Der Balken Oktober

Willkommen in der Schweiz

Interview mit der Filmemacherin Sabine Gisiger

1. Ein Film über die Schweiz

 

Max Wild: In deinem Film «Willkommen in der Schweiz» geht es um Flüchtlingspolitik. Darin geht es auch um Oberwil-Lieli und den dortigen Gemeindepräsidenten Andreas Glarner. Wie und wann bist du auf diesen Schauplatz und diesen Protagonisten gestossen?

Sabine Gisiger: Im September 2015 war ich durch die Ereignisse rund um die tausenden von Flüchtlingen, die auf der Balkanroute nach Europa kamen, sehr aufgewühlt. Ich habe regelmässig Fernsehsendungen geschaut, was ich sonst schon lange nicht mehr mache. Als ich dann zuhause sass und das ARD Morgenmagazin sah, wurde ein Beitrag über Oberwil-Lieli ausgestrahlt. Andreas Glarner meinte darin, in seinem Dorf wolle man keine Flüchtlinge aufnehmen, da diese alle zukünftige Sozialhilfeempfänger wären, die man möglichst bereits an der Grenze zurückschicken sollte. Ich war fassungslos. Am nächsten Tag kontaktierte ich Glarner und arrangierte ein erstes Treffen. Ich musste wissen, was dahintersteckt.

MW: Was geschah dann?

SG: Während dem Gespräch bemerkte ich, dass wir eigentlich viele Gemeinsamkeiten haben: Wir sind etwa im gleichen Alter, beide geschieden, haben Töchter im gleichen Alter –und doch haben wir grundlegend verschiedene Auffassungen. Ich spürte den Drang, genauer zu wissen, was in diesem Menschen und in dieser Gemeinde vorgeht. Glarner war einverstanden, dass ich die Geschehnisse verfolge und gab mir die Einwilligung, an der nächsten Gemeindeversammlung mit der Kamera dabei zu sein.

MW: Kannst du uns mehr über den Menschen Glarner erzählen?

SG: Als ich ihn fragte, ob die Schweiz sich vom restlichen Europa abkapseln könne, entgegnete er: «Ja natürlich». Ich denke, er repräsentiert die Idee einer Schweiz, die es nicht mehr gibt, vielleicht auch gar nie gegeben hat: Die Schweiz als idyllische Oase. Die Angst vor dem Fremden, vor dem Ungewissen hat für mich etwas leicht Paranoides. Damit verbunden sind wohl auch ein ständiges Verlustgefühl und das Bedürfnis, sich über ein Territorium zu definieren, das man verteidigt.

MW: Hattest du zu Beginn eine Idee, was du in diesem Film erzählen willst und wie du es erzählen willst?

SG: Nein, das kam im Verlauf der Dreharbeiten. Von Anfang an präsent war das Anliegen, einen Beitrag zur Migrationsdiskussion zu leisten. Als Johanna Gündel, die Opponentin von Glarner, sich während der Gemeindeversammlung zu Wort meldete, war da plötzlich auch die andere Schweiz. Da dämmerte mir, dass ich in Oberwil-Lieli eigentlich etwas über den Zustand des ganzen Landes herausfinden kann, sozusagen unter dem Vergrösserungsglas. Das führte zum Entscheid, die Geschichte gleichnishaft zu erzählen.

MW: Welche Reaktionen erhoffst du dir von den Zuschauerinnen und Zuschauern?

SG: Die Grundfrage des Films ist: Können wir uns die humanitäre Tradition nicht mehr leisten? Ich möchte mit diesem Film keine Lösungen anbieten, aber das Publikum auffordern, sich zu positionieren. Deshalb entschied ich mich, selber im Film eine lakonische Position einzunehmen. Des Weiteren wollte ich darauf hinweisen, dass Integration nicht einfach von staatlichen Institutionen erledigt werden kann. Wir müssen uns alle engagieren.

MW: Dein Film lässt verschiedenen Positionen zu Wort kommen. Warum fehlt diejenige der Migrantinnen und Migranten?

SG: Diesen Entscheid habe ich bewusst gefällt. Ich wollte einen Film über uns Schweizerinnen und Schweizer machen. Ein Spiegel, in dem man sieht, dass wir immer über die Geflüchteten, aber kaum je mit ihnen reden. Nichtsdestotrotz sind die Migranten und das Miteinander in den Szenen mit dem intergalaktischen Chor ja präsent. Der Chor aus Schweizerinnen und Geflüchteten steht für mich für die Hoffnung auf echte Vielstimmigkeit.

 

2. Die Schweiz und ihre Politik

 

Ruedi Widmer: Was ist nun nach der Premiere dein Fazit: Was für eine Schweiz sind wir?

SG: Durch die Recherchen und Dreharbeiten habe ich viele Menschen kennengelernt, die ein grosses Engagement an den Tag legen. Im Wesentlichen sind wir ein gespaltenes Land, genauso wie Oberwil-Lieli eine gespaltene Gemeinde ist. Den Graben, der sich auftut, müssen wir überwinden. Und zwar nicht aus schöngeistigen Gründen, sondern weil uns als Gesellschaft nichts anderes übrig bleibt. Es ist herausfordernd, eine neue Gesellschaft zu formen, aber wir müssen uns der Aufgabe annehmen und sie als Chance sehen.

MW: Kann Dokumentarfilm vielleicht das, was Politik nicht kann, also Brücken über diese Gräben bauen?

SG: Das hoffe ich. Mein Dokumentarfilm ist unaufgeregt, das ist schon mal ein Kontrast zur restlichen Berichterstattung, denn im Grunde wird dort nur polemisiert. Ich versuchte, einen Zugang zu finden, der mir bis anhin eigentlich fremd war: Ich versuchte, unaufgeregt hinzuschauen. In Zeiten der Echokammern und des Populismus wollte ich einen Dokumentarfilm machen, der sich dieser Dynamik entzieht.

MW: Trotzdem scheint durch, welche Meinung du einnimmst.

SG: Natürlich hat es Wertungen und Kommentare darin, jeder Film, jeder Blick auf die Welt ist subjektiv. Mein Film gibt aber den Zuschauerinnen und Zuschauern eine Möglichkeit, ihre eigenen Auffassungen zu reflektieren. Ich hoffe, mit diesem Film auch in SVP-Kreisen etwas auszulösen.

RW: Ist dein Film Teil der Lösung des Echokammer-Problems?

SG: Nein. Die allermeisten Leute gehen mit derselben Meinung aus dem Kinosaal, mit der sie reingekommen sind. Mein Ziel ist es eher, jene anzusprechen, die noch keine starre, vorgefasste Meinung haben. Dokumentarfilme im Kino bieten eine Chance: Während unsere Aufmerksamkeitsspanne sonst stetig sinkt, müssen die Zuschauerinnen und Zuschauer im Kino ruhig sitzen und zuhören.

 

3. Die Schweiz und ihr Kino

 

RW: Wie ist es in der Schweizer Filmszene? Gibt es da auch Gräben, oder ist der Austausch harmonisch?

SG: Ich hoffe, dass es Unterschiede und Bruchlinien gibt. Die jüngeren Filmemacherinnen und Filmemacher machen vieles anders als wir damals. In meiner Generation war das ähnlich. Als wir begannen, fiktionale Elemente in Dokumentarfilmen einzusetzen, wurde uns vorgeworfen, das habe nichts mehr mit Dokumentarfilm zu tun. Jetzt steht wieder eine neue Generation bereit. Ich bin seit 17 Jahren Dozentin an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Mich freut es, andere Ästhetiken zu entdecken. Was mich ebenfalls stolz macht, sind die vielen Frauen, die mittlerweile Filme machen.

RW: Wird heute im selben Masse über Filme diskutiert und debattiert wie früher?

SG: Absolut. In der Szene und an der Schule. An der ZHdK organisieren wir beispielsweise jedes Jahr die zweitägige Dokumentarfilm-Tagung ZDok. Diese wird auch als Diskussionsplattform mit Gästen aus dem In- und Ausland genutzt. Da finden Debatte und Diskussion sehr intensivstatt.

RW: Müssen Schweizer Dokumentarfilme international wahrgenommen werden?

SG: Mein erste Anliegen ist immer, Filme zu Themen zu machen, die mir am Herzen liegen. Es ist ein ganz anderer Ansatz zu überlegen, mit welchem Thema ich einen Film machen könnte, der international wahrgenommen wird. Im Fall von «Willkommen in der Schweiz» war es fast schon ein patriotischer Gedanke, der mich antrieb. Ich hielt es irgendwie für meine Pflicht, mich einzumischen und einen Beitrag zur Migrationsdebatte zu leisten. Ich wollte die Komplexität aufzeigen, um dem populistischen Vorgaukeln, es gebe einfache Lösungen, etwas entgegenzuhalten. Dabei habe ich mir nie überlegt, ob ich damit vielleicht noch an einen internationalen Wettbewerb kann. Ich freue mich aber sehr, dass der Film am Locarno Film Festival Premiere feiern durfte.

RW: Ein Festival ist ja wie ein Kino ein Ort, wo mehr Konzentration und Diskussion möglich sind. Wie siehst du die Entwicklung mit den Streamingdiensten?

SG: Es gibt immer eine neue Technologie, der man sich anpassen muss. Früher waren es das Kabelfernsehen und Videokassetten, mit denen die Leute begannen, Filme aufzunehmen. Mit Verzögerung hat die Filmszene dann reagiert und die Urheberrechte den Neuerungen angepasst. Mit dem Internet müssen wir wieder dafür kämpfen, unsere Rechte zu wahren. Europäische Kinofilme müssen weiterhin ihren Platz haben. In unserem Verband setzen wir uns dafür ein, dass Dienste wie Netflix dafür einen Beitrag leisten. Zu Locarno: Seit vielen Jahren nehme ich meine Tochter und andere junge Leute mit hierher, und es gibt viele Diskussionen über Filme und Themen, die sonst nie stattfinden würden. Die übersichtliche Grösse des Festivals macht dies möglich. In Zeiten der Informationsflut ist Locarno für Cineasten wie eine Insel des Filmeschauens und des Gesprächs.

 

Willkommen in der Schweiz  startet im Oktober in den Schweizer Kinos.

 

Der Balken in meinem Auge ist eine geteilte Rubrik von Coucou und Zollfreilager, dem Kulturmigrations-Observatorium des Master Kulturpublizistik der ZHdK. Die darin erscheinenden Interviews beleuchten die Kultur, ihre Praxen und Politiken als Frage der Multiperspektivität. Das Interview wurde von Max Wild und Ruedi Widmer am 9. August in Locarno geführt.

 

 

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