plattformen gefördert. Vielleicht war für uns das Kino aus Singapur auch weniger interessant, weil wir das für uns Exotische gesucht haben, die «Tropical Views», den Blick von dort auf das Eigene.
3. Was verborgen bleibt
SB: Welchen Einfluss hat die Verbreitung von professionellen digitalen Kameras und Filmsoftwares in der Region?
SS: Die Digitalisierung hat entscheidend zur Verbreitung des unabhängigen Filmschaffens Südostasiens beigetragen. Noch in den 1990er-Jahren gab es wenige Filme aus diesen Ländern, mit den neuen technischen Möglichkeiten erfolgte ein Boom, die Filme entsprechen trotz Low-Budget-Produktionen dem westlichen Standard. An jedem Internationalen Filmfestival laufen nun Kurz- und Langfilme aus dieser Region, von denen viele auch mit Preisen ausgezeichnet werden.
SB: Du hast im Westen etablierte Regisseure wie Tran Anh Hung und Pen-Ek Ratanaruang erwähnt. Haben diese einen Einfluss auf die jüngere Generation?
SS: Definitiv. Auch Wong Kar-Wei aus Hongkong, Apichatpong Weerasethakul aus Thailand, oder die thailändische Regisseurin Pimpaka Towira (Person im Fokus an den Kurzfilmtagen) sind Vorbilder für die jüngere Generation und prägen selbstverständlich die Ästhetik der Filme und fördern auch eine politische, kritische Herangehensweise. In den Philippinen produziert der Filmemacher Brillante Mendoza aktuell viele Filme von jungen Filmemachenden. Spannend ist beispielsweise auch, dass sich im vietnamesischen Film die junge Generation ohne Kriegsvergangenheit von der älteren versucht abzugrenzen und dadurch ein sehr frisches, neues Kino entsteht: Tradition wird mit modernen Ideen vermischt.
SB: Was bleibt dem westlichen Auge fremd, vielleicht sogar verborgen?
SS: Einerseits ist da natürlich die Sprache, die uns fremd ist. Andererseits ist für das Kino charakteristisch, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer sich vieles selbst erschliessen müssen. Die Filmemachenden stellen eine Atmosphäre, bestimmte Bilder und Gefühle her, darin sind teilweise gezielt versteckte politische Botschaften platziert, die wir nicht erkennen, weil uns der Kontext nicht vertraut ist. Interessant sind deshalb die Gespräche nach den Filmprogrammen, wenn die Regisseure während den Kurzfilmtagen vor Ort sind und ihre Ideen zu den Filmen erzählen.
Stefan Staub (*1980) studierte Publizistik, Filmwissenschaft und Sozialpsychologie an der Universität Zürich. Derzeit ist er als Programmkoordinator bei den Internationalen Kurzfilmtagen Winterthur und als freischaffender Drehbuchautor tätig.
Der Balken in meinem Auge ist eine geteilte Rubrik von Coucou und Zollfreilager, dem Kulturmigrations-Observatorium der ZHdK. Die darin erscheinenden Interviews beleuchten die Kultur, ihre Praxen und Politiken als Frage der Multiperspektivität. Das Interview mit Stefan Staub wurde von Sandra Biberstein am 29. September in Zürich geführt.