Im Maschinenraum des Asylverfahrens

Im Maschinenraum des Asylverfahrens

Ein Interview mit den Rechtsvertretern Jan Frutig und Stefan Frost.

1. Asylsuchende und unentgeltliche Rechtsvertreter

 Damian Christinger: Lieber Jan, lieber Stefan, ihr arbeitet beide als unentgeltliche Rechtsvertreter der Berner Rechtsberatungsstelle für Menschen in Not, einer NGO, im Empfangs- und Verfahrenszentrum in Zürich Altstätten. Wenn ich das richtig verstehe, betreut ihr dort Asylsuchende im sogenannten «beschleunigten Asylverfahren». Was heisst das und wie sieht eure Tätigkeit dort aus?

Jan Frutig: Unsere Aufgabe als unentgeltliche Rechtsvertreter besteht darin, die Asylsuchenden von Beginn bis Abschluss ihres Verfahrens juristisch zu beraten und zu unterstützen. Damit soll trotz der Beschleunigung ein faires Asylverfahren garantiert werden. Konkret bedeutet dies, dass wir noch vor dem ersten Verfahrensschritt bei den Behörden mit den Asylsuchenden in Kontakt treten und mit ihnen ihren Fall besprechen. Wir bereiten sie auf das Verfahren vor und klären sie über ihre Chancen auf. Die betreffende Person soll verstehen, was ihre Rechte sind, jedoch auch wissen, was von ihr verlangt wird, sodass sie sich aktiv am Verfahren beteiligen kann. Ein weiterer zentraler Bestandteil unserer Arbeit ist, dass wir mit den Asylsuchenden an die Befragungen der Behörden gehen und dort sicherstellen, dass ihre Rechte gewahrt bleiben. Gegen Ende des Verfahrens besprechen wir dann mit ihnen den Entscheid und vertreten sie allenfalls im Beschwerdeverfahren vor Gericht.

 

DC: Im Vorfeld wurde in den Medien ja die Befürchtung geäussert, dass ihr die Asylsuchenden nicht adäquat vertreten könnt. Könnt ihr das bestätigen?

Stefan Frost: Diese Befürchtung hat sich bis heute nicht bewahrheitet. Unsere Erfahrungen zeigen, dass die Rechtsvertretung im beschleunigten Verfahren einen qualitativ hohen Rechtsschutz gewährleisten kann. Der grosse Vorteil besteht darin, dass wir die Asylsuchenden von Beginn des Verfahrens an vertreten. Dies erlaubt es uns, zu einem frühen Zeitpunkt in ihrem Interesse zu agieren. Darüber hinaus verfügen wir, sollte eine Beschwerde notwendig sein, bereits über vollständige Fallkenntnisse. Im bisherigen Verfahren war es so, dass Asylsuchende meist erst zum Zeitpunkt des negativen Entscheids eine Rechtsberatungsstelle oder einen privaten Anwalt aufsuchten. Aus Sicht der Asylsuchenden hat das beschleunigte Verfahren auch den Vorteil, dass sie viel schneller Gewissheit darüber haben, ob ihnen in der Schweiz Schutz gewährt wird oder nicht.

 

DC: Was könnte aus eurer Sicht im Verfahren noch verbessert werden?

SF: Optimierungspotential gibt es bei der Terminplanung. Für Aussenstehende ist die Komplexität der Abläufe in diesem Verfahren schwierig zu erkennen. Trotz der örtlichen Nähe aller Akteure stellt die Koordination aller Verfahrensbeteiligten eine grosse Herausforderung dar. So müssen für eine Befragung nebst dem oder der Asylsuchenden der Fachspezialist der Behörden, eine dolmetschende Person, jemand für die Protokollierung und die Rechtsvertretung zusammenkommen. Erschwerend kommt hinzu, dass dies kurzfristig geschehen muss und eine hohe Anzahl Termine gleichzeitig stattfindet. Anzustreben ist deshalb, die Abläufe weiter zu standardisieren. Denkbar wäre beispielsweise, ein eigens dafür entwickeltes Computerprogramm zu nutzen.

 

2. Recht und Gerechtigkeit

 

DC: Gibt es schwierige Momente bei eurer Arbeit?

JF: Die Menschen, mit denen wir konfrontiert sind, befinden sich aufgrund ihrer Fluchtgeschichten alle in einer äusserst schwierigen Situation. Darunter gibt es Schicksale, die auch für uns als erfahrenere Rechtsvertreter nicht alltäglich sind. Diese Leute sind teilweise in einem hohen Mass traumatisiert, was eine grosse Herausforderung darstellt. Schwierige Momente können auch dadurch entstehen, dass die juristische Beurteilung eines Falles zwar eindeutig und für die betroffene Person rational nachvollziehbar, aber dennoch nur schwierig zu akzeptieren ist. Wird beispielsweise eine Person nach Italien weggewiesen, weil sie dort bereits registriert wurde, ist in der Regel eine Beschwerde dagegen aussichtslos. Dafür massgebend ist die Praxis des Bundesverwaltungsgerichts. Dennoch ist allgemein bekannt, dass eine Rückkehr in das Asylverfahren nach Italien oft zu einer Notlage führt.

 

DC: Könnte man bei den Asylverfahren von einer Diskrepanz zwischen Recht und Gerechtigkeit sprechen? Ich denke hier insbesondere auch an die Situation von Frauen, die Opfer von Menschenhandel sind.

SF: Diese Diskrepanz besteht. Wie in jedem anderen Rechtsgebiet kann das Recht vom subjektiven Gerechtigkeitsempfinden abweichen. Das Asylverfahren gewährt verfolgten Personen Schutz. Der Kreis der Schutzberechtigten ist durch die Kriterien der Flüchtlingseigenschaft jedoch eingeschränkt. Daraus folgt, dass Personen, welche diese Kriterien nicht erfüllen, obwohl sie sich gleichwohl in einer Notlage befinden, kein Schutz gewährt wird. In diesem Zusammenhang kann sich durchaus die Frage nach der Gerechtigkeit stellen, die auch eine gesellschaftspolitische Dimension aufweist: Ist der Flüchtlingsbegriff aus heutiger Sicht nicht zu eng definiert, braucht es zusätzliche Schutzmechanismen?

JF: Die Situation der Opfer von Menschenhandel ist davon abzugrenzen. So hat die Schweiz das Übereinkommen zur Bekämpfung des Menschenhandels ratifiziert und sich zum Schutz der Opfer als oberstem Ziel verpflichtet. Oft werden Opfer aber aufgrund fehlender Sensibilisierung der Asylbehörden gar nicht erst identifiziert. Hinzu kommt, dass die erforderliche Zusammenarbeit mit den Fachbehörden bzw. Fachstellen fehlt. Insbesondere im Dublin-Verfahren wird deshalb der besonderen Verletzlichkeit der Opfer von Menschenhandel noch unzureichend Rechnung getragen. Ob die Schweiz ihren Verpflichtungen in genügendem Masse nachkommt, bleibt deshalb von den zuständigen Gerichten zu klären.

 

3. Flüchtlinge und Migranten

 

DC: Was wären die Konsequenzen eines weiter gefassten Flüchtlingsbegriffs in der Praxis?

JF: Ich denke nicht, dass einzig durch die Erweiterung des Flüchtlingsbegriffs das System gerechter würde. Es stellt sich zudem die Frage, ob das Projekt einer Neudefinition des Flüchtlingsbegriffs nicht zu dessen Auslösung beitragen würde. Eine neue Definition, die der Komplexität der Problematik gerecht wird, haben wir leider beide nicht. Tatsache ist jedoch, dass ein Grossteil der weltweiten Flüchtlinge in der schweizerischen Rechtspraxis nicht unter die Definition der Genfer Flüchtlingskonvention fällt. So werden zum Beispiel Bürgerkriegsflüchtlinge oder Personen, die aufgrund des Klimawandels vertrieben werden, nicht erfasst, sofern keine weiteren Fluchtmotive vorliegen.

 SF: Wer mehr Gerechtigkeit will, muss bei den Möglichkeiten zur legalen Migration ansetzen. Insbesondere müssen die Fluchtwege sicher werden. Es entspricht nicht meiner Vorstellung eines effektiven Schutzsystems, wenn man Menschen dazu zwingt, enorme Gefahren auf sich zu nehmen, um überhaupt den Antrag auf Schutz zu stellen. Die Verpflichtung, Schutz zu gewähren, sollte nicht erst an den jeweiligen Landesgrenzen beginnen. In diesem Sinne tragen die europäischen Staaten eine Verantwortung für die Tragödie auf dem Mittelmeer und in den Transitländern. Die «Festung Europa» ist kein gangbarer Weg. Innerhalb Europas müsste die Verantwortung entsprechend der Wirtschaftskraft und den realisierbaren Aufnahmekapazitäten eines Landes verteilt werden. Das geltende Dublin-System berücksichtigt diese Faktoren nicht.

JF: Wichtig ist auch, dass Migration als Chance für unsere Gesellschaft angesehen wird und nicht nur als Last.

 

Jan Frutig und Stefan Frost (beide Jahrgang 1986) arbeiten als Rechtsvertreter der Berner Rechtsberatungsstelle für Menschen in Not im Empfangs- und Verfahrenszentrum in Zürich Altstätten.

Der Balken in meinem Auge ist eine geteilte Rubrik von Coucou und Zollfreilager, dem Kulturmigrations-Observatorium des Master Kulturpublizistik der ZHdK. Die darin erscheinenden Interviews beleuchten die Kultur, ihre Praxen und Politiken als Frage der Multiperspektivität. Das Interview wurde am 2. Mai in Altstetten geführt.

 

 

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