Unter den schwarzen Wolken, die Winterthur an diesem regnerischen Abend frühzeitig verdunkeln, wirken die Archhöfe noch grösser und bedrohlicher als sonst. Und noch immer etwas deplatziert, obschon das Einkaufszentrum seit sechs Jahren das Stadtbild prägt. Der Koloss polarisiert:Von einigen Winterthurer*innen wird er missachtet, gar boykottiert, während andere gerne durch die rund 20 Geschäfte schlendern, die sich dort einquartiert haben. Nebst Shopping, Restaurants, Fitness und Büros bieten die Archhöfe 68 Wohnungen mitten in der Stadt. Im sechsten Stock lebt Martin.
Die erste Herausforderung findet sich bereits am Haupteingang. Da muss man auf einem kleinen Display die richtige Person anwählen und drückt dann mit angehaltenem Atem auf die kleine Klingel, die einem Alarmknopf erschreckend ähnlich sieht. «Gratuliere, du hast die Klingel richtig benutzt!», sagt Martin lächelnd, als sich die schwere Lifttür öffnet.
Die moderne Wohnung ist minimalistisch eingerichtet, das Wohnzimmer ist geräumig, die grosse, offene Küche fein säuberlich aufgeräumt. Dabei fällt etwas besonders auf: «Die Decke ist an ihrem höchsten Punkt etwa vier Meter hoch, der tiefste ist sogar für meine Freundin zu niedrig», sagt Martin während einer kurzen Führung durch die Räume. Von seinem Arbeitszimmer sieht er durch die grossen Fenster in den grossen Innenhof – und direkt in die Wohnzimmer seiner Nachbar*innen. «Da läuft immer bisschen was, langweilig wird es nie», sagt der Software Engineer und lacht. «Der da drüben hat richtig viele Kleider, siehst du?», fragt er und zeigt auf den riesigen begehbaren Kleiderschrank der Wohnung gegenüber.
Martin hat schon an den verschiedensten Orten in Winterthur gelebt, mal in einer WG, mal mit Freundin, mal ohne. Diese Wohnung würde er so schnell nicht mehr hergeben. Dafür sei die Lage viel zu gut. Doch es gibt einen Haken: «Das Einkaufszentrum wird von der neuen Verwaltung deutlich bevorzugt. Auf die Bewohner*innen wird kaum mehr Rücksicht genommen.» So soll jeweils morgens von sieben bis neun Uhr, kurz vor Ladenöffnung, ein «Höllenlärm» aus dem Untergrund des Einkaufszentrums hörbar sein. «Frag mich nicht, was die da machen, aber das läuft schon seit Dezember so», sagt er. Die lärmigen Umbauarbeiten im Untergeschoss des Einkaufszentrums wurden den Mieter*innen kaum kommuniziert. «Wir wissen nicht, was sie machen oder wie lange das noch dauern wird. Das schweisst uns als Nachbar*innen zusammen und überbrückt die sonst übliche Anonymität.»
Den Stadtlärm hingegen bekomme er kaum mit. Nur wenn die Polizei wegen irgendeiner Grossveranstaltung gleich vor der Tür steht, erschrecke man ein bisschen. «Irgendwie gefällt mir das. Du bist mittendrin und kannst dich trotzdem zurückziehen», sagt der 37-Jährige. Selbst vom Einkaufszentrum kriege er – abgesehen von den Bauarbeiten – kaum etwas mit.
Wo die Archhöfe jetzt stehen, befand sich früher ein grosses Parkhaus. Das Einkaufszentrum schlug medial immer wieder hohe Wellen. «Archhöfe müssen über die Bücher» hiess es noch im September 2018 im Landbote, als über die hohen Leerstände berichtet wurde. Zum damaligen Zeitpunkt waren rund 20 Prozent der Ladenflächen unbenutzt. Dies hat sich im Frühling dieses Jahres – nach einer offensiven Marketing-Kampagne des Managements –, mit dem Zuzug zweier neuer Mieter*innen verändert.
Dass die Archhöfe von Konsum und Gentrifizierungs- gegner*innen häufig kritisiert werden, stört Martin nicht: «Ich mache mein Wohnen nicht zu einem politischen Statement», sagt er. «Ich weiss, dass das Gebäude polarisiert, aber das passt zu mir. Doch schlussendlich sollte man einfach leben und leben lassen.»