Widerstand mit Lippenstift

Widerstand mit Lippenstift

Interview mit Larissa Holaschke, Autorin von «Lipstick Tehran»

1. Ziviler Ungehorsam

Silvan Gisler: Larissa, du machst in deiner Arbeit mit dem Titel «Lipstick Tehran» den Lippenstift zum Symbol des Protests. Kann ein Lippenstift zivilen Ungehorsam ausdrücken?

Larissa Holaschke: Ja, je nach Kontext kann er das. Ich ging im Iran auf die Suche nach Zeichen des Widerstandes bei jungen Frauen. Es gab hier, im Vergleich zu anderen Ländern, keinen Arabischen Frühling. Ich fragte mich deshalb, ob und wie hier Protest stattfindet. Und ich fand ihn vor allem in Alltagsgegenständen: aufgetragener Lippenstift, lackierte Nägel unter Handschuhen, farbige Kopftücher, kitschige Unterwäsche – all dies sind Formen des Ausdrucks von Weiblichkeit. In einer männerdominierten, patriarchalischen, unterdrückten Gesellschaft wie dem Iran deute ich das als Zeichen eines stattfindenden Protests, sei er bewusst oder unbewusst.


SG: Bewusst oder unbewusst ist eine entscheidende Frage: Nutzen die Frauen, die du getroffen hast, diese Alltagsgegenstände als aktiven Protest?

LH: Nach wie vor sind im Iran Sittenwächter unterwegs, um dieses Verhalten zu unterdrücken, und wenn man erwischt wird, gibt es Strafen. Eine Frau, die Make-up trägt, nimmt dieses Risiko auf sich. Sie nimmt ein Risiko auf sich, um einen persönlichen Raum zu schaffen für persönliche Freiheiten. Da ist die Frage, ob bewusst oder unbewusst, nur zweitrangig. Es ist ein sehr individueller Protest.


SG: Wenn Menschen im McDonald’s essen gehen oder Zara tragen, kann dies gemeinhin einfach als ein vom Westen adaptiertes Konsumverhalten gedeutet werden. Wo hört der Konsum auf und wo beginnt der zivile Ungehorsam?

LH: Dies habe ich mich bei meinen beiden Aufenthalten und während meiner Arbeit auch gefragt. Fast Food oder Zara sind aus Sicht des Regimes Produkte des Feindes, ihr Konsum somit politisch. «Politisch aktiv ist hier niemand», sagte mir zwar eine der Frauen, die ich getroffen habe. Dies ist aber nicht mit einer apolitischen Haltung gleichzusetzen, sondern der Glaube in die Möglichkeiten politischer Einflussnahme ist einfach nicht mehr vorhanden.Ich würde die Frage darum mittlerweile so beantworten: In einer Gesellschaft, in welcher die Repression ins Innerste, Persönlichste und Alltäglichste eindringt, werden gerade dieser Alltag und seine Objekte politisiert. Ich selbst wurde an einem Tag meiner ersten Reise in den Iran gleich dreimal von Sittenwächtern angehalten, was änderte auch meine Sicht auf die Dinge die ich trug änderte. Gleichzeitig ist der Ungehorsam auch graduell: Wenn eine Frau, die aus einer wohlhabenden, liberalen Familie stammt, sich die Nägel lackiert und raucht, ist das eine andere Message, als wenn dies eine Frau tut, die in höchste religiösen Kreisen aufgewachsen ist.

 

2. Fragen zu Perspektiven

SG: Du hast mir im Vorgespräch erzählt, du hättest unter anderem mittels «Couchsurfing» viele Kontakte geknüpft. Häufig bewegen sich Menschen, die solche Sofas anbieten, in grundsätzlich eher offenen Kreisen ...

LH: .... du sprichst damit wohl die Frage an, ob ich nur Zugang zu einzelnen «Bubbles» hatte. Ich habe enorm viele unterschiedliche Frauen angetroffen. Das «Couchsurfing», das im Iran illegal ist, war eine super Gelegenheit, direkt in die Lebenswelten einzelner Frauen vorzudringen. Ich habe dann begonnen, mit ihnen über viele unterschiedliche Dinge zu sprechen. Nach und nach gelangte ich zu vielen Frauen unterschiedlichster Gesellschaftsschichten. Einigen habe ich auch Einwegkameras mitgegeben, mit denen sie ihren Alltag aufnahmen. Die Bilder habe ich nicht für das Buch verwendet, sie haben mir aber im Reflexionsprozess sehr geholfen.


SG: Was für eine Rolle spielen Räume?

LH: Ein wichtiger Raum ist beispielsweise das Auto. Es spielt als Freiheitssymbol eine enorme Rolle. Weil es keine Clubs oder Bars gibt, trifft man sich eben im Auto und fährt durch die Stadt. In den Autos wird diskutiert und geraucht – viel geraucht. Viele konnten nicht verstehen, dass ich nicht mitqualmen wollte. Auch der Beauty-Salon ist ein bedeutender Ort – er bietet eine wichtige Rückzugsmöglichkeit nur für Frauen.


SG: Dein Buch zeigt noch mehr. Unter anderem ist es gespickt mit Magazin-Titelseiten über den Iran seit 1934. Was willst du damit sagen?

LH: Das Buch hat unterschiedliche Ebenen. So lässt es sich von links nach rechts lesen, also westlich, oder persisch von rechts nach links. Persisch führt das Buch durch die Objekte – von A wie Alkohol bis Z wie Zigarette. Dazwischen hat es noch versteckte Seiten, welche die Reise zu den Frauen dokumentieren. Die Magazinbilder, die du ansprichst, lesen sich von links nach rechts. Sie zeigen die Veränderung der Aussensicht auf den Iran im Laufe der Jahrzehnte. Während der Zeit des Schahs wussten wir viel über den Iran, vor allem aus der Klatschpresse. Mit der Islamischen Revolution änderte der Blickwinkel radikal. So titelte der Spiegel im Jahr 1979 hinsichtlich der damaligen Verhältnisse im Iran: «Zurück ins Mittelalter». Rund um die 90er-Jahre war dann das westliche Interesse an dem Land praktisch komplett weg. Seit der Jahrtausendwende wiederum werden hauptsächlich Krieg, Terror und ein rückständiger Islam dargestellt.


SG: Wie blicken die Iranerinnen auf ihre Vergangenheit?

LH: Unterschiedlich, aber wenig differenziert. Frauen aus liberalen Häusern idealisieren die Zeiten des Schahs. Für sie ist diese Zeit mit Freiheit gleichzusetzen. Man zeigte mir Fotoalben mit dem stolzen und zugleich nostalgischen Hinweis: «Schau mal, das ist meine Mama mit Minirock.» Es gibt aber schon auch einige, welche kritischer zurückblicken. Und das zu Recht: 1936 hatte beispielsweise der Schah von einem Tag auf den anderen den Tschador verboten. Die Polizisten gingen darauf raus und haben den Frauen das schwarze Tuch vom Körper gerissen. Darauf folgte der Rückzug der religiösen Frauen ins Private, viele Mädchen durften von der Familie aus nicht mehr zur Schule. Genauso wie heute wurde der Frau also vorgeschrieben, wie sie sein sollte, einfach von der anderen Seite. Dass dieses Denken salonfähig ist, sehen wir heute gerade auch in Deutschland, Frankreich oder der Schweiz mit der Burkadebatte.


SG: Die Burkadebatte und die grosse Zustimmung für ein Verbot zeigen tatsächlich, dass wir auch im Westen nicht gefeit sind vor patriarchalischem Denken.

LH: Insbesondere die Darstellung der Frau als Opfer des Patriarchats und zugleich als unreflektiertes Wesen, welches seine Werte nicht hinterfragt, sagt mehr über uns als über die gesellschaftliche Realität. Natürlich unterdrücken die staatlichen Strukturen die Frau. Doch das bedeutet noch lange nicht, dass diese sich auch einfach unterdrücken lässt. Dem Westen gefällt die Darstellung der islamischen Frauen als Opfer des islamischen Patriarchats, während die eigene Politik nicht hinterfragt wird.


3. Die Weiblichkeit

SG: Und wie ging es dir? Hat dich die Begegnung mit iranischen Frauen dazu gebracht, die eigene Haltung zu hinterfragen?  

LH: Ich hatte Einblick in eine Form des zivilen Ungehorsams, in welcher mit der Weiblichkeit gespielt wird. Dieses Verhältnis zum eigenen Geschlecht hat wiederum meine Perspektive auf die Diskussion und meine Wahrnehmung im Alltag beeinflusst. Ich wurde aufmerksamer auf das Politische in unserem Alltagshandeln. Ich fragte mich selten, wieso wir uns schminken, wieso wir gewisse Kleider tragen. Wir sind zum einen hypersensibel, was Gender-Themen im Makrokosmos angeht, wissen aber gleichzeitig nicht, wie wir zum Thema Haarentfernung stehen sollen.


SG: Die Emanzipation mittels Kleider oder auch Freizügigkeit ist in der westlichen Geschichte ein bekanntes Muster. Das Streben nach einem westlichen Schönheitsideal im Iran als Zeichen des Protests zu sehen, während es hierzulande gerade aus Genderperspektive kritisch erscheint, ist doch eine hoch ambivalente Angelegenheit.

LH: Sicher muss man auch im Iran vieles kritisch sehen. Die im Iran sehr beliebte amerikanische Stupsnase ist so ein Fall. Doch die Handlungen und Objekte sind im Kontext zu betrachten. Einen Lippenstift zu tragen, bedeutet im Iran eben nicht dasselbe wie in der Schweiz. Zudem gibt es bereits weitergehende «Bewegungen» auch im Iran. Beispielsweise Frauen, die sich kurze Haare schneiden und sich als junge Männer ausgeben. Oder eine Freundin hat mir dort gesagt: «Heute gehe ich einmal ohne Make-up aus dem Haus», auch das war für sie ein Statement.


SG: Führst du deine Arbeit auch in der Schweiz weiter? Gibt es ein entsprechendes Projekt?

LH: Ich plane, in Zürich einen «Beauty-Salon» zu errichten. Er soll den Raum dazu bieten, mit alltäglichen Fragen auf Gender-Themen zu blicken. Der Beauty-Salon ist im Iran ein gesellschaftlicher Ort des Austausches. Diese Herangehensweise möchte ich nach Zürich bringen.

Larissa Holaschke studierte Publizistik- und Politikwissenschaften an der Uni Zürich. Soeben hat sie an der Zrcher Hochschule der Künste(ZHdK) ihren Master of Arts in Design mit der Arbeit «Lipstick Tehran» abgeschlossen. Auf zwei längeren Reisen in die iranische Hauptstadt ging sie subversiven Zeichen des Protests von Frauen nach und fand diese insbesondere in Alltagsgegenständen. Die Resultate sind im gleichnamigen Buch festgehalten. 


Der Balken in meinem Auge ist eine geteilte Rubrik von Coucou und Zollfreilager, dem Kulturmigrations-Observatorium der ZHdK. Die darin erscheinenden Interviews beleuchten die Kultur, ihre Praxen und Politiken als Frage der Multiperspektivität. Das Interview mit Larissa Holaschke wurde am 5. Oktober geführt.

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