1. Nicht reden
Eva Vögtli: 1967 bist du als Kind von
italienischen «Saisonniers» nach damaligem
Gesetz illegal in der Schweiz geboren, wo du als
«Italienerkind» verschiedene Formen von
Diskriminierung erlebt hast. In einem offenen
Brief, den du am 21. September 2018 an
Bundesrätin Simonetta Sommaruga
geschrieben hast, forderst du eine offizielle
Entschuldigung, die historische Aufarbeitung
und die finanzielle Entschädigung für das, was
den italienischen «Saisonniers» widerfuhr: Die
Verletzung ihres Menschenrechts auf Einheit
der Familie, die dazu führte, dass viele Kinder
ungewollt von ihren Eltern getrennt
aufwuchsen, versteckt oder teils an der
Teilnahme am Schulunterricht gehindert
wurden. Des Weiteren forderst du, dass diese
Form der schwerwiegenden
Menschenrechtsverletzung endlich beendet
wird. Du hast in deinem Brief geschrieben, dass
selbst dein eigenes Umfeld mit Unbehagen auf
die Geschichte der illegalisierten
«Italienerkinder» reagiert. Weshalb ist es so
schwierig, diesen Teil der Schweizer Geschichte
als solchen zu akzeptieren, zu reflektieren und
aufzuarbeiten?
Paola De Martin: Im Englischen gibt es diese schöne Metapher: «There’s an elephant in the room». Ich glaube, man kann sich daran gewöhnen, etwas Gigantisches einfach zu ignorieren. Und sobald jemand das Thema anspricht, ist es einem zunächst mal peinlich, weil man merkt, dass man selbst ignorant war gegenüber den Diskriminierungen an Italiener*innen. Ich sehe aber keine andere Möglichkeit, als sich durch diese unangenehmen Gedanken durchzuarbeiten, sich dem Elefanten zu stellen und zu beginnen, ihn zu beschreiben.
EV: Das heisst, Freunde und Bekannte aus
deiner Generation empfinden ein Schuldgefühl,
damals nicht gehandelt und nichts
angesprochen zu haben, währenddessen sich in
den nachfolgenden Generationen ein Unwissen
über die Geschichte ausbreitet?
PDM: Irgendwann häufen sich Schuld und Unwissen und es kommt zu einem reflexartigen Ausblenden, was wiederum zu einer intellektuellen Blockade führt. Man betreibt keine Archivforschung mehr, schreibt nicht darüber und verbreitet das Wissen nicht weiter. Der Elefant aber bleibt und nimmt viel Raum ein. Das Wissen wird durch die Verdrängung körperlich, was beispielsweise bei mir dazu führt, dass, sobald ich rechtspopulistische Stimmen im Radio höre, rasendes Herzklopfen verspüre. Das Wissen über das erlittene Unrecht ist im Körper archiviert, aber es fehlen die Worte, um es zu beschreiben. Ausserdem führen solche körperlichen Reflexe zu struktureller Gewalt – zum Beispiel dazu, dass ein «Ausländerkind», das schweigt oder stottert, unterschätzt wird. Man schiebt das dann fälschicherweise auf seine Herkunft. Ein «Ausländerkind», das mit Wut auf eine solche Diskriminierung reagiert, wird dann schnell als gewalttätig abgestempelt. Deshalb muss man das körperliche Wissen in sinnvolle Sprache zurückverwandeln.
EV: Deine eigenen Erfahrungen waren
ausschlaggebend für dein Mitwirken beim
Institut Neue Schweiz (INES), ein «Think & Act
Tank», der Menschen und Politik auffordert,
den Maximen der Humanität und Solidarität
auch in der Schweizer Ausländerpolitik zu
folgen. INES fordert eine Politik und Kultur, die
davon ausgehen, dass Ausländer*innen
Menschen gleichen Rechts und gleicher sozialer
Ansprüche wie Schweizer*innen sind. Wie kann
man sich INES vorstellen?
PDM: In den letzten zwei Jahren befand sich das Netzwerk in der Aufbauphase. Wir suchten nach Verknüpfungen und nach dem, was uns, trotz allen Unterschieden, mit anderen diskriminierten Menschen verbindet. Das Netz ist sehr divers. Ich tauschte mich mit anderen Secondas aus und merkte bald, dass sich gewisse Erfahrungen, die ich gemacht hatte, wiederholen. Es ist wichtig, zu überlegen, wie man gemeinsam die diskriminierenden Situationen reflektiert, in denen man sich oft alleine fühlt. Miteinander versuchen wir den Strukturen auf den Grund zu gehen, die sich zwar oberflächlich wandeln, in der Tiefe aber verbunden sind. Diskriminierung vollzieht sich reflexartig in so vielen alltäglichen Entscheidungen, so dass wir sie meistens gar nicht wahrnehmen. Ich selbst bin dagegen nicht immun.
2.Vergleichen ohne Gleichzeichen
EV: Du sagtest sinngemäss, dass zunächst jedes
diskriminierte Individuum isoliert ist. Kann man
sich aus der Isolierung befreien? Sind
Diskriminationserfahrungen überhaupt
vergleichbar?
PDM: Die Erfahrungen der «Italienerkinder» sind mit den Diskriminierungen anderer Einwander*innen vergleichbar. Das heisst nicht, dass sie gleich sind. Die spannende Arbeit besteht darin, herauszufinden, wo es Ähnlichkeiten und wo es Unterschiede gibt.
EV: Dies erinnert mich an einen Gedanken von
Judith Butler zu dem Slogan «Black lives
matter!», auf den einige weisse
Amerikaner*innen mit der Aussage «All lives
matter!» geantwortet haben. Judith Butler
kritisierte diese Reaktion und schrieb dazu,
dass natürlich alle Leben gleichwertig sind, dass
in der gelebten Realität aber nach wie vor
Diskriminierung herrscht und deshalb zwischen
«black lives» und «white lives» nicht einfach ein
Gleichzeichen gesetzt werden kann.
PDM: In der Vorbereitung auf dieses Gespräch habe ich ein Zitat herausgesucht, welches genau davon handelt. Ruth Klüger, eine Holocaust-Überlebende, schreibt in ihrer Autobiografie «Weiter leben» über eine amerikanische Frau, welche ihr Schicksal mit demjenigen der Autorin verglichen hatte: «Die scheute sich nicht, zu vergleichen, nur wurden aus ihren Vergleichen Gleichungen, und als schlechte Rechnerin, die sie war, stimmten die Lösungen nicht.» Danach fährt die Autorin fort: «Wenn man andererseits gar nicht vergleicht, kommt man auf gar keine Gedanken und es bleibt beim Leerlauf der hohlen Phrasen, wie in den meisten Gedenkreden.» Es geht also um ein Vergleichen von Erfahrungen, die man allerdings nicht gleichsetzen kann. Wie erlebe ich dieses Land, wenn ich schwarz bin oder wenn ich ein italienisches Arbeiter*innenkind bin? Wie erlebe ich es als weisse Schweizerin mit Bürgerrecht? Solche Fragen müssen gestellt und beantwortet werden.
EV: Wie kann das gelingen?
PDM: Durch Achtung vor dem Unbekannten.
Wenn ich mit syrischen Freund*innen spreche,
merke ich, dass sie Erfahrungen in einer
weitaus unheimlicheren Dimension gemacht
haben, die ich nicht kenne. Ich kann ahnen, was
sie erlebt haben aufgrund dessen, was meine
Eltern mir vom Zweiten Weltkrieg erzählt haben
und aufgrund meiner Illegalisierung und des
existentiellen Stresses, den meine Eltern
hatten. Aber es wäre doch vermessen zu sagen,
ich wüsste, was ein*e Geflüchtete*r aus Syrien
erfahren hat. Man kann stattdessen vorsichtig
nachfragen, was das Leiden heute für die
betroffene Person bedeutet. Oder Metaphern
suchen. Jemanden anregen, Bilder und eine
Sprache zu finden, das Unaussprechliche zu
formen. Mitfühlen. Zuhören. Geduld haben.
Anstatt die Sache abzuhaken. «All lives matter»
– das ist für mich ein Abhaken und
Nichtanerkennen einer anderen Dimension.
3.Perspektiven
EV: Hast du jemals eine Antwort auf deinen
Brief an Simonetta Sommaruga erhalten?
PDM: Ja! Es dauerte nicht lange, da bekam ich einen ganzseitigen Brief. Ihre Antwort war nicht öffentlich, sondern an mich persönlich gerichtet. Obwohl sie empathisch ist, werde ich darin doch als Einzelperson behandelt. Ich fand schön, dass sie schrieb, es müsse auch für meine Eltern schrecklich gewesen sein. Sie sei aber als Bundesrätin in der Exekutive und ich müsse meine Forderungen nicht an sie, sondern an das Parlament stellen. Ihre Reaktion ist ambivalent: Sie findet es gut, dass es mittlerweile mehrere solche Stimmen gibt. Der Subtext lautet aber: Das ist «euer» Thema, nicht «unseres». Es wird vermutlich Jahrzehnte dauern, bis meine Forderungen erfüllt werden. Ich hoffe, dass ich mit dem Mut, den ich aufgebracht habe, auch anderen Menschen Mut mache, sich zu äussern.
EV: Als deine Eltern in die Schweiz migrierten,
waren Italiener*innen stark in der
Sündenbockrolle gefangen. Heute gelten sie als
Paradebeispiel für gelungene Integration.
Wurden sie zwischenzeitlich abgelöst?
PDM: Ein Sündenbock löst den nächsten ab. Das ist eine Art Vampirismus, in dem immer neue Gruppen und Milieus verbraucht werden. Unterschwellig wird auf einer individuellen Ebene vermittelt, dass man es durch Anstrengung nach oben schaffen kann. Die, die es schaffen, sind die «Paradeausländer*innen». Doch es wird heute selten thematisiert, wie viele dieser Vorzeigeitaliener*innen es nicht geschafft haben, psychisch krank sind oder mit Sucht und Kriminalität zu kämpfen haben. Ich habe im eigenen Umfeld erlebt, wie manche zusammenbrachen. Dauerhafte Diskriminierungen und Menschenrechtsverletzungen bohren sich tief ins eigene Selbstverständnis und -wertgefühl. Die Verweigerung grundlegender Bürgerrechte bringt die gesamte Lebensplanung durcheinander. Ich denke dabei an meine Eltern: Wenn man ihnen während ihres 30-jährigen Aufenthaltes in der Schweiz das Bürgerrecht zugestanden hätte, dann wären sie im Alter wohl kaum zurück nach Italien gezogen. Die ganze Perspektive, ihre Orientierung auf die Rückkehr, führte auch zu einem Graben zwischen ihnen, mir und meiner Schwester, also der nächsten Generation, die diese Orientierung nicht hat. Was von aussen nach etwas Kleinem aussieht, richtet ganze Existenzen anders aus.
Paola De Martin (1965) ist Primarlehrerin, Textildesignerin und Historikerin. Sie arbeitete als wissenschaftliche Assistentin von Philip Ursprung am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur der ETH Zürich, wo sie ihre Dissertation schreibt. Darin untersucht sie die Ästhetik der sozialen Ungleichheit anhand der Lebensgeschichten von Arbeiter*innenkindern in Zürich. Paola De Martin ist Mitglied beim Institut Neue Schweiz und Dozentin für Designgeschichte und Interkulturalität an der Zürcher Hochschule der Künste.
Der Balken in meinem Auge ist eine geteilte Rubrik von Coucou und Zollfreilager, dem Kulturmigrations-Observatorium der ZHdK. Die darin erscheinenden Interviews beleuchten die Kultur, ihre Praxen und Politiken als Frage der Multiperspektivität. Das Interview mit Paola De Martin wurde von Eva Vögtli telefonisch am 25. Juli geführt.