Fremdvertraut

Fremdvertraut

Interview mit Kurator Lars Willumeit über das Bild der Schweiz.

1. Abgrenzungsbedürfnisse und Minderheitsgefühle

Ruedi Widmer: Im Auftrag von Schweiz Tourismus hast du die Ausstellung «Fremdvertraut» in der Fotostiftung Schweiz, in deren Rahmen internationale Fotografinnen und Fotografen ihre Sicht auf die Schweiz zeigen, mitkuratiert. Wann hast du dich zum ersten Mal bewusst mit der Schweiz auseinandergesetzt?

Lars Willumeit: Wenn man so will, lernte ich die Schweiz in London kennen, wo ich mit zwei Studenten aus der Schweiz zusammenwohnte.

RW: Was war an diesen Kollegen schweizerisch?

LW: Die «gnadenlose» Genauigkeit und Pünktlichkeit, gepaart mit Weltoffenheit und Weltgewandtheit.

RW: Und wie haben die beiden dich wahrgenommen? Warst du für sie ein Deutscher? Und wenn ja, worin?

LW: Das war und bin ich wohl, aber das spielte damals keine Rolle; wir fühlten uns eher als Europäer. Früher, in meinen Teenager-Jahren, hatte ich allerdings ein Problem damit, Deutscher zu sein. Dass ich mein erstes Austauschjahr in England schon mit 17 Jahren machte, hatte damit viel zu tun.

RW: In der Schweiz bist du seit 2006. Wie war damals das Ankommen?

LW: Zum einen war es einfach, da ich wegen meiner Partnerin in die Schweiz kam und also von Beginn an ein soziales Umfeld hatte. Zum anderen war 2008 der Höhepunkt einer Einwanderungswelle von Deutschen. Da wurde einem im Alltag sehr oft und deutlich vermittelt, dass man aus Deutschland kommt. Das darin gespiegelte Abgrenzungsbedürfnis war intensiver, als ich es in England oder Amerika erlebt hatte.

RW: Wie hast du dir dieses Verhalten erklärt?

LW: Unter dem Bedürfnis nach Abgrenzung liegt, wie ich es wahrnehme, ein Bedürfnis nach Selbstvergewisserung. Abgrenzung als Ausdruck davon, dass es offenbar zu wenig selbstverständlich ist, dass man ist, wer man ist. Freud spricht vom «Narzissmus der kleinen Differenzen».

RW: Ich nehme es heute selber so wahr, dass es für niemanden mehr selbstverständlich ist, dass man ist, wer man ist. Dass keine Form von Identität oder Existenz als selbstverständlich auftreten kann, nicht einmal der weisse Mann und Bio-Schweizer.

LW: Ich stimme insofern zu, dass die Fragmentierung von Identitätsmustern zugenommen hat, dass es also mehr mögliche Identitäten gibt, und dass die Akzeptanz der jeweils anderen Existenzform nicht sowieso gegeben ist. Doch gibt es auch die grösseren Identitätsblöcke, die sehr wohl mit Selbstverständlichkeit auftreten und dazu tendieren, alles andere an den Rand zu drängen.

RW: Gibt es nicht auch das Phänomen, dass sich ganze Nationen in die Minderheit versetzt und an den Rand gedrängt fühlen?

LW: Auf der Ebene der politischen Rhetorik und des Populismus: ja. Die in Auflösung geglaubten identitätspolitischen Achsen der Differenz und Ungleichheit wie Klasse, Geschlecht und Ethnizität als soziale Zugehörigkeiten sind in neuen Konstellationen und Intensitäten zurückgekehrt – etwa innerhalb des Phänomens der Abstiegsgesellschaft. Diese Achsen reflektieren aber auch die objektiv feststellbaren Macht- und Besitzverhältnisse.

2. Die Konstruktion der Schweiz mit fotografischen Mitteln

RW: Wenn wir uns nun dem Bild der Schweiz in der Fotografie zuwenden – wie wird aus fotografischen Bildern ein Schweizbild?

LW: Im 20. Jahrhundert waren es Magazine, die als Auftraggeber für Fotografinnen und Fotografen sowie als Bilder-Bühne fungierten. So war beispielsweise das Magazin DU aktiv in der Vermittlung von Werten und Weltbildern im Kontext dessen, was man geistige Landesverteidigung nennt. Es ging um das Bild einer Schweiz, die sich als wehrhaft und unabhängig darstellt; die unkorrumpierbare Schweiz der Bauern und der Bürger; oder die Berge als Symbol der Widerständigkeit.

RW: Wussten die etablierten Fotografinnen und Fotografen, deren Werke solche Bilder bedienten, was sie taten? Waren sie verlängerte Arme einer offiziellen Schweiz?

LW: Im Fall eines Theo Frey, der für die Landesausstellung 1939 zwölf Schweizer Gemeinden porträtierte, kann man vielleicht nicht von bewussten ideologischen Bildern sprechen. Und dennoch sind diese Bilder Ausdruck einer Zeit und einer Haltung, und man konnte sie in einem gewissen Ausmass für die Vermittlung von Ideologie verwenden.

RW: In den 1960er- und 1970er-Jahren erhielt das Schweizbild der geistigen Landesverteidigung Risse. Im Dokumentarfilm und in der Literatur gab es Positionen, die sich explizit kritisch mit der Schweiz auseinandersetzten. Gibt es das auch in der Fotografie?

LW: Die Fotografinnen und Fotografen jener Zeit wendeten sich von der Schweiz und von der Idee der grossen Geste ab, oder sie dekonstruierten diese Geste. Für diesen Zeitraum sind das beispielsweise Positionen wie Luc Chessex als eine explizit politische Position oder Urs Lüthi und Manon, die aus einer radikal individualistischen Haltung heraus für die Repräsentation von Minderheiten arbeiteten – also das Private als das Politische sahen. Für die 1980er- und 1990er-Jahre sind es dann Fotografen wie Nicolas Faure. Dieser hatte mit dem Projekt Nation nichts am Hut, interessierte sich also aus ästhetischen und nicht so sehr aus politischen Fragen für die Schweiz. Daneben gab es natürlich auch Foto-Aktivisten und -Aktivistinnen wie Miklós Klaus Rózsa oder in Teilen auch Olivia Heussler, welche Gegenbilder zum Schweizer Staatswesens schufen. Insgesamt entstanden in der Fotografie sehr wohl andere Bilder der Schweiz, diese waren aber zumeist über das Interesse am Konkreten und Individuellen motiviert. Die Idee, dass man eine Nation fixieren kann, wurde in Frage gestellt, alles geriet in Fluss – erst heute nimmt das Bedürfnis nach einer Verfestigung und nach Eindeutigkeit wieder zu.

RW: In diesem Bedürfnis nach Eindeutigkeit ist ja auch die Postmoderne beschrieben, als eine Zeit, in der vieles möglich und gleichzeitig alles relativ wird – gilt dies auch für die Foto-Ästhetik?

LW: Natürlich gibt es die Relativität von Foto-Ästhetiken. Wichtiger scheinen mir die Muster der Instrumentalisierung von Bildern, und hier gibt es eben auch die knallharte Einflussnahme.

RW: Ist das nicht alles Teil der demokratischen Auseinandersetzung, und somit erwünscht?

LW: Das eigentliche Problem ist heute die Zirkulation der Bilder, die Unklarheit des Status von Profi‑ und Laienbildern, die Tendenz zu einer Bildpropaganda von allen Seiten, auch von unten. Die «Visual Literacy», also die Fähigkeit, Bilder einschätzen und einordnen zu können, ist nicht auf der Höhe dieser Phänomene. Heute gibt es ein Heer schlecht bezahlter Angestellter von Grossunternehmen wie Facebook, die bemüht sind, die Social Media-Kanäle irgendwie zu säubern – was immer das heisst, denn die Kriterien sind vollkommen unklar. Andere Instanzen wie der «World Press Photo Award», der einst ziemlich viel Autorität genoss, haben in den letzten Jahren stark an Bedeutung verloren.

 

3. Was kann ein Aussenblick?

RW: In diesem Kontext, in dem die Verflüssigung der Werte und Identitäten zurück ins Klare und Feste möchte, findet die von dir mitkuratierte Ausstellung «Fremdvertraut» statt. Fünf Fotografinnen und Fotografen hatten den Auftrag, ein Land – die Schweiz – von aussen in den Blick zu nehmen. Was kann da im besten Fall gelingen?

LW: Im besten Fall geht es um Multiperspektivität, das heisst, die Schweiz im Plural zu zeigen. Das betrifft die Vielfalt der Menschen, die schauen, genauso wie die Vielfalt der Gesichter oder der Blick- und Bildregime, die ein Land haben kann. Wenn Simon Roberts das Matterhorn aufnimmt, blickt er als Engländer auf die von Engländern stark mitgeprägte Tourismus-Schweiz der Gegenwart. Im gegenwärtigen Foto-Tourismus geht es weiterhin um Sakralisierung von Orten, aber die Reisen finden auch in den sozialen Medien statt. Es geht um das Markieren mit Geo- und Hashtags, das fotografierende Subjekt als verlängerten Arm des Marketings und damit eventuell verbundene Zielkonflikte. Bei Eva Leitolf, die in ihrem Wohnmobil die Schweizer Aussengrenze befahren und fotografisch exploriert hat, geht es um die Unmöglichkeit, das Aussen und das Innen klar und abschliessend zu markieren.

RW: Welche Gedanken haben die Bilder der fünf Fotografinnen und Fotografen bei dir angestossen?

LW: Es hat sich für mich bestätigt, dass wir uns in einer Zeit befinden, in der sich identitätspolitisch viel Grundlegendes bewegt. Auch die in den Werken angelegten Begrifflichkeiten geraten in Bewegung.

RW: Und wie ist es mit der Schweiz? Hast du sie in diesen Werken neu kennengelernt?

LW: Die Bilder des Amerikaners Shane Lavalette zeigen mir auf, wie viele historische Schichten man in der Schweiz der Gegenwart antreffen kann. Wenn ich mir die Porträts junger Schweizerinnen und Schweizer anschaue, welche die Mexikanerin Alinka Echevarrías gemacht hat, dann habe ich ein positives Gefühl für die Zukunft des Landes. Diese Menschen leben in grosser Selbstverständlichkeit multiple Kulturen und Identitäten. Da gibt es zwar, bei viel Weltläufigkeit und viel regionaler Verankerung, durchaus auch Konsumismus. Ich sehe darin nichtsdestotrotz eine Vielfalt der Blicke und Weltverständnisse, die auch einen Reichtum an Möglichkeiten aufzeigen, welche die Schweiz als Land hat und welche in der politischen Debatte manchmal verschwinden.

Lars Willumeit ist Kurator und Publizist im Bereich Kunst/Fotografie. Die von Schweiz Tourismus gesponserte Ausstellung «Fremdvertraut» der Fotostiftung Schweiz (11. Februar bis 7. Mai 2017) kuratierte er zusammen mit Peter Pfrunder und Tatyana Franck.

Der Balken in meinem Augeist eine geteilte Rubrik von Coucou und Zollfreilager, dem Kulturmigrations-Observatorium des Master Kulturpublizistik der ZHdK. Die darin erscheinenden Interviews beleuchten die Kultur, ihre Praxen und Politiken als Frage der Multiperspektivität. Das Interview mit Lars Willumeit wurde von Ruedi Widmer am 21. Februar 2017 in Winterthur geführt.

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